Innengrenze, Symbole und Mythen

Die kollektive Identität ist die Selbstbeschreibung der Innengrenze des sozialen Systems. Sie stellt damit die Einheit her und beschreibt, wie das soziale System sich sehen möchte und sieht, die Tabus und die Reflexion der Außenperspektive werden dabei vernachlässigt. Die kollektive Identität verfügt damit über etwas Bewusstes und auch Unbewusstes, da sie sich aus dem Systemstandpunkt beschreibt und über seinen eigenen Beobachtungspunkt, den blinden Fleck, nicht reflektieren kann. Die Selbstbeschreibung bestimmt die Solidaritätsgrenzen und auch die Formen der Solidarität. Zur Stabilisierung der chinesischen Gesellschaft trägt die kollektive Identität als eine Selbstbeschreibung der sozialen Innengrenze des sozialen Systems Gemeinschaft bei. Die Selbstbeschreibung erfolgt über Metaerzählungen der vermeintlichen Herkunftsgemeinschaft, die über Brüche hinweg die gesellschaftliche Vergangenheit hineinkonstruiert wird. Am Anfang stehen die Vorfahren, die aus wenigen hervorgingen und über die Kontinuitätsthese zusammengehalten werden. Die kollektive Identität als eine Selbstbeschreibung bedient sich der Freund-Feind-Unterscheidung, indem das Innere vom Äußeren abgrenzt wird und über eine solidarische Askription auch über Konflikte und Spannungen hinweg die Solidarität und damit den Zusammenhalt herleitet. Das ermöglicht es, innere Konflikte zu überbrücken und die Ursachenzuschreibungen auf das Außen zu verlagern.

Die chinesische Gesellschaft beschreibt sich selbst als eine Ahnengesellschaft, die als einmalige Zivilisation über kontinuierliche Geschichte von 3 000 bis 7 000 Jahren verfügt. Durch die Einmaligkeit stellen die Selbstbeschreibungen eine Dichotomie her, die in einer Freund-Feind-Codierung aufgeht. Die einmalige chinesische Gesellschaft hat nach dieser Selbstbeschreibung alle Veränderungen überdauert, so zum Beispiel auch die Herrschaft der Mongolen, und ist in ihrem Kern konstant geblieben. Diese Kontinuitätslinie wird fortlaufend von der Gegenwart in die Vergangenheit zurück geschrieben, sodass die Vergangenheit zur Gegenwart passt oder passend gemacht wird. Wie schon Chiang Kai-shek erlaubt es später Mao Zedong die Herstellung der nationalen Identität, dass Fremde für die Spannungen und die unzureichende Entwicklung verantwortlich gemacht werden. Es waren demnach nicht die Modernisierungsdefizite, die zur Niederlage der Chinesen gegen die westlichen Staaten im 19. Jahrhundert geführt haben, sondern es war der Opiumhandel und später die Kolonialisierung durch die „ungleichen Verträge“, welche die Entfaltung der chinesischen Gesellschaft behindert haben. Diese Form der Freund-Feind-Codierung setzt sich auch in anderen sozialen Systemen fort. Es war die kommunistische Bewegung, welche die Bildung eines Nationalstaates und einer nationalstaatlichen Idee vorantrieb. Sie schuf damit einen Identifikationspunkt, der als Orientierung dient und auch zugleich eine Abgrenzung nach außen darstellt. Der Identifikationspunkt wurde mit Symbolen, Legenden und Mythen beschrieben, wie dem Langen Marsch, der einmaligen Zivilisation und dem Weg zu einem neuen glorreichen Zeitalter. In diesen Kollektivsymbolen sind eine Vielzahl von Auslegungen angelegt, die variiert und akzentuiert werden können. So steht der Lange Marsch unter anderem für die Erreichung des Unmöglichen durch Willen. Er steht auch für viel Leid und Schmerz. Mittels dieser Symbolik und Selbstbeschreibung der kollektiven Identität wird eine Reflexions- und Abstimmungsebene geschaffen, die Orientierung und Kompensation beinhaltet.

Die Selbstbeschreibung des chinesischen Gemeinschaftssystems und damit der kollektiven Identität der Chinesen geht über die nationalstaatlichen Grenzen der Volksrepublik China und Taiwan hinaus und umfasst auch große Populationen von Chinesen in der sogenannten Greater China Region in Südostasien und auch Teile der Exilchinesen in westlichen Gesellschaften. Auffallend daran ist, dass die Chinesen im Exil, auch wenn sie dort über einen geschichtlich langen Zeitraum mehrere Generationen verankert sind, die Gesellschaftsstruktur der chinesischen Gesellschaft akzeptieren. Die Orientierung an sozialen Netzwerken, mit ihren besonderen Kommunikationsmodi, Erwartungserwartungen und Solidaritätsverpflichtungen, geht über die politischen Grenzen des chinesischen Nationalstaates hinaus.

 
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