Kontextgebundene Definitionsversuche im Umgang mit der absoluten Metapher ,lebenslanges Lernen'

Nachdem in Kapitel 7 die Kernkategorie ,lebenslanges Lernen – eine absolute Metapher' mit ihrer empirischen Dimensionalisierung vorgestellt wurde, erfolgt in diesem Kapitel nun die Darlegung der bereichsspezifischen Theorie ,Kontextspezifischer Umgang mit der absoluten Metapher lebenslanges Lernen' (vgl. zur Thematik ,Bereichsbezogene versus formale Theorie' Strauss & Corbin 1996: 145-147), indem das zugrundeliegende Handlungsproblem erläutert und unter Anwendung der Bedingungsmatrix (vgl. Strauss & Corbin 1996: 132-147) der jeweilige Umgang mit dem Handlungsproblem beschrieben wird. Mittels der generierten Bedingungspfade kann offengelegt werden, welche Bedingungen zu welchem Umgang mit der absoluten Metapher ,lebenslanges Lernen' führen und welche Konsequenzen daraus resultieren (vgl. Kapitel 3.2).

Das Datenmaterial zeigt auf, dass die im bildungspolitischen Diskurs geforderte bildungsbereichsübergreifende Umsetzung des lebenslangen Lernens (vgl. BLK 2004; BMBF 2008) und daraus möglicherweise hervorgehende Institutionalisierungsformen, wie z. B. Kooperationen zwischen Einrichtungen verschiedener Bildungsbereiche, bei den interviewten Expertengruppen von unterschiedlicher handlungspraktischer Relevanz ist. Während die Vertreterinnen und Vertreter aus der Erwachsenenbildung (Praxis und Wissenschaft) sowie dem Elementarbereich (Praxis und Wissenschaft) und der bildungspolitischen Ebene mit dieser Forderung und dem diesbezüglichen Sprachgebrauch vertraut sind, existieren vonseiten der Akteurinnen und Akteure der beruflichen Bildung (Praxis) sowie des Sekundarbereichs (Praxis und Wissenschaft) Verständnisprobleme.

Mögliche Ursachen für einen eher vertrauten Umgang mit der bildungspolitischen Programmatik und Rhetorik bei den interviewten Akteurinnen und Akteuren aus der Erwachsenenbildung können u. a. in der Geschichte der deutschen Erwachsenenbildung begründet liegen. Im Zuge der Bildungsreform in den 1960er und 1970er Jahren wurde die Erwachsenenbildung, mit der Volkshochschule als institutionellen Kern, zu einem Teil des öffentlichen Bildungswesens. Einen entscheidenden Beitrag für eine stärkere gesellschaftliche Anerkennung der Erwachsenenbildung und einer damit einhergehenden zunehmenden Institutionalisierung wird der internationale Diskussion um das lebenslange Lernen in den 1970er Jahren beigemessen (vgl. Kade, Nittel & Seitter 2007: 55-59). [1] Ferner gehört die öffentliche Erwachsenenbildung mit zu dem Adressatenkreis verschiedener bildungspolitischer Förderprogramme der letzten zwölf Jahre (z. B. „Lernende Regionen – Förderung von Netzwerken“ sowie „Lernen vor Ort“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, „Lebenslanges Lernen“ der Bund-Länder-Kommission oder „Hessencampus“ des Landes Hessen), wodurch die entsprechende Programmatik und Rhetorik des lebenslangen Lernens Einzug in das Handlungsfeld der öffentlichen Erwachsenenbildung und damit auch in die routinisierten Modi der Verständigung der pädagogisch Tätigen gehalten hat. Das Wissen um eine bildungsbereichsübergreifende Institutionalisierung lebenslangen Lernens bei den Interviewten im Elementarbereich erklärt sich möglicherweise durch eine in den vergangenen zehn Jahren angestrebte Intensivierung der bildungsbereichsübergreifenden Kooperation zwischen Kindergärten/Kindertagesstätten und Grundschulen infolge der Entwicklung neuer Bildungsund Erziehungspläne.

Die beiden Interviewten aus der beruflichen Weiterbildung vertreten in ihren Argumentationen sehr stark die betriebliche Weiterbildung. Beide Personen versuchen zwar die Frage zu beantworten, wie eine bildungsbereichsübergreifende Umsetzung lebenslangen Lernens aus der Sicht der betrieblichen Weiterbildung aussehen könnte. Es gelingt ihnen jedoch nicht, einen Bezug zu weiteren Bildungsbereichen herzustellen. Während die eine Informantin auf das erwerbstätige lernende Individuum abzielt und dabei auf eine lebenslange Anpassung von Fachkompetenzen rekurriert, reduziert der zweite Interviewpartner die bildungsbereichsübergreifende Umsetzung des lebenslangen Lernens auf eine Segmentierung der betrieblichen Bildung unter ökonomischen Gesichtspunkten (vgl. Kapitel 8.3).

Interessant ist, dass alle Vertreter/-innen des Sekundarbereichs, also sowohl die Praktikerinnen als auch die Wissenschaftler, von sich aus behaupten, nicht zu wissen, was eine bildungsbereichsübergreifende Umsetzung des lebenslangen Lernens bedeutet. Während sich die Akteurinnen und Akteure aus den anderen Interviewgruppen (Elementarbereich, Erwachsenenbildung/Weiterbildung, Bildungspolitik) zu dieser Frage positionieren können, scheint dieses Thema bei der Interviewgruppe des Sekundarbereichs keine handlungspraktische Relevanz für die berufliche Tätigkeit zu haben bzw. die eigene berufliche Praxis wurde bisher kaum vor dem Hintergrund der bildungspolitischen Programmatik des lebenslangen Lernens reflektiert. Erst durch Hilfestellung der Interviewerin wird die Interviewsituation genutzt, um die Bedeutung einer bildungsbereichsübergreifenden Umsetzung lebenslangen Lernens für das eigene Handlungsfeld zu reflektieren.

Trotz der unterschiedlichen handlungspraktischen Relevanz unternehmen die Informantinnen und Informanten Versuche, eine bildungsbereichsübergreifende Umsetzung lebenslangen Lernens für das eigene berufliche Handlungsfeld zu definieren. Dabei zeichnet sich in der Interviewsituation ein den Akteurinnen und Akteuren nicht unbedingt bewusstes Problem ab: Die bisherigen Analyseergebnisse zeigen auf, dass es sich bei dem Konstrukt ,lebenslanges Lernen' um eine absolute Metapher mit heterogenen Bedeutungskontexten handelt (vgl. Kapitel 7.5). Unter der Bedingung, dass lebenslanges Lernen eine absolute Metapher ist, sollen sich die Interviewten nun dazu äußern, wie eine bildungsbereichsübergreifende Umsetzung des lebenslangen Lernens für ihr Handlungsfeld aussehen könnte. Die Informantinnen und Informanten reagieren darauf, indem sie kontextgebundene Definitionsversuche entwickeln (vgl. Abb. 10, S. 182).

Abbildung 10: Kontextgebundene Definitionsversuche als Handlungsstrategie im Umgang mit der absoluten Metapher ,lebenslanges Lernen'

In den folgenden Teilkapiteln werden die inhaltlichen Ausrichtungen der Definitionsversuche näher beleuchtet, indem jeweils zunächst (1) das entsprechende Phänomen vorgestellt und weiter erörtert wird, um anschließend – gemäß der Anwendung der Bedingungsmatrix bei der Generierung einer Grounded Theory (vgl. Strauss & Corbin 1996: 132-147; Kapitel 3.2 der vorliegenden Arbeit) – (2) die Bedingungen, welche die jeweilige inhaltliche Ausrichtung beeinflussen, vorzustellen und abschließend (3) die diskursiven Praktiken der Diskurs(re)produktion als Konsequenzen der jeweiligen inhaltlichen Ausrichtung darzulegen.

Die Bedingungen, die zu den drei Definitionsversuchen führen, sind in der Bedingungsmatrix auf der organisatorischen und institutionellen Ebene, auf der Ebene von Kollektiv, Gruppe und Individuum sowie auf der Ebene der Interaktion angesiedelt. Abbildung 11 stellt dar, welche Bedingungen, auf welcher Ebene die Formulierung der kontextabhängigen Definitionsversuche beeinflussen:

Abbildung 11: Bedingungsmatrix der kontextgebundenen Definitionsversuche zur bildungsbereichsübergreifenden Institutionalisierung lebenslangen Lernens

Unter dem Begriff ,Sprecherposition' werden in der wissenssoziologischen Diskursforschung „Positionen in institutionellen bzw. organisatorischen Settings und daran geknüpfte Rollenkomplexe [verstanden, C.D.]. Soziale Akteure sind dann Rollenspieler, die solche Positionen einnehmen“ (Keller 2005: 212, Hervorhebungen im Original). Die Akteurinnen und Akteure wurden als Bildungsexpertinnen und -experten für ihren Zuständigkeitsbereich, in welchem sie langjährig tätig sind, angesprochen (siehe Überblick Datensample in Abb. 6), um ihr Erfahrungswissen zum lebenslangen Lernen und zu dessen bildungsbereichsübergreifender Umsetzung im jeweiligen Handlungsfeld darzulegen. Sie sollten sich also zu einem bestimmten Thema äußern, das sich im Rahmen des Auswertungsprozesses als absolute Metapher mit heterogenen Bedeutungskontexten (vgl. Kapitel 7.5.4) herausgestellt hat. Die Anwendung des Status der Expertin/des Experten im Kontext des Themas ,lebenslanges Lernen', d. h. von Expertinnen und Experten des lebenslangen Lernens zu sprechen, ist vor dem Hintergrund, dass das Konstrukt ,lebenslanges Lernen' eine absolute Metapher darstellt, nicht haltbar. Während in den Einzelfallanalysen – also im Prozess der Theorieentwicklung – noch generell von Expertenstatus und Expertenrolle die Rede gewesen ist, wird diese Unterscheidung in der entstandenen Theorie entsprechend modifiziert, indem mit dem Erkenntnisprozess angemessenen Begriffen ,Sprecherposition' und ,Sprecherrolle' operiert wird. Die Bildungsexpertinnen und -experten nehmen somit eine Sprecherposition im Diskurs über das lebenslange Lernen ein. Diese kann selbstinitiiert und extern anerkannt, von der jeweiligen (Bildungs-)Organisation auferlegt oder vonseiten der Forscherin auf der Basis von Recherchetätigkeiten zugeschrieben sein. Ist die Sprecherposition selbstinitiiert und extern anerkannt, handelt es sich um Akteurinnen und Akteure, die im wissenschaftlichen und bildungspolitischen Diskurs bekannt sind. D. h., dass sie z. B. zum Thema ,lebenslanges Lernen' publizieren, aufgrund ihres fachlichen Engagements im Bereich des lebenslangen Lernens in der Fachöffentlichkeit anerkannt sind und als Referentinnen und Referenten für Fachveranstaltungen angefragt werden. Ist die Sprecherposition von der jeweiligen (Bildungs-) Organisation auferlegt, bedeutet dies, dass die Organisation, in der die Informantin oder der Informant beruflich tätig ist, die Sprecherposition dem Zuständigkeitsbereich der betreffenden Person zuweist, die sich dann in das Thema einarbeiten muss. Die Zuschreibung der Sprecherposition vonseiten der Forscherin erfolgte auf Basis von Empfehlungen und Recherchen über Internetauftritte von Bildungseinrichtungen, die Konzepte im Bereich des lebenslangen Lernens umsetzen. Kontaktiert wurden dann die zuständigen Ansprechpartner/-innen.

Die Sprecherrolle beinhaltet die individuelle Ausübung der Sprecherposition durch das kommunikative Handeln der Akteurin/des Akteurs in der Interviewsituation. Mit dem soeben dargestellten Fokuswechsel von der Einzelfallanalyse zur Theoriegenerierung wird einerseits der wissenssoziologischen Diskursanalyse als Forschungsperspektive Rechnung getragen, indem die Begriffe ,Sprecherposition' und ,Sprecherrolle' zur Anwendung kommen. Andererseits wird der Status der Interviewten als Bildungsexpertinnen und -experten durch die Übernahme der Sprecherposition im Diskurs über das lebenslange Lernen und die Ausübung der Sprecherrolle nicht eingeschränkt.

Im Zuge der komparativen Analyse wird ferner deutlich, dass sich eine bestimmte kontextuelle Bedingung auf der Ebene des Individuums für die Ausdifferenzierung des jeweiligen Definitionsversuchs verantwortlich zeigt. Es handelt sich dabei um die in Kapitel 7.5.4 vorgestellten Bedeutungskontexte des lebenslangen Lernens. Drei der dort angeführten Bedeutungskontexte führen zu den drei Definitionsversuchen. Die Konstituierung der Sprecherposition (selbstinitiiert und extern anerkannt, von der jeweiligen (Bildungs-)Organisation auferlegt oder vonseiten der Forscherin zugeschrieben) beeinflusst die Sprecherrolle und die Interaktion in der Interviewsituation.

Als Konsequenzen aus den Definitionsversuchen werden diskursive Praktiken der Diskurs(re)produktion angewendet, die sich in der Formulierung von diversen Voraussetzungen zur Realisierung einer bildungsbereichsübergreifenden Institutionalisierung lebenslangen Lernens äußern. Es handelt sich hierbei ebenfalls um einen Begriff aus der wissenssoziologischen Diskursforschung:

Diskursive Praktiken sind beobachtbare und beschreibbare typische Handlungsweisen der Kommunikation, deren Ausführung als konkrete Handlung – ähnlich wie im Verhältnis zwischen typisierbarer Aussage und konkret-singulärer Äußerung – der interpretativen Kompetenz sozialer Akteure bedarf und von letzteren aktiv gestaltet wird.“ (Keller 2005: 223, Hervorhebungen im Original)

Folgende diskursive Praktiken lassen sich als Konsequenzen aus den kontextgebundenen Definitionsversuchen rekonstruieren:

Abbildung 12: Diskursive Praktiken der Diskurs(re)produktion als Konsequenzen aus den kontextgebundenen Definitionsversuchen

  • [1] Kade, Nittel und Seitter (2007) konstatieren: „Beide supranationalen Vereinigungen [UNESCO und OECD, C.D.] forcierten – abgestützt durch eigene Forschungsarbeiten und intensiven internationalen Austausch – in je unterschiedlicher Akzentuierung grundlegende erwachsenenbildnerische Konzepte wie lifelong learning oder recurrent education und plädierten in bildungsökonomischer (Humankapital-Konzept), demokratietheoretischer (Recht auf Bildung, Grundbildung für alle) und lernpsychologischer (Lernfähigkeit im Erwachsenenalter) Hinsicht für eine stärkere gesellschaftspolitische Aufwertung der Erwachsenenbildung“ (Kade, Nittel & Seitter 2007: 59, Hervorhebungen im Original).
 
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