Traditionelle Adaptation
Die Ausprägung der Gegenwarts- und Lebenseinstellung ist ein Grund der besonderen Adaptation und der Suche nach neuen Möglichkeiten in der chinesischen Gesellschaft. Es ist ein besonderes Credo der chinesischen Sozialkonstruktion. Sie dient der Kompensation von Spannungen und steht für die Stabilität der chinesischen Gesellschaft, dass sie gerade nicht, wie viele westliche Wissenschaftler es darstellen, bei einem extrem hohen Gini-Koeffizienten in einen revolutionären Zustand gerät, in dem Auflösungen des politischen Systems inbegriffen sind. [1] Das heißt, die Orientierungen fallen anders aus und ermöglichen, über Spannungen hinwegzugehen bzw. diese zu kompensieren. Das muss nicht heißen, dass es nicht auch harte Konflikte und Verwerfungen in der chinesischen Gesellschaft gibt. Im Gegenteil, die Anzahl der gewaltsamen Konflikte ist seit den 1990er Jahre erheblich angestiegen. Die Aufstände richten sich aber auf lokale Konfliktpunkte und Missstände, sie integrieren die örtliche Gemeinde und führen nicht zu einer politischen Zentrumsbewegung, welche die Veränderung des politischen Systems zum Ziel hat. Die chinesische Gesellschaft zeichnet sich daher durch eine besondere Flexibilität und Beständigkeit der kollektiven Ordnung aus.
Es kommt vor, dass der Konfuzianismus in der chinesischen Gesellschaft als eine Volksreligion eingeordnet wird. Das ist insofern unzutreffend, da es sich dabei um eine traditionsorientierte Lebensführung der Eliten des politischen Zentrums handelt, welche die Ausbildung von tragenden Literaten- und Verwaltungsschichten zur Folge hatte. Das konfuzianisch Heilige besteht in der heiligen Tradition und der Autorität, die sich an der Aufrechterhaltung und Pflege der sozialen und politischen Ordnung orientiert. Aus neokonfuzianischer Sicht steht der Daoismus insofern dem nicht entgegen, da es sich dabei um nichts Transzendentales handelt, sondern um eine kosmische, soziale und ökologische Ordnungsmacht. Zum Verständnis der chinesischen Kultur empfiehlt sich das Zitat von Li Ta-chao: „Historische Erscheinungen sind ständig in Umwälzungen und im Wandel begriffen, doch bleiben sie zur selben Zeit für ewig unsere spürbaren Erscheinungen im Kosmos.“ [2]Darin besteht das chinesische Erhabene als etwas Unerreichbares und Unermessliches, das Erstaunen und Schrecken auslöst. [3]
Es gibt einen Vorrang der Adaptation und damit der Einstellung, sich situationsangemessen zu verhalten. Das ist die Beobachtungssituation, vor der die Handlungen stattfinden. Auf der nächsten Ebene verhalten sich die Chinesen in unbekannten Situationen zurückhaltend. Zwar sind sie in ihren Beobachtungen hochkontextsensibel, das gilt sowohl für bekannte als auch für unbekannte Situationen, aber in unbekannten Situationen verhalten sie sich nicht aktionistisch, sondern warten die anderen Teilnehmer ab. Über die Nachahmung und das Zusammensetzen von verschiedenen beobachteten Kommunikationen greifen sie auf ihr Repertoire zurück, indem sie die Handlung vor ihrem Hintergrund und den beobachteten Kommunikationen wiederholen. Die Situationserschließung erfolgt damit immer über den Rückgriff auf die Vergangenheit (Repertoire) und die Anpassung an das aktuelle Ereignis über die Situationswahrnehmung. Es findet keine Schleife hinsichtlich einer übergeordneten Wahrheits-, Gerechtigkeitsoder Verhaltungsnormierung statt, wie sie in westlichen Gesellschaften über die Religionskonstruktionen oder politischen Utopien erfolgt. Diese Form der Kommunikationsabstimmung ermöglicht es den sozialen Netzwerken, sowohl eine Stabilität durch die kontinuierliche Orientierung der Netzwerkziele als auch eine Flexibilität zum Situationsbezug herzustellen. Der Rückbezug auf die Vergangenheit begrenzt den Variabilitätsspielraum und ermöglicht damit eine Kontinuität. Hingegen erlaubt der nahweltliche Situationsbezug, die ständige Beobachtung der Ergebnisse und ihrer Konsequenzen in den Blick zu nehmen, um die Netzwerke mit Veränderungspotenzial zu versorgen.
Die Situation, in der eine Kommunikation stattfindet, dient als Unterscheidungsmarkierung. Aus ihr werden Bewertungsmaßstäbe gezogen und Zuschreibungen vorgenommen. Die Mitglieder werden nicht anhand von abstrakten Prinzipien beurteilt, sondern anhand der Ausgestaltung der Situation. Dabei ist zu berücksichtigen, dass aus der Mitgliedschaftsperspektive eine Informationsselektion bezüglich der Situation vorliegt, da nicht alle Bezugsgrößen, die zu der Situation geführt haben und die Situation beeinflussen, berücksichtigt werden. Das führt zu einer Verantwortungszuschreibung auf das System, zum Beispiel des Verwandtschaftssystems, oder zu einer Externalisierungsstrategie, welche die Umstände in ein nicht veränderbares Außen verlegt, zum Beispiel Aberglaube und Verschwörungstheorien, denen man sich zu ergeben hat. Die Rollen im chinesischen Verwandtschaftssystem sind durch einen wechselseitigen Bezug gekoppelt, der die gegenseitige Verantwortung beinhaltet. Das wird dann anschaulich, wenn wir die Ausbildung eines Kindes beobachten. Die Eltern haben nach der Rollenkonzeption dem Kind die größtmöglichen Bildungsentwicklungen einzurichten, aber das Kind hat zugleich alle Anstrengungen zu unternehmen, dieser Verpflichtung nachzukommen und das Bildungsangebot umzusetzen. Im Falle des Scheiterns ist die Schuldzuschreibung, ob kommuniziert, bewusst oder unbewusst erfasst, auf beide Seiten verteilt, da die Eltern nicht mit den nötigen Mitteln die charakterliche Eignung des Kindes bewirkt haben bzw. das Kind nicht alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel und Anstrengungen genutzt hat, um den erwarteten Erfolg zu erzielen.
- [1] Das belegt auch Wyhtes Untersuchung, siehe, Whyte, Martin K. „Myth of the Social Volcano: Popular Responses to Rising Inequality in China,“ in William C. Kirby The People's Republic of China at 60. Cambridge (MA): Harvard University Asia Center; 2011, 273–90.
- [2] Bauer, Wolfgang. „4. Das neue Reich und die Rettung der Welt,“ in China und die Hoffnung auf Glück. Paradiese, Utopie, Idealvorstellung der Geistesgeschichte Chinas. München: dtv, 1974, 513.
- [3] Preyer, Gerhard und Reuß-Markus Krauße. „Heilige Ordnung der Neokonfuzianismus,“ in Chinas Power-Tuning. Modernisierung des Reiches der Mitte. Wiesbaden: Springer VS Verlag, 2014, 81–84.