Politik
Das politische System Chinas lässt sich weder passend als eine Demokratie noch als ein diktatorisches Einparteiensystem nach stalinistischem Muster klassifizieren.
„Fragmentierter Autoritarismus“ ist ein verbreiteter Sprachgebrauch in der Chinaforschung, der keine monolithische Einheit beschreibt, sondern ein Hybrid aus Organisationen, formellen und informellen Prozessen, unterschiedlichen Interessen, spezifischen Traditionen und einer vielschichtigen Verbindung zwischen Wirtschaft und den anderen Teilsystemen. [1] Es lässt Freiräume und Öffnungen zu und gleicht sich über Kommunikationsprozesse und Netzwerksolidaritäten aus. Das mag auch immer mit Ausgrenzungen, Exklusionen oder auch Konflikten einhergehen, aber es ist keine politische Überordnung wie in der stalinistischen Sowjetunion. Die besondere Eigenart des politischen Systems lässt sich als innovativer Traditionalismus bezeichnen. Darin besteht seine Bedeutung für die Modernisierung. Ohne den Traditionsrahmen zu verlassen und durch stetige Rückbindung an die Vergangenheit stellt das politische Systeme Innovationen bereit, indem es Ideen, Lösungsansätze variiert und auf Experimentierfeldern Lösungsansätze ausprobiert, wie zum Beispiel durch die Öffnung der Sonderwirtschaftszonen. Dabei wird auf die Stärkung der kollektiven Identität und ihrer symbolischen Darstellung, auf Ordnungskonzepte und Traditionen der vergangenen Gesellschaftsgeschichte zurückgegriffen. Das gilt insofern, da die Gesellschaftsgeschichte nicht konserviert werden kann, sondern aus der Gegenwart nur eine Beschreibung einer gegenwärtigen Vergangenheit erfolgt. Für die chinesische Gesellschaft ist es bezeichnend, dass Zusammenhänge in eine Kontinuitätslinie konstruiert werden, die eine Kausalität erkennen lassen, die daraus nicht hervorgehen und einem Kommunikationserfordernis folgt, da sie zur Stabilisierung der kollektiven Identität und Ordnungsmuster genutzt wird. Das Scheitern der Reform kann verknappt aus der Perspektive der Bauern so dargestellt werden: Die Bauern wollten keinen Bauern aus ihrer Mitte wählen, da sie erstens der Auffassung waren, dass diese nicht führen können und zweitens nicht die Wählerinteressen verfolgen bzw. sich nicht an ihre Wahlversprechen halten. [2]
Für die chinesische Modernisierung seit den 1990er Jahren war die Aufgabe der direkten Einflussnahme und der Übersteuerung des politischen gegenüber anderen Teilsystemen der Gesellschaft tragend. Hervorzuheben ist dabei das Ergebnis, das genau den gegenteiligen Effekt bewirkt. Durch den Anstieg der Autonomie – Selbstaufbau und Selbstregulation des Wirtschaftssystems durch Marktorientierung und Marktmechanismen – hatte das politische System Chinas neue Einflussmöglichkeiten. Der Abbau von Steuerung führt somit zu mehr Macht, könnte man mit einfachen Worten sagen. Als Prinzip für die chinesische Modernisierung galt lokal vor zentral, wobei die politische Ordnung zentral stabilisiert wurde. Die wirtschaftliche Öffnung stellt die chinesische Gesellschaft vor positive und negative Herausforderungen. Der Erfolg und die wachsende Teilnahme an diesem Erfolg, die einen drastisch steigenden Lebensstandard erlaubte, führten auch zu einer Schließung durch die Abgrenzungen von Gruppen. Die kollektive Identität erhält mit dem wirtschaftlichen Erfolg das Credo des Gewinnens. Symbolisch besteht die Selbstbeschreibung der kollektiven Identität darin, dass es China gelungen ist, aus eigener Kraft nach den 150 schwarzen Jahren wieder eine einflussreiche Position in der internationalen politischen Szene und in der internationalen Wirtschaft einzunehmen. [3]
- [1] Zum Überblick über das politische System mit seinen formalen Organisationen, politischen Institutionen, Entscheidungsverläufen, den formellen und informellen Prozessen und auch der Beziehung zwischen politischem System und Wirtschaftssystem dient als Einführung Heilmann, Sebastian. Das politische System der Volksrepublik China, Wiesbaden, 20042
- [2] Li, Lianjiang und Kevin O'Brien. „The Struggle over Village Elections,“ in Merle Goldman und Roderick Macfarquhar (Hrsg.). The Paradox of China's Post-Mao Reforms. Cambridge, Harvard UP, 1999, 129–44.
- [3] Zur adaptiven Zielgestaltung, ihren Hintergründen und die Vernetzung siehe Heilmann, Sebastian. „Policy-Making through Experimentation: The Formation of a Distinctive Policy Process,“ in Sebastian Heilmann, Elizabeth Perry (Hrsg.). Mao's invisible Hand. The political Foundation of adaptive Governance in China. Cambridge: Harvard UP, 2011, 62–101.