Herausforderungen der chinesischen Gesellschaft

Die chinesische Gesellschaft als eine Mitgliedschaftsordnung verändert sich nicht zu einem chinesischen Modell der westlichen Gesellschaft. Das trifft auch dann zu, wenn zum Beispiel von Seiten des politischen Systems und des Wirtschaftssystems anderslautende Einschätzungen geäußert werden. Diese Äußerungen dienen der Außendarstellung und übernehmen eine andere Funktion.

Die Aufrechterhaltung der rückwärtsgewandten Orientierung an der Vergangenheit und damit die Verlängerung der Tradition in die Gegenwart wird im Zuge der Veränderungen der Modernisierung in China zu einem Abstimmungsproblem führen. Eine Vielzahl von Nischen, Organisationsformen, neuen Lebens- und Karriereentwürfen werden sich in ihrer Gesamtheit nicht mehr auf die gleiche Tradition zurückführen lassen. Es ist daher zu erwarten, dass kurzfristige und kontextbezogene Zeitorientierungen vorgenommen werden. Das chinesische Reich der Mitte wird in seiner Selbstbeschreibung den großen Bogen zurück zu einer mehrtausendjährigen Geschichte schlagen, aber die gegenwärtige chinesische Gesellschaft hat bereits keine Vergleichspunkte mehr zur Mao-Zeit. Das braucht eine Idealisierung Maos nicht auszuschließen, da er in die Tradition der Erneuerer gestellt werden kann, denen eine dem chinesischen Kaiser ähnliche Kultrolle zugeschrieben wird, und er ein Symbol für die Stärke des Kollektivs ist. Insofern kann Mao in die Ahnenreihe der Personifizierung der chinesischen Zivilisation eingereiht. Sein Bild wird in der chinesischen Popkultur vermarktet, aber er ist nicht mehr der kommunistische chinesische Kaiser, der das Ritual der Kommunikation mit der Überwelt der kommunistischen Utopie zelebriert. Die für einmalig gehaltene chinesische Zivilisation hat an der hybridisierten Weltkultur der globalisierten Weltgesellschaft teil, ohne dass sie sich das einzugestehen bereit ist.

Die kollektiven Traumata der chinesischen Geschichte werden die Legendenbildung der großen Metaerzählungen der chinesischen Kultur und der kollektiven Identität der Chinesen weiter begünstigen. Sie dienen als Orientierung im Sinne einer Abgrenzung nach außen, der Überzeugung, dass Ordnung dem Chaos und eingebundene Autonomie der Fremdbestimmung vorzuziehen sind. Die Einsicht dahinter wird gesellschaftlich weitgehend geteilt. Aus ihr folgt, dass dem Gruppen- und Kollektivinteresse ein Vorrang einzuräumen ist und nicht mit der individuellen Handlungsausgestaltung im Widerspruch steht.

Die kollektive Identität der Gesellschaftsmitglieder dient mit ihrer Selbstbeschreibung der Kompensation von Konflikten und inneren Spannungen. Sie ist somit ein Fluchtpunkt auch im Hinblick auf die sozialen Netzwerke, die über eine Zuordnung und Abgrenzung eine Stabilität erreichen. Für die kollektive Identität der chinesischen Gesellschaft hat das Zusammenspiel von sozialen Netzwerken, sachlicher Problemlösung und der zeitlichen Orientierung zur Folge, dass sie sich an Symbolen der Identität in der Vergangenheit orientiert. Der erste Huang-Kaiser, das unsterbliche Reich und die ewige Gültigkeit der Weisheit von Konfuzius sind der Ausdruck dieser Symbole. Gleichzeitig handelt es sich dabei auch um mediale Konstruktionen, die auf unterschiedliche Situationen angepasst werden. Dabei fällt auf, dass die symbolischen Orientierungen in Zukunft von unterschiedlichen sozialen Gruppen und in unterschiedlichen Kontexten zu beanspruchen sind, um als eine Selbstbeschreibung erfolgreich zu sein. Ein Beispiel dafür ist das Symbol von Mao, der für eine Gruppe als Hersteller der nationalen Einheit und Identität gilt, für eine andere Gruppe als Personifikation eines Erfolgsprozesses, der über schwierige Situationen hinweg erreicht wurde. Insofern wird eine Konkurrenz über die Auslegung der Symbole und deren Authentizität diskutiert werden. Das muss aber nicht konfliktreich erfolgen, sondern kann zu der Akzeptanz von parallelen Wahrheiten führen. Die Herausforderung wird somit darin bestehen, dass die kollektiven Identitäten der unterschiedlichen sozialen Gruppen durch Symbole und Mythen beschrieben werden, die zugleich eine besondere Auslegung zulassen und bestärken, aber eine Klammer für die nationalstaatliche Selbstidentifikation bleiben.

 
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