Sozialordnung ohne Verrechtlichung
In der chinesischen Gesellschaft zeichnet sich keine Verrechtlichung der Sozialordnung oder auch ein Bestreben ab, eine gemeinschaftliche Rechtsordnung zu institutionalisieren. Diesbezüglich gibt es keine sozialen Trägerschichten. Das erklärt auch die weitverbreitete Indifferenz gegenüber dem Exklusionsbereich. Die Funktion des Rechts in der chinesischen Gesellschaft dient der Konfliktgestaltung und ergänzend über nicht-institutionalisierte Netzwerke dem solidarischen Ausgleich. Es ist nicht vorgesehen, dass das Rechtssystem Einfluss auf die Sozialordnung hat, wie im Sinne eines Sozialoder Wohlfahrtsstaats. [1]
Die Indifferenz gegenüber dem Exklusionsbereich ist daher zu erklären, dass der Exklusionsbereich nicht unter gesellschaftlicher Beobachtung steht. Er liegt außerhalb, es ist ein unbestimmter Bereich, in den man nicht hineingezogen oder gedrängt sein möchte. Das Rechtssystem bezieht sich nicht auf ihn in der Art, dass er in einen Inklusionsbereich umgewandelt werden soll oder dass den davon Betroffenen ein Zugang zum Inklusionsbereich zu eröffnen ist. Das gilt auch dann, wenn durch den Beschluss des Volkskongresses im Oktober 2014 die Rechtspositionen für Wanderarbeiter verändert wurden. Dieser Beschluss folgt eher den Zugangsbedingungen zum Wirtschaftssystem, das die Wanderarbeiter bei ansteigenden Lohnkosten benötigt. Insofern erfolgt die Veränderung nicht aus dem Programm des Rechtssystems, sondern aus anderen Erfordernissen der Teilsysteme.
Rechtsverständnis
Wenn wir das chinesische Rechtsverständnis in den Beobachtungsfokus rücken, so zeigt sich, dass es sich von dem westlichen Rechtsverständnis unterscheidet. Das liegt in der chinesischen Sozialkonstruktion begründet, die eine andere soziale Ordnungsvorstellung und Konfliktverarbeitung vorsieht. Das betrifft die Beziehung zur WELT. Es wird erwarte, dass die Gruppenmitglieder an die Gruppe und ihre soziale Umwelt angepasst sind und das Interesse der Gruppe unterstützen. Bei der Gruppe handelt es vornehmlich um soziale Netzwerke, die eine bestimmte Form aufweisen, obwohl ihre Grenzen diffuse sind, d. h., die Grenzen der Gruppe sind nicht jedem Mitglied zu jedem Zeitpunkt bekannt. Aus diesem Grund wird zum einen defensiv verfahren und ein Möglichkeitsspielraum mit einbezogen, aber zum anderen werden ständig Kommunikationen und Kommunikationssituationen gesucht, um die Netzwerkmitglieder zu erhalten und ihre Absichten zu koordinieren. Die Form der Kommunikationsgestaltung bildet andere Anschlussvoraussetzungen und Konfliktpotenziale. Vor diesem Hintergrund ist das chinesische Rechtsverständnis einzuordnen, da es auf die sozialen Voraussetzungen Bezug nimmt und die Konfliktsteuerung herleitet.
Das chinesische Rechtssystem übernimmt in der chinesischen Gesellschaft die Konfliktsteuerung, wenn eine informelle Konfliktlösung nicht erfolgreich war, das heißt, es ist der letzte zu gehende Schritt. Die Hintergründe dafür haben unterschiedliche Ursachen. Die Kommunikation in der chinesischen Gesellschaft und die chinesische Sozialkonstruktion sind darauf angelegt, Konflikte zu vermeiden und sukzessiv Veränderungen durchzusetzen und die Interessenverfolgung zu ermöglichen. Das hat keinen finalen Endzustand, sondern ist ein permanenter Prozess. Eine Konfliktsteuerung über das Rechtssystem erschwert die Anpassung und wird daher nur in Ausnahmefällen in Anspruch genommen. Ferner ist die Rechtsentscheidung im chinesischen Rechtssystem nicht vorhersehbar, sodass sie nur in Anspruch genommen werden kann, wenn die Nichtentscheidung auf einem vergleichbaren Niveau wie die Negativentscheidung liegt.
Der Gang durch die Gerichte ist der Weg der Ultima Ratio, der die Entscheidung über die Konfliktlösung externalisiert. Daher ist die formalrechtliche Konfliktlösung der Ausnahmefall und er steht im Gegensatz zur üblichen Konfliktaustragung. Für das chinesische Rechtssystem ist die Folgenorientierung bei der Gerichtsentscheidung charakteristisch. Obwohl weite Teile der deutschen Zivilrechtsordnung schon früh in das chinesische Recht importiert wurden, findet in der Ausgestaltung jedoch ein wesentlicher Unterschied statt. Die Gerichte orientieren sich in der Lösungsfindung an den Konsequenzen, die diese Entscheidung auf die Konfliktparteien haben wird. Diese Form der Orientierung stellt einen höheren Lokalbezug dar, mit dem auf lokale Gewohnheiten, Ansprüche und Vorstellungen reagiert werden kann. Zugleich sind solche Lösungen aber auch eine Abkehr von der formalen rechtlichen Konfliktlösung. Vergleichbar der amerikanischen Rechtsauffassung mit den Common Law, die auch stärker den lokalen Bezug für die Entscheidungsfindung sucht, liegt in der amerikanischen und britischen im Unterschied zur kontinentaleuropäischen Rechtstradition ein gewisser Gegensatz. Die Common-Law-Tradition wird von ihren Kritikern als willkürlich und manipulativ eingestuft, während die CivilLaw-Tradition als fallunangemessen charakterisiert wird. In dieses Spannungsfeld ist das chinesische Rechtssystem zu verorten. Es geht zwar zu einem großen Teil in der deutschen Civil-Law-Tradition zurück, doch steht es in der Rechtsanwendung eher in der amerikanischen Rechtstradition. Diese Form der Folgenorientierung grenzt auch die Ausbildung einer Rechtsdogmatik ein, die sich weniger an der Systematik als an der Situation orientiert. Das Rechtssystem in westlichen Gesellschaften ist dafür ein gutes Beispiel. Es ermöglicht den Aufbau und die Stabilisierung von Erwartungserwartungen auch im Falle eines Verstoßes gegen sie. Durch die gedankliche Höherstufung von Erwartungserwartungen auch im Verstoß-Fall wird Planungsstabilität erfahrbar. [2]
In der chinesischen Gesellschaft wird die Planungsstabilität und Kalkulation von Handlungsfolgen nicht durch das Rechtssystem sichergestellt, sondern über die Mitgliedschaft und das Sanktionspotenzial in Netzwerken. Der Eintritt und der Verbleib in chinesischen Netzwerken sind an bestimmte Mitgliedschaftsbedingungen geknüpft. Wer diese nicht fortwährend erfüllt, wird ausgeschlossen und verliert damit die Möglichkeit seiner Interessenverfolgung. Die Mitgliedschaft in einem sozialen Netzwerk in der chinesischen Gesellschaft ist durch asymmetrische Rollenverteilung und Stabilisierungen gekennzeichnet. Es gibt einen Geber und einen Nehmer. Dieses Geben und Nehmen wird nicht ausschließlich zwischen zwei Personen ausgetauscht, sondert kann auch über indirekte Ties, den Freund eines Freundes, erfolgen. Damit sichert sich das Netzwerk seinen Ressourcenzufluss. Über die Mitgliedschaftsbedingungen und die Ausbildung von Mitgliedschaftsrollen lassen sich Erwartungserwartungen aufbauen. Sie ermöglichen bei einer restriktiven Verfahrensweise einen höherstufigen Aufbau und damit die Kalkulation einer Planungsstabilität. Ohne den Aufbau eines Rechtssystems kann China damit eine andere Lösung für das gleiche Problem anbieten und das Wirtschaftssystem mit seinen entsprechenden Erfordernissen versorgen.
Unter der Voraussetzung, dass die Erwartungserwartungen nicht verallgemeinerbar sind, haben die Mitglieder der Gesellschaft und der einzelnen Gruppen zu wissen, wann und in welchem Ausmaß sich die Erwartungserwartungen rechtlich ausgestalten. Das setzt die Verarbeitung von und Bezugnahme auf Kontingenz voraus. Dies muss aber für Chinesen nicht dramatisch sein, da der Verlauf der sozialen Situation über eine Kontextkommunikation und Beobachtung gesteuert wird. Damit ist auf permanente Veränderungen zu reagieren oder sich stoisch zu verhalten, um nicht Gefahr zu laufen, ausgeschlossen zu werden. Für die Gesamtbetrachtung des Rechtssystems ist entscheidener, dass damit eine andere Form des Komplexitätsaufbaus möglich beziehungsweise nicht möglich ist. Die Verzahnung eines hochkomplexen Systems ist damit nicht möglich, da sich die Veränderung zu einem fortlaufenden Umbau nicht vollziehen kann. Das führt dazu, dass nur holzschnittartig auf Situationen reagiert werden kann. Bei steigender Komplexität kann zwar situativ verfahren werden, aber die Folgenabschätzung bleibt unzureichend. Das lässt sich dann nur durch eine permanente Nachsteuerung gewährleisten und ist ressourcenaufwendig. Die Partikularisierung und Asymmetrien festigen auch die Erwartungen, da dadurch der soziale Rahmen abgestimmt ist, der von den Betroffenen selbst nicht zu verlassen ist. Sofern es so etwas wie eine individuelle Lebensgestaltung gibt, so ist die Biografie durch den sozialen Rahmen vorgegeben. Die Partikularisierung und die Asymmetrien werden zum einen durch die sozialen Netzwerke und die Kommunikationsmuster in der chinesischen Gesellschaft gebildet, sie liegen aber auch zum anderen in der chinesischen Sozialkonstruktion, die diesen Zustand als stabilisierende Orientierung vorsieht.
In der zeitlichen Dimension des Rechtssystems ist erkennbar, dass eine Zunahme an gesetzlichen Regelungen wie auch der rechtlichen Entscheidungen durch richterliche Instanzen nicht zu einer Tiefenregulierung des chinesischen Rechts führt. Das ist ein Beleg dafür, dass die Modernisierung des chinesischen Rechtssystems einen anderen Veränderungspfad als westliche Rechtssysteme einschlägt und das chinesische Rechtssystem seine Orientierung an die Abstimmung des situativen Ausgleichs beibehält. Das trägt mit zu einer Stabilisierung der gesellschaftlichen Ordnung bei.
- [1] Potter, Pitman. „Guanxi and the PRC Legal System: From Contradiction to Complementarity,“ in Thomas Gold, Doug Guthrie und David Wank (Hrsg.). Social Connections in China. Institutions, Culture, and the Changing Nature of Guanxi. Cambridge (UK): Cambridge UP 2002, 179–95.
- [2] Zhu, Sanzhu. „Modernizing Chinese Law: The Protection of Private Property in China,“ ProtoSociology Vol. 28 China's Modernization I, 2011, 73–86.