Ordnungsvorstellung und kollektive Ziele
Die chinesische Gesellschaft zeichnet sich durch einen anderen Modus der sozialen Integration aus. Es gibt keine institutionalisierte moderne gesellschaftliche Gemeinschaft, die eine Citizenship als eine politische, ökonomische, soziale und soziokulturelle Inklusion beinhaltet. [1]Insofernist die Frage nach einem demokratischen Konstitutionalismus anders zu stellen, da „Demokratisierungstendenzen kaum zu erkennen (sind, der Verfasser), allerdings hat sich aufgrund des vielschichtigen und auf mehreren Ebenen verlaufenen Aus- und Verhandlungssystems in staatlicher Verwaltung und Partei eine Art informeller Gewaltenteilung etabliert.“ [2] Das betrifft die Ordnungsvorstellung und ihre Gestaltung, insbesondere den Einfluss von sozialen Netzwerken.
In der sozialen Dimension des politischen Systems ist zu beobachten, dass das politische Zentrum innerchinesisch nicht infrage gestellt wird und als ein Erfolgsmodell gilt. Aus westlicher Perspektive ist diese Tatsache oft nicht ganz leicht einzuordnen. Vor allem Konvergenztheoretiker haben Schwierigkeiten, diese Beobachtung in ihren Erklärungsrahmen einzuflechten, da sie dem Ordnungsmodell des demokratischen Konstitutionalismus für das politische System einen Vorrang gegenüber anderen Modellen einräumen. In der chinesischen Gesellschaft liegt eine andere Sozialkonstruktion vor, die Wertmaßstäbe, Kommunikationen und Orientierung anders verortet als die westlichen Gesellschaftsvorstellungen. Aus diesem Grund ist es nicht zwingend, dass ein nach westlichem Muster orientiertes politisches System für den Erfolg und Misserfolg des politischen Systems erforderlich ist. Die politische Ideengeschichte zur Staats- und Gesellschaftsordnung ist für die chinesische Gesellschaft und das politische Zentrum nur von sehr begrenzter Relevanz. Sie gilt weder als Orientierung noch als erstrebenswert und ist für die chinesische Gesellschaft aus ihrer Innensicht nicht umsetzbar. Aus diesem Grund greifen die politischen Eliten auf ihre eigene Ideengeschichte zurück und formulieren ihre zeitentsprechende Version. Dieser Vorgang schließt nicht aus, dass in der außenpolitischen Kommunikation diese Differenz nicht kommuniziert wird und gemeinsame Ziele aus kommunikationsstrategischer Sicht formuliert werden.
Durch die veränderten Teilnahmebedingungen am politischen Entscheidungsprozess entstand in der chinesischen Gesellschaft keine Bewegung, die sich gegen das politische Zentrum richtete, also so angelegt war, dass sie einen Umbau des politischen Systems zum Ziel hat. Jegliche Formen, die zu einem größeren regionalen oder inhaltlichen Zusammenschluss führten, wurden durch die Organe des politischen Systems unterbunden. Dazu zählt auch die Falun-Gong-Bewegung, die über eine Anhängerschaft unter den Parteikadern verfügte. Dennoch lassen sich seit den 1990er Jahren zunehmend Protestbewegungen beobachten, die auf lokale Missstände, die Rechtsprechung, die Polizeibehörden oder auch die Umweltverschmutzung zurückgehen. Sie waren dann erfolgreich in der Durchsetzung ihrer Ziele, wenn die Befürchtung bestand, dass der größere Zusammenhalt lokaler Gruppen die politische Ordnung, die Vorherrschaft der Kommunistischen Partei und ihrer Organisationen gefährdet. [3]
Das politische Zentrum übernimmt eine bestimmte Form der Konfliktsteuerung, indem es auf die Teilsysteme einwirkt und die kollektive Identität durch kultur-politische Programme stabilisiert, z. B. durch die politische Rhetorik des „Chinesischen Traums“, die Xi Jingping 2013 anlässlich seines Amtsantritts verkündete. Die weitgehenden Veränderungen durch den gesellschaftlichen Wandel in der chinesischen Gesellschaft verlaufen nicht ohne Spannungen, Konflikte und auch Verwerfungen. Die kollektive Identität dient der Konfliktabsorption. Sie legt die Solidaritätsgrenzen fest, indem sie bestimmt, wer Freund und wer Feind ist. Das politische Zentrum unternimmt eine Vielzahl von Maßnahmen, um diese kollektive Identität zu stabilisieren. Dazu gehören u. a. die Fortschreibung der Kontinuitätsthese, dass China als eine tausende Jahre alte, andauernde Zivilisation etwas Außergewöhnliches ist oder auch die Schaffung einfacher kollektiver Symbole, wie durch die Olympischen Spiele 2008 und die Aufrechterhaltung des Mao-Kults, die Darstellung der Olympiahelden, die Abgrenzungen gegenüber westlichen Gesellschaften, zum Beispiel in der Israel-Frage, die Einordnungen des Balkan-Konflikts und des Irak-Krieges. [4]
- [1] Bernstein, Thomas und Xiaobo Lü. „Taxation without Representation: Peasants, the Central and the Local States in Reform China,“ The China Quarterly, 163, September 2000, 742–63.
- [2] Alpermann, Björn. „China. Ein Einparteienstaat zwischen Leninismus und Dezentralisierung,“ in Hans-Joachim Lauth (Hrsg.). Vergleich politischer Systeme. München: Oldenbourg, 2014, 89–125.
- [3] Illustrative Darstellung, wie über die neuen Kommunikationsmedien politische Zielsetzungen verändert werden, liefert Heberer, Thomas. „Die Modernisierung Chinas: Analyse eines komplexen Prozesses,“ in Thomas Heberer und Jörg-M. Rudolf. China–Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Zwei alternative Sichten. Wiesbaden: HLpB 2010, 49ff.
- [4] Besondere Spannungen, die genutzt wurden, waren die Bombardierung der Chinesischen Botschaft in Belgrad durch NATO-Kampfjets während des Balkan-Konflikts, dazu Gries, Peter Hays. „Tears of Rage: Chinese Nationalist Reaction to the Belgrade Embassy Bombing,“ The China Journal 46, July, 2001, 25–43.