Nachwort von Gerhard Preyer: Soziologie der Mitgliedschaft – Neufassung der Theorie der sozialen Integration
Die Inklusion ist zum Problem geworden. Verkannt wird nur, dass sie es immer gewesen und dass noch nie jeder Mensch nur als Mensch Mitglied einer Gesellschaft gewesen war. [1]
Theoretische Ausgangssituation
(a) Bezugsrahmen
Die Neufassung der Theorie der sozialen Integration gehört zu den Forschungsschwerpunkten der ProtoSociolgy seit der Mitte der 1990er Jahre. Die Theorie der sozialen Integration ist seit E. Durkheim, den wir als einen Begründer des Fachs Soziologie einstufen, ein relevanter Schwerpunkt des Fachs Soziologie. Um dabei die Weichen richtig zu stellen, ist davon auszugehen, dass die Theorie der sozialen Integration theorieabhängig, aber nicht interessenabhängig ist. Die Theorieabhängigkeit betrifft den analytischen Bezugsrahmen der Soziologie. Die Analyse dieses Bezugsrahmens kann auch als Problem der Sozialontologie behandelt werden. Die Mitgliedschaftstheorie und Mitgliedschaftssoziologie nimmt einen besonderen Anschnitt vor, der zu skizzieren ist, da soziale Integration als eine Differenzierung von Mitgliedschaftsordnungen eine bestimmte allgemeine Theorie voraussetzt. Unter „Ordnungen“ sind dabei die Regelung der Mitgliedschaftsbedingung und damit die Teilnahme an Kommunikationssystemen in der Ausübung von bestimmten Rollen und Statuspositionen zu verstehen.
Die Mitgliedschaftstheorie fasst die System-Umwelt Relation nicht als sinnkonstituiert (Niklas Luhmann), sondern als die selbstreferenzielle Entscheidung über Mitgliedschaftsbedingungen und ihre Selektion, die keine Resonanz in der nichtsozialen Umwelt hat. Der Verweisungszusammenhang von Sinn, wenn wir das einmal unterstellen. ist in diese Differenzstruktur einzuordnen. Gehen wir von der mitgliedschaftstheoretischen Selbstkonstitution sozialer Systeme aus, so sind soziale Systeme souverän. Damit geht einher, dass die soziologische Theorie die folgenden Annahmen aufgeben sollte:
(1) Jede Gesellschaft benötigt nicht kontingente Grundlagen, zum Beispiel Konsens, unveränderliche Werte, höchste Prinzipien und eine universelle Moral.
(2) Die gesellschaftliche Kommunikation (a) ist perfektionierbar, das heißt Realität ist zu einem ens perfectissimum steigerbar, (b) sie beruht auf einem akzeptierten Normenkonsens als Hintergrund, den alle Gesellschaftsmitglieder und Kommunikationsteilnehmer teilen.
(3) Die sprachliche Kommunikation ist auf Verständigung angelegt.
(4) Das Nomische ist von dem Annomischen zu unterscheiden.
Für die Mitgliedschaftstheorie folgt aus der Aufgabe dieser Annahmen:
(1) Die Mitgliedschaftsdifferenzierung in sozialen Systemen und ihre systemtypische Integration ist dahingehend kontingent, da jede Mitgliedschaft in einem sozialen System auf einem Ausschluss, somit auf der Unterscheidung von Mitglied und Nichtmitglied beruht. Das gilt unabhängig davon, wie die andere Seite beziehungsweise der Ausschluss gekennzeichnet ist. Die überlieferten Beschreibungen von nichtkontingenten Grundlagen bedürfen einer wissenssoziologischen Reinterpretation.
(2) Die gesellschaftliche Kommunikation ist immer die Kommunikation von Mitgliedern sozialer Systeme. Sie erfordert Einschränkungen, die nicht zu kompensieren sind, zum Beispiel entscheiden formale Organisationen darüber, wie lange ein beliebiges gesellschaftliches Mitglied lernen darf. Ein Konsens kann die Differenzierung der Mitgliedschaft in und zwischen sozialen Systemen nicht regeln. Insofern ist er partikular und nicht universalistisch. [2]
(3) Wir haben zwischen Verstehen von sprachlichen und nichtsprachlichen Kommunikationen und der systemtypischen Verständigung zu unterscheiden. Die sprachliche Kommunikation der illokutiv und propositional gegliederten Sprechakte kann die gesellschaftliche Kommunikation gerade nicht integrieren, da wir zum Beispiel auch eine Interesse daran haben können uns zu streiten und Differenzen sowie Unterschiede direkt oder indirekt zu kommunizieren. Das schließt sprechakttypische Bindungen nicht aus, aber diese Bindungen haben ihrerseits in einer Mitgliedschafts- und Bezugsgruppe institutionalisiert zu sein, in denen sie Geltung beanspruchen. Es ist nicht zu bestreiten, dass es ohne sprachliche keine gesellschaftliche Kommunikation geben kann, insofern hat sprachliche Kommunikation einen Sonderstatus. Sie kann aber nicht die illokutiven Bindungen sprachintern in Kraft setzen, zum Beispiel durch den kommissiven illokutiven Akt des Versprechens bindet sich der Sprecher zu einem gegeben Zeitpunkt etwas zu tun; ein Versprechen kann aber auch in strategischer Absicht gegeben werden, zum Beispiel das unaufrichtige Versprechen. Insofern ist die semantische Analyse der Interaktionsbedingungen von Sprechakten von der kommunikativen Analyse der Verfolgung von Absichten in einem Kommunikationssystem strukturell zu unterscheiden.
(4) Die Emil Durkheim-Tradition und das darauf beruhende Forschungsprogramm des abweichenden Verhaltens gingen davon aus, dass Nomisches und Anomisches zu trennen ist. Talcott Parsons ist Thomas Marshall insofern gefolgt, da er das Integrationsniveau des „Systems der modernen Gesellschaften“ als eine evolutionäre Höherentwicklung eingestuft. Dieser Ansatz wurde von den Fachvertretern nicht allgemein akzeptiert, da im Hinblick auf die Beschreibung der seit dem 19. Jahrhundert einsetzenden zweiten Modernisierung erheblich Vorbehalte vermerkt wurden, zum Beispiel, ob eine Abstimmung der Teilsysteme und die Nutzung ihrer Rationalitätsvorteile fortlaufend zu verwirklichen sei. Das betrifft nicht nur zum Beispiel Max Webers Diagnose von Rationalisierungsschäden, Durkheims Anomiekonzept und die Systemtheorie von Luhmann, die einen strukturellen Drift der Teilsysteme herausstellt, sondern bereits Parsons selbst, dem bewusst war, dass das System der modernen Gesellschaften nicht vollständig sozial integriert ist. Mittlerweile ist ein Folgeproblem dieser Ansätze erkennbar. Wenn wir davon ausgehen, dass Mitgliedschaftsintegration auf den Unterscheidungen zwischen Mitglied und Nichtmitglied beruht, dann schließt jede Mitgliedschaftsintegration auch ihre Anomalie durch den Ausschluss ein.
Die Neufassung der Theorie sozialer Integration sollte davon ausgehen, dass Nomisches und Anomisches, Auctoritas und Potestas zwar zu unterscheiden sind, sie aber immer auch zusammenwirken. [3] Wenn wir diesen Anschnitt vornehmen, dann wird die alteuropäische Semantik der Unterscheidung zwischen Chaos und Normalität historisch und es kann an sie in der soziologischen Theorie nicht mehr angeschlossen werden. Es betrifft dies „die Regelung“ und „die Ausnahme“ und den Differenzkorridor der Regelungsverletzung, der selbst funktional adäquat ist. [4]Die Ausnahme ist ein Bereich der Unentschiedenheit der Beobachtung zwischen Innen und Außen, d.h. im Hinblick auf soziale Systeme die Unentschiedenheit zwischen Mitglied und Nicht-Mitglied. Es betrifft ein anderes soziologisches Verständnis des Problems der sozialen Ordnung, wie es Parsons in The Structure of Social Action (1937) in die soziologische Theorie eingeführt hat. Das gilt unabhängig davon, wie wir Parsons Integrationstheorie von unserem gegenwärtigen Standpunkt reinterpretieren. Damit wird nicht bestritten, dass es Formen des Helfens gibt und dass zum Beispiel der westliche Sozialstaat, der sich in seinem Umbau befindet, eine Schadensregulierung nicht intendierter Folgen, zum Beispiel des Wirtschaftssystems, institutionalisiert hat.
- [1] Luhmann, Niklas. Gesellschaft und Semantik (3. Bd.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1989, 159.
- [2] Zu der Kritik an den Konsensfiktionen in sozialen Systemen zum Beispiel Luhmann, Niklas. Die Gesellschaft der Gesellschaft (2 Bd.), Bd. 1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997, 27–28.
- [3] Dazu Agamben, Gorgio. Homo Sacre II. Ausnahmezustand. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2004.
- [4] Darauf hat Ortmann, Günther. Regel und Ausnahme. Paradoxien sozialer Ordnung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2003 hingewiesen: „Die Ausnahme bleibt eingeschlossen in den Normalfall gerade dadurch, dass sie aus ihm herausfällt. Sie liegt, wie wir im Alltag sagen ‚eigentlich' im Geltungsbereich der Regel, die aber für die Ausnahme gleichwohl aufgehoben oder aufgeschoben ist: suspendiert“ S. 94. Es ist unmissverständlicher statt von Regel von Regelung zu sprechen. Da es nicht um eine Regelverletzung als Fehler i.S. Ludwig Wittgensteins geht. Nach Wittgenstein gehört zum Analysans des Regelbefolgens das Fehlermachen und damit die Korrigierbarkeit des Verhaltens. Es ist dafür typisch, dass er zum Beispiel zur Exemplifizierung Rechenregeln heranzieht. Die Verletzung einer Regelung ist aber gerade kein Fehler. Auch Niklas Luhmanns Reinterpretation der doppelten Kontingenzbildung und der durch die ausgelöste Systembildung in der System-Umweltbeziehung kann so interpretiert werden. Darauf hat zum Beispiel Münch, Richard. Soziologische Theorie (3 Bd.), Bd. 3: Gesellschaftstheorie. Frankfurt a. M.: Campus, 2004, 183–186 hingewiesen.