Kontextualisierung: Rückund Abwanderer in deutschen Firmen in der Türkei

Deutschland ist seit vielen Jahren sowohl der wichtigste Handelspartner der Türkei[1] als auch das Land mit den meisten ausländischen Direktinvestitionen in der Türkei. Insgesamt existieren rund 5000 deutsche Unternehmenszweigstellen bzw. türkische Unternehmen mit deutscher Beteiligung in der Türkei, sei es als Produktionsstandort oder zur Markterschließung, darunter renommierte Industrieund Handelsunternehmen wie Daimler, Siemens, Bosch, Metro, Hugo Boss und andere. Diese stellen gerne türkeistämmige Hochqualifizierte[2] aus Deutschland ein, die in solchen Zweigstellen bzw. Tochtergesellschaften nicht selten bessere Aufstiegschancen haben als in den jeweiligen Stammsitzen bzw. Mutterkonzernen in Deutschland[3].

Aber auch im Dienstleistungssektor, der sowohl in Deutschland als auch der Türkei den größten Wirtschaftssektor darstellt (DGB-Bildungswerk 2009, S. 36; Jacobsen 2010, S. 204), verlagern deutsche Firmen ihre Angebote in die Türkei. Dazu gehören seit über zehn Jahren auch Callcenter-Dienstleistungen. Insbesondere Istanbul ist Standort etlicher deutschsprachiger Callcenter, die sich unter anderem die Lohnunterschiede zwischen der Türkei und Deutschland zunutze machen[4]. Darüber hinaus bestimmen bei der Verlagerung von Dienstleistungsund insbesondere Callcenter-Arbeit – im Unterschied zur Industrie – maßgeblich „Sprache und Kultur“ die Wahl des Ziellandes und bilden die Grundlage für Unternehmensverlagerungen (Batt et al. 2009, S. 465). In der Türkei greifen deutschsprachige Callcenter vor allem auf die sprachlichen Kompetenzen türkeistämmiger Arbeitnehmer der zweiten und dritten Generation zurück, die in Deutschland aufwuchsen und aus verschiedenen Gründen und zu verschiedenen Zeitpunkten in die Türkei „zurückkehrten“ bzw. abwanderten. Unter ihnen befinden sich beispielsweise Kinder von Rückkehrer-Familien, die bereits in den 1980er oder 1990er Jahren zum Teil gegen ihren Willen mit ihren Eltern in die Türkei kamen. Andere verließen Deutschland gezwungenermaßen, weil sie abgeschoben wurden, und wiederum andere freiwillig aus eigenem Antrieb und verschiedenen Motiven in den letzten Jahren[5]. In der Türkei bietet ihnen die Callcenter-Tätigkeit eine Möglichkeit, ihre migrationsbiografisch bedingten deutschen Sprachkompetenzen in Erwerbsarbeit umzusetzen. Darüber hinaus telefonieren die Mitarbeiter am Standort Istanbul meist unter Angabe von erfundenen deutschen Namen mit Kunden in Deutschland. Auch wird die Uhrzeit an die Zeit in Deutschland angepasst und als Standort der jeweilige Firmensitz in Deutschland angegeben[6].

Im Folgenden möchte ich nun auf die Bedeutung von migrationsbiografisch bedingten Sprachkompetenzen im Rahmen von Callcenter-Arbeit zwischen der Türkei und Deutschland eingehen, die auf ersten Ergebnissen eigener Forschung basieren.

  • [1] Deutsche Exporte in die Türkei beinhalten vor allem Maschinen, elektronische Erzeugnisse und Produkte der Automobilindustrie, wohingegen Importe aus der Türkei überwiegend Textilien/Bekleidung, elektronische Erzeugnisse/Haushaltsgeräte und – mit abnehmender Tendenz – Nahrungsmittel beinhalten (DGB-Bildungswerk 2009, S. 12 f.)
  • [2] Für neuere Untersuchungen zu hoch qualifizierten türkeistämmigen Rückund Abwanderern sowie deren Bedeutung für den transnationalen deutsch-türkischen Raum siehe z. B. Sievers et al. (2010); Kaya und Adaman (2011); Pusch und Aydın (2011); Pusch und Aydın (2012); Aydın (2013)
  • [3] Auch unterstützen führende deutsche Firmen unterschiedlicher Branchen Deutschbzw. Germanistik-Studiengänge an türkischen Universitäten finanziell (Yalçin 2003, S. 6)
  • [4] Die Anzahl an Callcentern ist jedoch weder für Deutschland noch weltweit genau bekannt, auch gibt es keine allgemeinen statistischen Daten über das tatsächliche Ausmaß des Offshoring (Holtgrewe 2009, S. 138; Ahlers et al. 2009, S. 12; Ahlers und Ziegler 2009, S. 22 f.). In der sozialwissenschaftlichen Forschung ist allerdings die Annahme verbreitet, dass Unternehmen aus Deutschland – aufgrund der weltweit geringeren Verbreitung der deutschen Sprache – wenig Möglichkeiten hätten, sprachbasierte Dienstleistungen ins Ausland zu verlagern, im Unterschied zu englischoder französischsprachigen Callcentern (Holtgrewe und Kerst 2002, S. 189; Ahlers und Ziegler 2009, S. 26; Holtgrewe 2009, S. 140, 145)
  • [5] In meinen Interviews wurden diesbezüglich unter anderem erfahrene Diskriminierung in Deutschland geäußert, Heirat in der Türkei, eine unspezifische Suche nach den eigenen „Wurzeln“, die Anziehungskraft Istanbuls als Metropole oder eine Kombination aus verschiedenen Gründen
  • [6] Diese Arbeitspraktiken weisen Gemeinsamkeiten mit den besagten Fallstudien zu englischsprachigen Callcentern in Indien auf, mit dem Unterschied, dass dort ein Akzent eigens einstudiert werden muss und nicht im Laufe der Sozialisation im Migrationskontext erworben wurde. Im deutsch-türkischen Kontext können diese Arbeitspraktiken in Verbindung mit Erinnerung und Imagination überdies eine „virtuelle Migration“ nach Deutschland implizieren (Splitt 2014)
 
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