Eltern als lokale„change agents“

Was bewegt Eltern dazu, ihre Kinder in einem bilingualen Programm anzumelden, in dem sie Türkisch lernen? Anders als andere vermeintlich „exotische“ Sprachen wie Japanisch, Chinesisch oder auch Russisch, die als Fremdsprachen-Angebote an Gymnasien etabliert sind und damit curricular geadelt wurden, hat Türkisch an der Sprachenbörse in Deutschland nach wie vor einen äußerst geringen Wert. Türkisch leidet unter dem Imageproblem, die Sprache der armen Migranten zu sein (vgl. dazu auch Schroeder und Küppers in diesem Band). Obgleich etwa drei Millionen Menschen Türkisch in Deutschland sprechen und Türkisch in den urbanen Zentren Deutschlands eine vitale und lebendige Sprache ist, besuchen nur einige zehntausend einen Türkischunterricht. Der ist aber zumeist in der Tradition des

„Herkunftssprachenunterrichts“ verwurzelt, überwiegend nicht in den Stundentafeln der Schulen integriert und trägt eher zur Ethnisierung der Teilnehmer bei (Türkischunterricht für die „Türken“), als dass er von der Gesellschaft – und bislang auch nicht von den staatlichen Bildungsinstitutionen – als eine Bereicherung und Bildungsressource betrachtet wird. Kinder der deutschen Mehrheitsbevölkerung lernen selbstverständlich Englisch, später dann vielleicht Französisch, Spanisch, Italienisch – regional bedingt unter Umständen auch Russisch, Dänisch oder Polnisch, verstärkt auch wieder Latein – aber Türkisch?

Auf lokaler Ebene sind Eltern grundsätzlich eine wichtige Interessensgruppe, die im Kontext von Bildungsinstitutionen Veränderungen bewirken und Bildungsprozesse beeinflussen kann. Im Schulentwicklungsprozess der Albert-SchweitzerSchule wurden Meinungsführer unter den Eltern von der Schulleitung gezielt angesprochen und waren maßgeblich daran beteiligt, das bilinguale Programm innerhalb der Elternschaft zu propagieren, dafür zu werben und das Programm schlussendlich auch zu einem Erfolg zu machen. In den folgenden Ausführungen kommen zwei Mütter zu Wort, die zu diesen Meinungsführern gerechnet werden können. Beide Familien sind dem liberalen, offenen, alternativen Milieu der akademischen Mittelschicht zuzuordnen und beide Familien haben in der entscheidenden Initialphase des Veränderungsprozesses ihre Kinder am bilingualen Programm der Albert-Schweitzer-Schule angemeldet. Was für einen Wert sehen oder sahen diese Eltern für ihre Kinder im Türkischlernen?

Zunächst einmal musste die Entscheidung für die Albert-Schweitzer-Schule und für das Türkischprogramm im eigenen Freundeskreis stark verteidigt werden, weil die Schule immer noch unter ihrem schlechten Ruf litt, eine Türkenschule zu sein. „Glaubst du nicht, dass zu viele Ausländer auf diese Schule gehen?“ oder

„Wie kannst du Tom das nur antun? Da bleibt er doch unter seinen Möglichkeiten“ waren Kommentare, die eine Mutter nach der Schulwahl oft zu hören bekam. Sie erinnert sich, wie schwer es war, andere Eltern von dem Konzept zu überzeugen.

„Nein“, erläutert sie, „es ging nicht darum Türkisch zur ersten Sprache in Linden zu machen. Das ist doch Quatsch! Sondern es geht darum, wenn ich etwas über deine Sprache und deine Kultur lerne, dann ist es auch einfacher für dich, dich meiner Sprache und Kultur zu öffnen.“ Offen gibt sie aber auch zu, dass das bilinguale Programm nicht nur mit ihren Erziehungszielen wie Offenheit, Toleranz und Respekt gegenüber Vielfalt in Einklang stand, sondern dass die langen Öffnungszeiten attraktiv waren, und sie und ihr Mann gehofft hatten, in der Bili-Klasse auf die etwas offeneren und reflektierten Eltern zu treffen. Die andere Mutter beschreibt ihre Motive für das bilinguale Programm damit, dass die Schule die nächste in der Nachbarschaft ist und viele Kinder aus den umliegenden Straßen dort eingeschult werden würden. „Wir wollten einfach, dass Sandra Freundinnen in der Nähe hat.“ Da die Tochter wohl eine Affinität zum Sprachenlernen hat und die Familie nicht frei war von Befürchtungen, Sandra könne sich in der Schule langweilen, war das bilinguale Programm natürlich genau das Richtige, „so eine Art intellektuelle Herausforderung“, wie sie es formuliert. Ähnlich wie Toms Mutter schätzt Sandras Mutter das bilinguale Programm durch damit verbundene Werte wie Toleranz und Offenheit: „Es ist wichtig, dass unsere Kinder andere Sprachen und Kulturen schätzen lernen, die es in Deutschland gibt. Es ist einfach eine Frage des Respektes, und das Türkisch-Programm trägt dazu bei. Denn sie lernen auch: ,Mensch, es ist gar nicht einfach, so eine schwierige Sprache zu lernen.' Dann verstehen sie auch besser, wie schwer es ist für andere Kinder, Deutsch zu lernen. Wenn diese Kinder in Familien groß werden, wo es eben kein perfektes Deutsch gibt, dann sehen sie, ja klar, das ist nicht einfach. Aber sie blicken auf die Kinder nicht herab, die noch nicht perfekt Deutsch können. Denn sie wissen, Türkisch ist mindestens so schwer.“

Befragt danach, ob sich denn die Erwartungen, die sie mit dem bilingualen Programm verbunden hatten, erfüllt haben, antworten beide Mütter positiv. Toms Mutter reflektiert die Erfahrungen beider Söhne und erläutert zufrieden: „Die Jungs haben sicher beide gelernt, dass Vielfalt in unserer Gesellschaft normal ist. Ja, es ist einfach normal für sie, sich mit den türkischen Freunden zu treffen und zu ihnen nach Hause zu gehen. […] Sie respektieren andere Kulturen.“ Sie erinnert sich lebhaft daran, wie stolz die Söhne aus der Schule nach Hause kamen und aus dem Türkischunterricht berichtet haben und den Eltern erste Vokabeln und Redewendungen beigebracht haben. „Einmal kam Oliver nach Hause und war voller Bewunderung, weil er festgestellt hatte, dass ein Junge Türkisch richtig toll sprechen kann, weil sie es zu Hause sprechen.“ Ein anderes Mal, berichtet sie, habe es zu Beginn des Jahres eine Familiendiskussion über mögliche Ziele für die Sommerferien gegeben. Ihr Mann und sie selbst seien traditionell eher auf Italien und Spanien gebucht, aber dann habe Oliver den Vorschlag gemacht, doch mal in die Türkei zu fahren, denn dort sei es auch sehr schön und es gebe viele Strände und viel Meer. Diese Episode erzählt sie nicht ohne Genugtuung darüber, dass ihr Sohn ihre eigenen eingefahrenen Sichtweisen durch die Anregungen über das bilinguale Programm infrage gestellt und die Urlaubsplanung damit entscheidend bereichert hat.

Beide Mütter verbinden mit dem bilingualen Programm weithin Erwartungen, die dem interkulturellen Lernen zugeschrieben werden können: Offenheit, Toleranz, Respekt sowie Empathie entwickeln und andere nicht in Schubladen stecken, und sehen diese insbesondere durch das Türkischlernen auch erreicht.

 
< Zurück   INHALT   Weiter >