(f) Lebenslanges Lernen als Reformstrategie des Erziehungs- und Bildungssystems
Für diesen Bedeutungskontext ist charakteristisch, dass die Interviewten sich weder reflexiv noch transitiv auf das lebenslange Lernen beziehen. Die absolute Metapher wird hier in einem bildungspolitischen Zusammenhang betrachtet. Mit ihr wird die Erwartung verbunden, dass durch ihre Funktionalisierung als Leitmotiv, defizitär bewertete Strukturen des Erziehungsund Bildungssystem verändert werden können. Auch hier wird die pragmatische Funktion der absoluten Metapher deutlich: Lebenslanges Lernen erhält die Bedeutung einer Reformstrategie des Erziehungsund Bildungssystems.
E: Hm, ich sage, meine These ist, das lebenslange Lernen kann äh nur ähm als Angebot äh aufgebaut und als äh Struktur bereitgestellt werden, wenn man die äh bisherigen Bildungsbereiche, die Grenzen der bisherigen Bildungsbereiche überwindet und äh eine bildungsbereichsübergreifende, neue Struktur schafft, letzten Endes auch äh neue Institutionen schafft.
(Interview-Nr. 8, Herr Richter, Bildungspolitik, Länderebene, Z. 63-67)
In der in diesem Textbeispiel angeführten Behauptung wird das lebenslange Lernen nicht mehr vorrangig als Lernphänomen, sondern als Strukturphänomen betrachtet. Im Kern scheint es hierbei um die Schaffung neuer Angebotsstrukturen zu gehen, die Lernprozesse in der Lebensspanne ermöglichen. Als Vision werden dabei die Auflösung der bestehenden Bildungsbereiche und die Schaffung neuer Organisationsoder Institutionsformen ventiliert. Diese Funktionalisierung des lebenslangen Lernens kann vor dem Hintergrund gedeutet werden, dass die bildungspolitisch geforderte Ausdehnung des Lernens in der Lebensspanne mit dem Begriff der Lernoder Bildungsbiografie erfasst wird. Die Lernoder Bildungsbiografie wird
„als ein weitgehend berufszentriertes Phasenmodell des Lebensablaufs konstruiert (…) Dieses Phasenmodell tritt an die Stelle eines Ablaufmusters, das von der Abfolge von Bildungsinstitutionen bestimmt ist, und ermöglicht es, den ganzen Lebensverlauf einzubeziehen und jeder Lebensphase spezifische Anforderungen an die Organisation und Praxis des Lernens zuzuordnen“ (Rothe 2011: 259). [1]
Vor diesem Hintergrund ist die in der Beispielpassage skizzierte Forderung einer neuen Bildungsstruktur, die der Verwirklichung der Lernoder Bildungsbiografie dient und nicht durch die Zuständigkeit einzelner Bildungsbereiche, sondern durch die Schaffung neuer Organisationen (z. B. Haus des lebenslangen Lernens in Dreieich, vgl. Nittel 2006) gekennzeichnet ist, nachvollziehbar, auch wenn sich diese Auffassung auf der Ebene einer Vision bewegt.
Die Vertreterinnen und Vertreter, die diese pragmatische Funktion des lebenslangen Lernens vertreten, kommen aus der Interviewgruppe Erwachsenenbildung/Weiterbildung sowie der Bildungspolitik. Die Interviewten aus der Erwachsenenbildung/Weiterbildung arbeiten in ihrem Arbeitsfeld jeweils eng mit der bildungspolitischen Ebene zusammen. Alle Interviewten, die diesen Bedeutungskontext formulieren, thematisieren auf einem eher abstrakten Niveau unter Zuhilfenahme weiterer Metaphern angebliche Probleme des deutschen Bildungssystems [2]. In den jeweiligen Passagen wird metaphorisch von der ,Versäulung des Bildungssystems', der Notwendigkeit des ,Durchbrechens der Bildungssäulen' sowie der ,Schaffung von Durchlässigkeit zwischen den Bildungsbereichen' gesprochen. Die Metaphern werden hier simplifizierend angewendet. Die Akteurinnen und Akteure verwenden sie in Form von im bildungspolitischen Diskurs durchaus gängigen Schlagwörtern, die keiner weiteren Erläuterungen bedürfen. Die hinter den Metaphern steckende Komplexität wird somit auf einen Ausdruck reduziert. In den Argumentationen der Expertinnen und Experten stellt das lebenslange Lernen als Reformstrategie die Lösung der lediglich angedeuteten Probleme dar.
- [1] Rothe (2011) vollzieht ihre Diskursanalyse auf der Basis von bildungspolitischen Dokumenten in der Zeitspanne von 1996 bis 2004. Sie unterteilt den Datenkorpus in drei Phasen: bildungspolitische Dokumente der Phase 1 von 1996 bis 2001, der Phase 2 von 2001 bis 2002 und Phase 3 von 2003 bis 2004. Das Zitat bezieht sich auf die Analyse von Dokumenten der dritten Phase
- [2] Im erziehungswissenschaftlichen Diskurs existieren bzgl. der Perspektive, lebenslanges Lernen als Reformstrategie für Strukturprobleme des Bildungswesens zu betrachten, durchaus andere Sichtweisen. Beispielsweise konstatiert Rothe (2011): „Kennzeichnend für die Diskussion Lebenslanges Lernen auf internationaler und besonders deutlich auf europäischer Ebene ist der Versuch, gesellschaftliche Probleme als Bildungsoder Lernprobleme zu reformulieren (…) Das heißt, die diskursive Formation Lebenslanges Lernen reagiert nicht auf Probleme des Bil dungswesens, wie es etwa bei der Diskussion im Anschluss an die PISA-Ergebnisse mindestens teilweise der Fall ist, sondern auf andere gesellschaftliche Probleme, die zunächst in Lernund Bildungsprobleme übersetzt werden“ (Rothe 2011: 397).