Chinesische Sozialkonstruktion
Der Ausgangspunkt für die Modernisierung und das Verständnis der Modernisierung in der chinesischen Gesellschaft ist die Sozialkonstruktion, in der die Relationen und Bestandteile gefasst und ihnen Werte zugeteilt werden, indem die Modi der sozialen Integration und die Ausbildung von Erwartungserwartungen gefasst werden. Dieser Bezugsrahmen unterscheidet sich von westlichen Gesellschaften, da die chinesische Sozialkonstruktion keine personalabstrahierten Rollen und individualisierten Rollenkonzepte, sondern ein relatives Modell hat. [1] Es bemisst die Entitäten aus den Bezugspunkten zu ihren Kommunikationspunkten. Es geht von einer Asymmetrie als Stabilisierungsfunktion aus, die den individualen Kommunikationsverlauf auf utilitaristische Bezugspunkte abstimmt und von der Bezugsgruppe als Herkunftsgemeinschaft dominiert ist. Die Öffnung und Schließung kommunikativer Grenzen erfolgt über eine konfliktarme Kommunikationsgestaltung und die Status- und Prestigeordnung. Die Modernisierung der chinesischen Gesellschaft hat bei weitgehender Öffnung weder an der Sozialkonstruktion, noch an der Kommunikationsgestaltung und den Öffnungs- und Schließungsbedingungen über die Status- und Prestigeordnung etwas geändert.
China ist keine Grundsatzkultur, wie schon Max Weber herausstellte, sondern die Entscheidungen, sei es im Rechtssystem, im Wirtschaftssystem oder auch politischen System, entziehen sich der zeitlichen Übersteuerung. Wann immer in der Situation entschieden wird, wie können die Mitglieder der chinesischen Gesellschaft dann ihr Handeln abstimmen und wissen, wie zu verfahren ist? Die Abstimmung auf die Erwartungserwartungen lässt sich in einem mehrstufigen Verfahren und vor dem Hintergrund der chinesischen Sozialkonstruktion erkennen, in die auch die Beobachtungsinhalte des Daoismus einfließen. Die Erwartungserwartungen in der chinesischen Gesellschaft liefern eine Handlungsorientierung, die zugleich auch hochdynamisch ist. So kann es vorkommen, dass im Fall des Verstoßes gegen die Erwartungserwartungen ganze Netzwerkzweige abgeschnitten werden und in den Exklusionsbereich abdriften. Da diese Vorgänge in der chinesischen Gesellschaft bekannt sind und die Kommunikation unter dieser Prämisse beobachtet wird, ist eine sehr konservative Verfahrensweise zu beobachten, um Konflikte zu vermeiden. Das erklärt den Situationsbezug, der in den Entscheidungen der gesellschaftlichen Kommunikation in der chinesischen Gesellschaft auftritt.
Die Sozialkonstruktion der Mitglieder der chinesischen Gesellschaft ist trotz der strukturellen Veränderungen in der Folge der Modernisierung konstant geblieben. Sie besteht darin, dass die symbiotischen Zusammenhänge im Verwandtschaftssystem, die Solidaritätskonzeption über soziale Netzwerke, die darin inbegriffene Form der Kommunikationsgestaltung und auch die utilitaristische Interessenverfolgung erhalten geblieben sind. Das gilt auch dann, wenn die Ein-Kind-Politk das Verwandtschaftssystem weitreichenden Veränderungen zugeführt hat, zum Beispiel dem Verlust von bestimmten Rollenmodellen wie Neffen, Onkeln usw. Es ist auch unbestritten, dass sich die sozialen Netzwerke in der chinesischen Gesellschaft gewandelt haben. Dennoch lässt sich beobachten, dass die sozialen Netzwerke eine Solidaritätsform ausgeprägt haben, die als weitereichende Kompensation für fehlende politische Wohlstaats- und Sozialstaatsprogramme dienen. An dieser Stelle ist die Frage nach dem Ursprung und der Folge unzweckmäßig, wenn sie zu klären beabsichtigt, ob Sozial- und Wohlstaatsprogramm wegen der Netzwerksolidarität nicht ausgeprägt werden oder auch, ob die Netzwerke als eine Folge und damit funktionales Äquivalent für diesen Mangel einzustufen sind. Diese Fragestellung ist zielführender dadurch aufzulösen, indem die unterschiedlichen Perspektiven für diese Einschätzung beobachtet und der gemeinsame Hintergrund herausstellt werden. Unbestritten bleibt, dass die sozialen Netzwerke in der chinesischen Gesellschaft durch Formen der Kommunikationsgestaltung gebildet und aufrechterhalten werden, die von westlichen Freundschafts- und Bekanntennetzwerken abweichen. Die Kommunikationsgestaltung geht von Mitgliedschaftsbedingungen aus, die durch einen symbiotischen Zusammenhang über die soziale Dimension in der Kommunikation gefestigt werden. Diese Form der Kommunikationsgestaltung führt zu einer anderen Einbindung und Ausschluss von Mitgliedern bzw. Nicht-Mitgliedern als Inklusions-Exklusionsbedingungen. Vor diesem Hintergrund wird auch die utilitaristische Zielverfolgung der Gesellschaftsmitglieder erkennbar, die sich gerade an den Grenzlinien der Mitgliedschaften beobachten lässt. Diese Interessenverfolgung geht mit der Kommunikations- und Netzwerkgestaltung einher und wird in ihrer Wechselwirkung erkennbar.
Aufdie Hintergründe dieser chinesischen Sozialkonstruktion gehe ich in drei Schritten ein. Als erstes erfolgt die Darstellung der sozialen Orientierungen. Aus ihr geht die die Dominanz des Sozialen (Vorrang der sozialen Dimension) aber auch die kollektive Netzwerkorientierung hervor. Im zweiten Schritt folgt die chinesische Zeitperspektive, die für die chinesische Sozialkonstruktion insofern charakteristisch, dass sie die gesellschaftliche Kommunikation an den Anschluss an die Vergangenheit orientiert. Das führt im dritten und letzten Schritt auf den Mechanismus der traditionellen Adaptation, als einer Lösungsformel für den Umgang mit gesellschaftlichen Wandel.
- [1] Haag, Antje. Versuch über die moderne Seele Chinas. Eindrücke einer Psychoanalytikerin. Gießen: Psychosozial-Verlag, 2011.