Perspektiven der Gegenwart
Für die chinesische Sozialkonstruktion ist das Verständnis der Zeitdimension in der chinesischen Gesellschaft zu erschließen, das über den Bezug der Gesellschaftsmitglieder zur Welt und über die Verarbeitung von inneren Spannungen Aufschluss gibt. Das chinesische Zeitverständnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft lässt sich bildnerisch als Scheibe darstellen, auf der Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit sich ablösen und die Veränderung zwischen den drei Zeitebenen eingeschlossen ist. Insofern wird die Veränderung auch als ein nicht bestimmbares, nicht instrumentell gestaltbares Anderes mit einbezogen, dem es sich zu stellen gilt. Die Akzeptanz über die Kontingenz der Situation liegt somit im Zeitverständnis, das in der chinesischen Sozialkonstruktion angelegt ist. [1]
Die chinesische Gesellschaft zeichnet sich durch einen Situationsbezug aus, an den Erwartungserwartungen gekoppelt sind. Bei der chinesischen Gesellschaft handelt es ich um keine Grundsatzkultur (Max Weber), das heißt, die Erwartungserwartungen unterliegen dem zeitlichen, sachlichen und sozialen Bezug. Insofern sind die sozialen Netzwerke für die Ausbildung und Reformulierung der Erwartungserwartungen relevant. Die Erwartungserwartungen sind sachlich an die Zielverfolgung der Netzwerkgruppe gebunden, an die Mitgliedschaftsbedingungen und über situativen Zeitbezug auch an die zeitliche Dimension. Infolgedessen bildet sich eine Kopplung zwischen der Orientierung der Netzwerkmitglieder und den Erwartungserwartungen an die Netzwerkmitglieder sowie an das Ziel des Netzwerks. Darin besteht der reversible Charakter der Orientierungen. Das entspricht keiner generellen Handlungsorientierung, da sie auch immer verändert werden kann. Diese Orientierung an die situative Ausgestaltung in der gesellschaftliche Kommunikation Chinas, d. h. die Lösung von Situationen unter dem Anschnitt der aktuellen Gegenwart, unterscheidet sich von einer langfristigen Utopie als einer instrumentellen Zukunftsorientierung westlicher Gesellschaften, die nach einem modernistischen Vorbild die Gesellschaftsstruktur und ihre Teile entsprechend umzuformen versucht. [2]
Der besondere Zeitbezug in der chinesischen Sozialkonstruktion wird durch das Verwandtschaftssystem und die Ehrung der Ahnen erkennbar, denn sie erfolgt sowohl in eine langfristige gegenwärtige Zukunft als auch in eine langfristige gegenwärtige Vergangenheit. Die Ahnen haben an der gegenwärtigen Situation mitgewirkt, in der die einzelnen Mitglieder teilhaben. Das lässt sich als Kreis vorstellen, der immer weiter zirkuliert, ohne einen Endpunkt zu erreichen. Für die Zeitvorstellungen und die Erwartungen ist die Erzählung von einem Bauern illustrativ. Dieser Bauer, der mit seiner Familie hinter einem Berg wohnt, muss über den Berg, um zum Markt zu kommen. Um den Weg und die Anstrengung zu verkürzen, beginnt er, den Berg wegzuschaufeln. Die Dorfbewohner sehen das und kommen verwundert zu ihm. Sie fragen ihn, was machst du da? Er antwortet: Er wird den Berg abtragen. Die Dorfbewohner bezweifeln seinen möglichen Erfolg. Der Bauer bleibt gelassen. Er wird es nicht schaffen, aber die Kinder meiner Kinder meiner Kinder meiner Kinder usw. werden es eines Tages schaffen. Die Zeit des Glücks und der Erleichterung liegen in der fernen Zukunft und wird durch die Nachfahren erreicht. Jeder einzelne Nachfahre des Bauern ist schon ein Stück weiter und näher am Ziel. Er trägt die Verantwortung der Ahnen und die Verpflichtung der nachfolgenden Generationen. [3]
- [1] Bauer, Wolfgang. China und die Hoffnung auf Glück. Paradiese, Utopie, Idealvorstellung der Geistesgeschichte Chinas. München: dtv, 1974, 37.
- [2] Preyer, Gerhard und Reuß-Markus Krauße. „Kosmische Einheit und soziale Ordnung,“ in Chinas Power-Tuning. Modernisierung des Reiches der Mitte. Wiesbaden: Springer VS Verlag, 2014, 81–157.
- [3] Eine chinesische Erzählung.