Formelle und informelle Vernetzung
Die sozialen Netzwerke in der chinesischen Gesellschaft sind ein Ordnungsprinzip, das sich auch dadurch auszeichnet, dass es formale Organisationen verbindet. Insofern besteht innerhalb der Funktionssysteme ein Aufbau, der sich nicht nur auf die formalen Organisationen und ihre Bildung zurückführen lässt, sondern mit der Integration über soziale Netzwerke findet ein Kommunikationsfluss zwischen Organisationen statt. Dadurch entsteht eine intensive Verflechtung. Diese Verflechtung endet auch nicht an den Grenzen des Funktionssystems, sondern die sozialen Netzwerke verbinden auch die Funktionssysteme miteinander. Diese Netzwerkverbindungen werden in der Kommunikation vorausgesetzt, das heißt, die Leistungsfähigkeit einer Organisation bestimmt sich nicht aus den eigenen Ressourcen, sondern über die Art der Anschlussgestaltung und Anschlusserhaltung über Netzwerke. Auf diese Weise versorgen sich formale Organisationen auch mit Innovationspotenzial und erhöhen die Sensibilität gegenüber Veränderungen. [1]
Gerade an der Schnittstelle zwischen formellen Organisationen und informellen sozialen Netzwerken wird die besondere Charakteristik der sozialen Netzwerke in der chinesischen Gesellschaft deutlich. [2] Sie schaffen eine Interpenetrationszone, in der eine Kopplung zwischen unterschiedlichen Funktionsbereichen und Kommunikationsmedien erfolgt. Sie stellen symbiotische Beziehungen der sozialen Netzwerke mit der Interessenverfolgung ihrer Mitglieder her und führen zu einem besonderen Aufbau. Mit dieser Interpenetration findet indirekt ein Medienaustausch statt. In den modernen Gesellschaften lassen sich die etablierten Medien nicht mehr verlustfrei zurückfahren, d. h. wir können nicht mehr von einer Geldwirtschaft in eine Tauschwirtschaft zurückkehren. Daher sind diese Kopplungen in den Interpenetrationszonen von besonderem Interesse, da sie uns mehr über den Strukturaufbau und die Zusammenhänge in der Gesellschaft verraten. Über die Grenzen der formalen Organisationen des politischen Systems hinweg gestalten sich der strukturelle Aufbau der Funktionssysteme und die Verbindung durch soziale Netzwerke, die über die Solidaritätsformen eine Einflussgestaltung ermöglichen und durch einen dynamischen Aufbau die Funktionssysteme mit Informationen aus unterschiedlichen Bereichen versorgen. An dieser Stelle ist oft das Thema der Korruption untersucht worden, die von der Netzwerkgestaltung schwer zu trennen ist, da die Bindung von sozialen Netzwerken über wechselseitige Gefälligkeiten und Schuldversprechen erhalten werden, d. h. das Erweisen von Gefälligkeiten und die Gratifikation über Geld sind zum Beispiel allgemeine Mitgliedschaftsbedingungen in der chinesischen Gesellschaft. So werden zu speziellen Anlässen wie Feiertagen, Urlaub oder Jubiläen auch immer die Kollegen im Netzwerk mit bedacht.
Die informellen Prozesse der sozialen Netzwerke in der chinesischen Gesellschaft existieren nicht durch die Funktionssysteme, sondern verweben diese miteinander, sodass ein Geflecht zwischen dem politischen System, dem Wirtschafts-, Rechts- und Wissenschaftssystem entsteht, in dem Informationen, Gefälligkeiten, Unterstützungen und andere Ressourcen fließen. Das heißt nicht, dass die Funktionssysteme nicht nach dem Mediencode (Macht, Geld, Recht, Argumente) aufgebaut sind und in ihrem Strukturbildungsprozess diesem Aufbau unterliegen, sondern, darauf ist besonders hinzuweisen, durch die Kopplung in den Interpenetrationszonen erfolgt ein wechselseitiger Aufbau, der zu bestimmten Zielen und Folgeproblemen in der modernen chinesischen Gesellschaft führt. Diese Prozessstruktur lässt sich nicht durch intentionale Steuerung seitens eines der Funktionssysteme abändern. Es ist weder durch Sanktionspolitik hinsichtlich der Machtausübung von Institutionen des politischen Systems noch durch einen transparenten Anreiz der Märkte oder gar durch eine weitere Verrechtlichung zu erwirken. Das betrifft auch die politischen und wirtschaftlichen Antikorruptionskampagnen, die folglich wenig erfolgversprechend sind. Die informellen sozialen Netzwerke verbinden den Problembezug, die Kommunikationsmedien, den Strukturaufbau und die Informationsselektion derart miteinander, dass sie sich öffnen und einen Zugang ermöglichen. Mit der Privatisierung der staatseigenen Betriebe findet eine Überführung der Eliten vom öffentlichen zum privaten Sektor statt, die sich dann dem Problem des Austausches, dem Markt und damit der Gestaltung seiner Einflussgrößen und dem Eigentum – den Stakeholdern als soziale Einflussgeber – stellen. Der Zugang zu Geld als Investitionsmittel zur weiteren Restrukturierung ist nicht mehr nur vom Markt, sondern auch von der Freigabe über die staatlichen Behörden und dem politischen System abhängig. Die Verbindung zwischen dem politischen und dem Wirtschaftssystem endet nicht mit der Privatisierung, sondern sie bleibt bei der weiteren Ausdifferenzierung der Funktionssysteme bestehen, da eine wechselseitige Notwendigkeit einer Verbindung zwischen ihnen besteht.
An vielen Stellen werden die Guanxi-Netzwerke im Zusammenhang mit Korruption und Vetternwirtschaft dargestellt oder als Anschlussbarriere für die Aufnahme von Geschäftsbeziehungen ausländischer Unternehmen in China. [3] Eine normative Einordnung dieser Zusammenhänge mag aus bestimmten Perspektiven gerechtfertigt sein, aber sie verdeckt die Hintergründe der Sozialkonstruktion der chinesischen Gesellschaft. Aus diesem Grund sind die Fragen anders zu stellen: Welche Auswirkungen haben soziale Netzwerke für die Ordnung der Gesellschaft bzw. der Funktionssysteme und ihrer Subsysteme? Diese Frage zielt dahin zu erkunden, welche Funktion sie für die Teilsysteme bereitstellen und welche Rolle sie für die soziale Integration spielen, da sie so nicht in westlichen Gesellschaften vorkommen.
- [1] Luo, Yadong. „Guanxi as Inter-Organizational Network,“ in Guanxi and Business. Singapur: World Scientific, 20072, 105–9.
- [2] Keister, Lisa. „Guanxi in Business Groups: Social Ties and Formation of Economic Relations,“ in Thomas Gold, Doug Guthrie und David Wank (Hrsg.). Social Connections in China. Institutions, Culture, and the Changing Nature of Guanxi. Cambridge (UK): Cambridge UP 2002, 77–96.
- [3] Heilmann, Sebastian. „4.5 Korruption, ‚Kaderkapitalismus' und das politisch-ökonomische Schattensystem,“ in Das politische System der Volksrepublik China. Wiesbaden 2004, 179–88.