Folgerung: Instabile soziale Integration
Mit der Modernisierung der chinesischen Gesellschaft ist eine Gesamtsituation eingetreten, die weder Vergleichspunkte in der chinesischen Vergangenheit hat noch übertragbare Problemlösungen bereitstellt. Ohne auf eine Utopie zurückzugreifen, kann die Lösung für die kollektive Selbstbeschreibung nur darin bestehen, dass die Vergangenheit abstrakt und symbolisch beschrieben wird. Sie verliert damit aber auch ihre Orientierung in sich fortlaufend verändernden Situationen, sei es in der Politik, der Wirtschaft oder der Wissenschaft. Insofern stellt sich auch ein Kreativitätsproblem. Der Fluchtpunkt ist in dieser Situation die Erzählung des Mythos der Einmaligkeit der chinesischen Kultur, die bei zunehmenden Fremdeinflüssen noch mehr verklärt wird. Die Verklärung erlaubt eine Abgehobenheit von den Alltagsproblemen. Sie greift insofern nicht direkt in die auch konfliktreiche Gestaltung der auf China zukommenden, zum Beispiel wirtschaftlichen und ökologischen Probleme ein. Sie ist aber immer wieder situativ inszenierbar.
Die damit einhergehenden Veränderungen führen zu der Frage, wie sich in der chinesischen Gesellschaft im Fortgang die Solidargemeinschaften gestalten. Aus der geschichtlichen Perspektive wurde bis zum Ende der Mandschu-Dynastie ein Umbau der Gesellschaft vermieden, da sie die etablierte Statusordnung gefährdet hätte. Durch die nationalistischen sozialen Bewegungen der Guomindang und der Kommunistischen Partei wurden die traditionale Statusordnung und Schichtung aufgelöst. Auch die nationalistische Guomindang Chiang Kai-sheks war antitraditionalistisch. Sie wendete sich gegen die Traditionsordnung des alten Chinas. Er sympathisierte mit dem deutschen Modernisierungsmodell und Nationalstaat nach der Reichgründung 1871. An die Stelle der traditionellen Statusordnung trat nach 1949 die Kaderordnung der Kommunistischen Partei. Sie wurde in der Kulturrevolution wiederum umgestaltet. Durch die Modernisierung seit den 1990er Jahren sind neue soziale Trägerschichten entstanden, die Zugang zu wirtschaftlichen Ressourcen durch ausländische Investoren hatten und die politisch abgesichert waren. In China gibt es keine institutionalisierte Solidargemeinschaft in der Form des Sozialstaates. Die solidarische Hilfe wird über Netzwerke erbracht und geregelt.
Die Bindung zwischen den Mitgliedern der sozialen Gruppen erfolgt in der chinesischen Gesellschaft durch ihre Orientierung am wirtschaftlichen Erfolg. Er legt die Statusordnung fest. Darin ist die Anpassungsfähigkeit begründet und die Notwendigkeit, kommunikative Anschlüsse an die erfolgreichen Mitglieder der Netzwerke zu suchen und zu halten. Das heißt aber, dass bei Veränderungen auch Mitglieder aus der Solidargemeinschaft des Netzwerks zu marginalisieren und auszuschließen sind, wenn sie keinen Erfolg mehr haben oder höhere Kosten verursachen. Insofern ist damit zu rechnen, dass Teile der Netzwerkmitglieder, die dem fortwährenden Anpassungsdruck nicht standhalten und verschlissen sind, ebenso ausscheiden werden wie die zukünftigen Modernisierungsverlierer. Die Folge davon ist, dass der Anstieg für die Mitgliedschaftsanforderungen in den Netzwerken höher wird und sich die Teilnahmebedingungen an sie verändern. Davon sind auch die Solidarbeziehungen betroffen. Die Bekanntschaften, die Familien, die Kollegen und die Freunde als Kern der Netzwerke werden sich bei ihrer Umstrukturierung und einer Neugestaltung nicht durchsetzen können, da sie die Aufwendungen für den solidarischen Ausgleich nicht erbringen können. Außerdem sind die daraus entstehenden Veränderungen zu verarbeiten und neue Lösungen dafür zu finden, wie die solidarische Kompensation außerhalb der bisherigen Netzwerke zu gestalten ist. Es sind neue Grenzziehungen und Ausschlüsse vorzunehmen, die dann auch zu einer Veränderung in den Mitgliedschaftsrollen führen, wie zum Beispiel die Rolle des Freundes, des Ehemanns, der Ehefrau, des Onkels und der Kollegen. Diese neuen gewonnenen Spielräume führen auch zu Entlastungen und zu anderen Handlungsspielräumen, da die Anschlussgestaltung für die eigene Karriere ausgewählter zu planen ist. Die Karrieren integrieren sich aber nicht in die gesellschaftliche Kommunikation. Sie können zudem nach oben oder nach unten führen. Die eigene Wohlstandsversorgung wird stärker in den Fokus der eigenen Interessen rücken und die Rückbindung in die alten Netzwerke wird abnehmen.
Die neue chinesische Gesellschaft, so paradox die Bezeichnung selbst klingt, folgt keiner utopistischen Vision, wie sie in dem maoistischen Modernisierungsprogramm vorlag. Daher ist die Beziehung zwischen chinesischer Tradition und Modernisierung kritikanfällig. Sie stellt aber zugleich auch eine sinnvolle Unterscheidung dar, mit dem Ziel, einen besonderen Akzent auf das Ergebnis der Veränderung zu setzen. Sie wird aus der bestehenden Gesellschaft hervorgehen und die Bestandteile der traditionellen Überlieferung und bewährten Problemlösungen auf die Gesellschaftspolitik übertragen. Der Modernisierungswandel wird darauf hinauslaufen, dass die Ausweitung von Modernisierungsgewinnern, aber auch Modernisierungsverlierern ansteigen wird. Das mag aber kein weiteres Problem sein, denn entgegen der politischen Rhetorik, die den Aufbau einer „harmonischen Gesellschaft“ als Ziel vorgibt, obliegen ihm weder die Steuerungsmöglichkeiten zu einer solchen Umsetzung noch steht das Ziel in einem kollektiven Interesse. [1] Die Anzahl und die Ausmaße von Konflikten und Aufständen werden demgegenüber nicht in Verbindung stehen, da sie regionale Veränderungen und keine Umgestaltung zu universalen Inklusionsräumen fordern werden.
- [1] Wie sie beispielsweise in The World Bank and the Development Research Center of the State Council. China 2030. Building a Modern, Harmonious, and Creative Society. Washington DC: The World Bank, 2013 aufgeführt werden.