Wissen
Blickt man auf die unter der Kontinuitätsthese hervorgehobenen lange Zivilisationsgeschichte der chinesischen Gesellschaft zurück, so werden oft technische Erfindungen und Innovationen hervorgehoben, die zur selben Zeit westlichen Gesellschaften nicht vorlagen. [1]Daraus ergibt sich immer wieder die Fragestellung, warum die chinesische Gesellschaft nicht aus immanenten Strukturen ein modernes Wissenschaftssystem vor dem 19. Jahrhundert hervorgebracht hat. Richard Münch begründet das, im Anschluss an Max Weber, folgendermaßen: „Die Ursache der fehlenden Vereinigung der erforderlichen Komponente einer rationalen Wissenschaft lag in erster Linie an der Art der Prämierung des Denkens innerhalb der Literatenschicht, die literarische Bildung und praktischen Utilitarismus bevorzugte, während das völlige Fehlen des Dialogs keinerlei Zwang zur rationalen Begriffsbildung und zum logisch konkreten Argumentieren aufkommen ließ.“ [2] Der Kern, der dem chinesischen Wissenschaftssystem fehlte, waren die rationale Begriffs- und Theoriekonstruktion, die durch ein Beweisverfahren abgestützt und resystematisiert wurden. Bei allen zivilisatorischen Errungenschaften liegt in der chinesischen Gesellschaft keine „Vereinigung von Theorie und Technologie, Logik und Empirie“[3] vor. [4]
Selektiver Zugang
Die Öffnung des Wissenschaftssystems in der Modernisierung Chinas erfolgte in erster Linie durch den Aufbau von Hochschulen und neuen Bildungseinrichtungen, die als Inklusionsöffnung zu einem raschen Anstieg der Teilnehmerzahl führte. [5] Besonders nach der verheerenden Zerschlagung des Wissenschaftssystems durch die Kulturrevolution, in der die Universitäten und Forschungsstätten für ein Jahrzehnt fast total zum Erliegen kamen, fand schon in den 1980er Jahren ein breiter Aufbau der Wissenschaftssystems statt. [6] Bemerkenswert für die 1980er Jahre ist der Aufbau von Forschungsinstitutionen, die auch als Ratgeber für wirtschaftliche Modernisierung durch das politische System fungierten. [7]In diesem Punkt sind insbesondere die volkswirtschaftlichen Forschungsbereiche und auch die neu entstandenen Fachzeitschriften einzubeziehen, die mit ihren Analysen bei der wirtschaftlichen Öffnung, dem Aufbau eines Marktes und der Schaffung einer Marktorientierung in China eine Rolle spielten. Durch die wirtschaftliche Öffnung, die Veränderung neuer Produktionsverfahren, den Einzug von neuen Technologien entstanden der Bedarf nach neuen Fachkräften und der Entwicklung einer eigenen Forschung. In diesem Kontext sind der Ausbau der Forschungsbereiche und die Inklusionsöffnung zu sehen. An dem exponentiellen Anstieg der Abschlussrate in akademischen und technischen Berufen ist die Öffnung nachzuvollziehen.
Die Modernisierung führte zu einer Öffnung und dem Ausbau der Universitäten und Hochschulen, um die Teilsysteme mit den nötigen Ressourcen zu versorgen. Die Bildung dehnte sich infolge der Öffnung derart aus, dass neue Ausbildungen und Inhalte hinzukamen, um im Wettbewerb im globalisierten Weltsystem zu bestehen. Es bedurfte mit der Öffnung auch weiterer Differenzierungsformen des Bildungssystems. [8] Dabei wurde der Zugang zum Wissenschaftssystem durch eine Prestigeordnung selektiert, da der Zugang zu bestimmten Schulen und Hochschulen über eine Prestigeordnung der vorhergehenden Institution erfolgt. [9] Der Prestigeanspruch der einzelnen Institutionen wird dabei auf den Absolventen übertragen. Die Prestigeordnung verfährt dabei konservativ und orientiert sich an den bestehenden Ordnungen und Zusammensetzungen. Die Beständigkeit der Ideen ist an die Prestigeordnung gekoppelt. Es herrscht ein Vorrang der Beständigkeit von Wissen, der dem Lehrer seinen Wissensvorsprung ermöglicht. Der Lehrer ist in seiner Form als Prestigefigur bei den Rollenveränderungen durch die Modernisierung erhalten geblieben. Die Rolle des Wissenschaftlers im chinesischen Wissenschaftssystem unterliegt einer anderen Statusordnung als im Westen. Der Status bemisst sich an der Institution, in der er arbeitet, und sie stellt darüber die Karriereanschlüsse her. Daher fand das Ranking von Hochschulen auch immer vor dem Hintergrund der Prestigeordnungen statt. Durch diese Form der Statusverteilung liegt im chinesischen Wissenschaftssystem eine Immunisierung gegenüber Kritik vor.
Ein nicht unerheblicher Teil für die Öffnung des Wissenschaftssystems war die Grenzverschiebung, in China zu investieren und einen Technologietransfer zu betreiben. Dabei wurden ausländische Unternehmen mit den geringen Produktionskosten und der Aussicht auf einen prosperierenden Markt eingeworben. Die Unternehmen verbesserten dadurch ihre Wettbewerbssituation und China bekam Zugang zu neuen Technologien. In diesem Zusammenhang wurde oft auch der unerlaubte Abzug von wissenschaftlichem und technologischem Wissen eingefordert. China nutzte die neuen Technologien auch für den Aufbau seiner eigenen Unternehmen, ohne durch die hohen Lizenz- und Nutzungsgebühren seinen Einsatzspielraum drastisch zu verkleinern.
Die Inklusionsöffnung erfolgte über eine formale Regulierung (Schließung) durch die Aufnahme an den Hochschulen, Universitäten und den Schulen, die durch Aufnahmeprüfungen und Prestigeordnung gestaltet wurde. [10] Die Prestigeordnung ist eine weitverbreitete Selektion für den Zugang zu den Hochschulen, wobei sie nicht an die fachliche Wertschätzung im Wissenschaftssystem gekoppelt ist. Zwar begann auch eine Öffnung des chinesischen Wissenschaftssystems zum globalen Wissenschaftssystem, diese gestaltete sich aber im Vergleich zum Wirtschaftssystem weniger offen, das ist zum Beispiel an den Kommunikationseinschränkungen durch die IT-Kommunikation zu erkennen. Es war vor allem die Absicht, einen Zugang und Anschluss an die neuen Technologien und wissenschaftlichen Ergebnisse zu finden und sie für das Wirtschaftssystem zu nutzen. Das stellte insbesondere eine Abkehr von der isolationistischen Haltung und Schließung zu Zeiten der Qing-Periode dar. Doch ebenso, wie während der Qing-Periode befürchtet wurde, dass durch technologische Neuerungen und Ideen aus dem Westen die bestehende Gesellschafts- und Herrschaftsordnung bedroht wurde, blieb der freie Zugang zum globalen Wissenschaftssystem reglementiert. Zwar wurde in den Bibliotheken und Fachbereichen ein Zugang zum Internet und damit zu einer der mittlerweile bedeutendsten Austauschquellen für wissenschaftlichen Austausch freigegeben, jedoch blieb er weiter unter der Überwachung staatlicher Sicherheitsorgane. Ein viel größeres Problem für den internationalen Austausch sollten jedoch infrastrukturelle Gesichtspunkte bleiben. Hier sind die schwachen Datenverbindungsraten der Internetverbindungen, die zu einer Begrenzung des Austausches führen, zu nennen.
Der selektive Zugang zum globalen Wissenschaftssystem, der darin besteht, dass ein freier Kommunikationsaustausch durch technische, sprachliche und politische Zensur eingeschränkt wird, schließt das chinesische Wissenschaftssystem in einer für sich eigentümlichen Art. Die Grenzziehung erfolgt in der Hinsicht selektiv, dass der Zugang zum globalen Wissenschaftsstand an die soziale Dimension (Prestige, Netzwerkkapital und/oder fachliches Können) gebunden ist. Für das chinesische Wissenschaftssystem erfolgt die Schließung über eine Prestigeordnung, die nicht vorrangig an fachliche Ergebnisse geknüpft ist. Das Netzwerkinteresse über die Stellung im Netzwerk und über die Prestigeverteilung. Diese Netzwerkinteressen können stark an fachliche Überlegungen und Forschungen gebunden sein, müssen es aber nicht.
Daher ist zu fragen, wie sieht die Erwartungserwartung in den Netzwerken aus und wie verändert sie sich prozessual, um an den Aufbau und die Forschungsentwicklung heranzutreten. Ein solcher Strukturaufbau schließt einen Elitenbereich in bestimmten Forschungsgebieten nicht aus, da er mit Netzwerkinteressen übereinstimmen kann. Es ist vielmehr in den Blick zu nehmen, wie eine Wissensverständigung (Kooperation) unter solchen Bedingungen realisiert wird. Typisch dafür ist eine hohe Inklusion wie auch Exklusion. Sie besteht in der Besonderheit, dass die Netzwerkinteressen fortwährend der Abstimmung bedürfen. Das hat zur Folge, dass die Netzwerkmitglieder zirkulär Kontakt zu Nichtnetzwerkmitgliedern suchen und pflegen, um auf veränderte Anforderungen zu reagieren. Damit verfolgen sie eine Strategie der Konfliktvermeidung. Das heißt aber nicht, dass daraus eine Kooperation nach westlichem Zuschnitt erfolgt. Eine Kooperation bildet sich erst dann, wenn sich ein Netzwerkinteresse gebildet hat. Insofern verfahren die Teilnehmer an einem Netzwerk inklusiv und exklusiv zugleich. Das bestimmende Merkmal an dieser Verfahrensweise ist aber der Sozialvor dem Sachbezug. Denn die Netzwerkinteressen bilden sich in einem Gruppenprozess.
Für den Anschluss zum globalen Wissenschaftssystem ergeben sich für das chinesische Wissenschaftssystem zwei Anschlussvoraussetzungen, die es zu gestalten gilt. Die bisher reine Wissensimportstrategie führt dazu, dass die Wissensgewinnung je nach zeitlichem Maßstab eine mehr oder weniger tolerierbare Differenz enthält, aber es ist zugleich gegenüber den Wissensexportländern der Kooperationsentzug zu gestalten, um nicht in eine falsche Abhängigkeit zu gelangen. Des Weiteren liegt eine Anschlussvoraussetzung darin, dass die Wissensgewinnung seinem Nutzen unterliegt. Insofern gilt, dass der Wissensder Nutzort ist. Das beinhaltet eine Selektionsebene, da Wissen inflationär gebraucht wird und schwer im Voraus zu sagen ist, wann und unter welcher Bedingung es Anwendung finden wird. Durch diese Art der Selektion, dass sich Wissen auf seine Anwendung und nutzbare Gestaltung verengt, verschließt sich das Bildungssystem gegenüber einem Variationsspielraum, der zum Beispiel für neue Trends und Innovationen nützlich ist. Das betrifft die weitergehende Frage, wie Wissen oder bisher nicht genutztes Wissen verwertet wird. Für die Innovation im chinesischen Wissenschaftssystem greifen die Chinesen auf eine Rekombination von vorhandenen Ideen, veränderten Zwecken und den Anwendungen und Vorgehensweisen zurück. Somit hat das Wissen einen bestehenden Teil, der neu zusammengesetzt und dem Zweck angepasst wird. Er ist aus der Umwelt einzubauen, umzugestalten und anzuverwandeln. Das Charakteristische daran ist, dass es im Gegensatz zur westlichen Vorgehensweise eine andere Systematisierung hat. Die chinesische Innovation sucht nach Anschlüssen und rekombiniert nach Nutzenvorgaben.
Die westliche Vorgehensweise dagegen systematisiert in immer kleinere Bestandteile und sucht nach dem Endpunkt oder elementaren Bestandteilen.
Es waren vor allem die neue Wirtschafts- und Politikelite, die es ihrem Nachwuchs ermöglichten, im Ausland zu studieren und die nötigen finanziellen Mittel dazu aufzubringen. Als Zukunfts- und Generationsinvestition steht die Ausbildungsförderung traditionell in der chinesischen Gesellschaft auf sehr hohem Niveau. Das heißt, Familien sind zu einem hohen Maß bereit, Einschränkungen auf sich zu nehmen, um ihren Angehörigen einen möglichst hohen Bildungsabschluss zu ermöglichen. Die Öffnung des Wissenschaftssystems zielte in erster Linie darauf ab, sich an den globalen, westlich-dominierten Wissensstand anzupassen. Die Prämisse der Adaptation erfolgte dem Prinzip der Nachahmung. Das ist insofern auch von kulturellen Faktoren überlagert, da in der chinesischen Wissenschaftstradition die Nachahmung der erste Schritt zum Meister ist. Die fortlaufende Wiederholung eines zu lernenden vorgegebenen Wissens soll nach chinesischen Annahmen der Weg zu Einsicht und zum Verständnis des Wesens der Dinge sein. Die Forschungsprogramme sind nicht orientiert, Fragestellungen des Unbekannten systematisch zu analysieren und das Unbekannte einzugrenzen, wie es in der westlichen Wissenschaftstradition vorherrschend ist. Insofern verfährt das chinesische Wissenschaftssystem eher pragmatisch mit gegenwärtigen und vorgegebenen Problemstellungen. Die Erfolge dieser Strategie werden im Wissenschaftstransfer und den Herstellungsmethoden der modernen chinesischen Industrie und dem Aufstieg zu dem größten Hersteller von Chip- und Computertechnologie deutlich. Es gelang China, den Abstand zum Herstellungs- und Wissensstand in eindrucksvoller Weise aufzuholen. Zeugen für diese Veränderung sind auch das Weltraumforschungsprogramm und die Erfolge der Sinonauten. Die kostenärmere Realisierung von erreichten Wissensständen ist der zweite Schritt der Adaptation. Dieser Prämisse geht ein differenzierter Ansatz des Ressourceneinsatzes vorweg, der eher auf quantitative Ansätze als auf qualitative Schwerpunkte setzt.
- [1] Seitz, Conrad. China. Eine Weltmacht kehrt zurück. Berlin: BvT, 2002.
- [2] Münch, Richard. Die Struktur der Moderne. Grundmuster und differenzielle Gestaltung des institutionellen Aufbaus der modernen Gesellschaften. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1984, 214.
- [3] Ebd.
- [4] Bauer, Wolfgang. „Wissenschaft und Kritik,“ in Geschichte der chinesischen Philosophie. München: C.H. Beck, 2006, 299–304.
- [5] In Zahlen drückt sich der Anstieg folgendermaßen aus: Anzahl von Hochschulen 1075 (im Jahr 1990) auf 2442 (im Jahr 2013), Anzahl der StudentenInnen 2,06 Mio. (im Jahr 1990) auf 23,91 Mio. (im Jahr 2013 sowie Anzahl der Neuzulassungen 0,61 Mio. (im Jahr 1990) auf 6,89 Mio. (im Jahr 2013), China Statistical Yearbook, stats.gov.cn.
- [6] Staiger, Brunhild. „Bildung und Wissenschaft,“ in Doris Fischer und Michael Lackner (Hrsg.) Länderbericht China. Geschichte, Politik, Wirtschaft, Gesellschaft. Bonn: BPB, 2007, 523–41.
- [7] Naughton, Barry. „China's Economic Think Tanks: Their Changing Role in the 1990s,“ The China Quarterly, 171, September 2002, 625–35.
- [8] Für die Aufnahme an eine Hochschule müssen Schülerinnen und Schüler in der VR China die landesweite Nationale Aufnahmeprüfung bestehen. Die Zulassung bzw. Aufnahme an einer Hochschule erfolgt nach einem Punktesystem. Diese Form der Inklusionsöffnung führte zu andere Selektionkriterien, so zeigen Untersuchungen, dass der Zugang zu Hochschulen abhängig wird vom familiären Hintergrund, privilegierten Gruppen (sozioökonomischer Status), Yeung, Wei-Jun Jean. „China's Higher Education Expansion and Social Stratification,“ Asia Research Institute Working Paper Series 199, April 2013, 5–6.
- [9] Ein hohes Prestige und besondere finanzielle Förderung erhalten die chinesischen „Elite Universitäten Peking Universität (Peking), Tsinghua Universität (Peking), Fundan Universität (Schanghai) und Zhejiang Universität (Hangzhou), ebd. 4.
- [10] Jacka, Tamara, Andrew Kipnis und Sally Sargeson.”Education and the Cultivation of Citizen,” in Contemporary China. Society and Social Change. New York: Cambridge UP, 2013, 161–77.