Der Beitrag des Fremdsprachenunterrichts der Anadolu-Schulen und der deutschen Schulen in der Türkei zur deutschtürkischen Transnationalisierung

In diesem Beitrag werden zwei Schultypen in der Türkei mit ihrem Potenzial für eine deutsch-türkische Transnationalisierung aus der Perspektive der fremdsprachlichen Fächer beleuchtet. Während der Deutsch-als-Fremdsprache-Unterricht (DaF) an den Anadolu-Schulen in der Türkei auf eine lange Tradition zurückblickt und sein hoher Status im Curriculum aktuell durch Strukturreformen und das Fach Englisch bedroht ist, fristet der Türkisch-als-Fremdsprache-Unterricht (TaF) an der Deutschen Botschaftsschule in Ankara und deren beiden Zweigstellen in Istanbul und Izmir traditionell eher ein Schattendasein.

Deutschunterricht an den Anadolu-Schulen

Deutsch hat als erste Fremdsprache in der Türkei im letzten Jahrzehnt mehrere Rückschläge einstecken müssen. Der erste Rückschlag resultierte aus der Erweiterung der verpflichtenden Grundschule auf acht Jahre um die Jahrtausendwende, sodass die Schülerinnen und Schüler erst mit ihrem Zugang zum Gymnasium ( lise) im Alter von 14 Jahren mit dem systematischen Erwerb von Deutsch als Fremdsprache beginnen können[1]. Der Fremdsprachenunterricht in der Grundschule von Klasse 5–8 konnte landesweit nicht so gestaltet werden, dass er den gymnasialen Unterricht in den entsprechenden Jahrgangsstufen hätte vollwertig ersetzen können. Erteilt wird an den Grundschulen seitdem zudem überwiegend Englischunterricht. Außerdem wurde mit Beginn des Schuljahres 2004/2005 an nahezu allen Anadolu-Schulen das vorgeschaltete Vorbereitungsjahr ( hazırlık) und damit ein ca. 20 Wochenstunden umfassender Unterricht in der ersten Fremdsprache abgeschafft und ein zwölftes gymnasiales Jahr eingeführt.

Durch die fremdsprachliche Schwerpunktsetzung und aufgrund der Ausrichtung am Vermittlungsansatz „Fremdsprache als Arbeitssprache im Fachunterricht“ waren die Anadolu-Schulen bis 2001 in der Lage, ihre Schülerschaft zudem auf die anspruchsvollen Prüfungen des „Deutschen Sprachdiploms der Kultusministerkonferenz“ (DSD) vorzubereiten. Während mit dem höherwertigen Deutschen Sprachdiplom der Stufe II (kurz: DSD II) der Nachweis über die Studierfähigkeit in der deutschen Sprache erbracht werden kann, so wie er für ein Studium an deutschen Universitäten erforderlich ist, ermöglicht das DSD I lediglich den Zugang zu einem Studienkolleg.2 Lag die Türkei mit ihren Zahlen der bestandenen DSD-II-Prüfungen bis dahin noch im oberen Viertel, so fiel sie nach dem Abgang des letzten Jahrgangs, der noch ein Vorbereitungsjahr genossen hatte, international auch im DSD-I-Bereich ans Ende. Folgen hatte diese Reform auch für die Eliteuniversitäten der Türkei, wie etwa die Middle East Technical University in Ankara oder die Boğaziçi Üniversitesi in Istanbul, die überwiegend in Englisch unterrichten. Als die Anadolu-Schulen mit Englisch als erster Fremdsprache noch ein Vorbereitungsjahr mit intensivem Fremdsprachenunterricht hatten, war etwa ein Drittel der AbsolventInnen dieser Schulen in der Lage, sofort mit dem Studium in englischer Sprache zu beginnen. Haben vor der Reform noch 25–30 % der Anfänger die Eingangssprachprüfung sofort bestanden, so konnten danach nur noch ca. 15 % ihr Studium unmittelbar aufnehmen; der Rest musste ein Vorbereitungsjahr durchlaufen, was in etwa vergleichbar ist mit den auf ein Studium an deutschen Hochschulen vorbereitenden Studienkollegs in Deutschland.

Auch an den staatlichen Schulen ohne Vorbereitungsjahr hat sich die Situation des Fremdsprachenunterrichts im Zuge der Lise-Reform zu Beginn des Schuljahres 2010/2011 verschlechtert. In der obligatorischen Stundentafel für die erste Fremdsprache in der Eingangsklasse 9 wurden die ursprünglich zehn Stunden um vier auf sechs Wochenstunden gekürzt. Aussicht auf Erfolg, die DSD-II-Prüfungen zu bestehen, haben im Grunde genommen nur noch Lernende mit muttersprachlichen Deutschkompetenzen wie etwa sogenannte Rückkehrerkinder. Alle anderen SchülerInnen erreichen in der Regel nur noch das DSD-I-Diplom, was einen Zugang zum Studienkolleg in Deutschland ermöglicht.

Die Schüler kommen aber auch nur dann noch auf die für die Meldung zum DSD I notwendige Stundenzahl von ca. 600 h à 45 min qualifizierten Deutschunterricht bis zum Beginn der Prüfung, wenn an den Schulen im Wahlpflichtbereich oder in privat eingerichteten Kursen zusätzlicher Deutschunterricht angeboten wird, der mit dem Regelunterricht curricular verzahnt ist. In der verbindlichen Stundentafel wird die erste Fremdsprache in Klasse 9 mit sechs und in den Klassen 10–12 jeweils mit vier Stunden unterrichtet. Viele Schulleitungen sind zur Einrichtung eines zusätzlichen Unterrichtsangebots bereit. Allerdings werden die zusätzlichen Fremdsprachenangebote von den Schülern mitunter nicht genutzt, weil Fremdsprachenkenntnisse in der landesweiten Universitätsaufnahmeprüfung nur eine marginale Rolle spielen.

Mit Beginn des Schuljahres 2013/2014 wurden die Stunden an den Gymnasien darüber hinaus von 45 auf 40 min gekürzt, was einer Reduktion auch des Fremdsprachenunterrichts um über 10 % entspricht; denn an den bestehenden Stundentafeln wurde nichts geändert. Dazu wurde die Klassengröße von 30 auf 34 Lernende angehoben.

Einem kontinuierlichen DaF-Unterricht und einer erfolgreichen Vorbereitung auf die Sprachdiplomprüfungen steht zudem der hohe strukturell bedingte Unterrichtsausfall an den türkischen Schulen entgegen. Bis 2013 durften die Schüler 45 Tage pro Schuljahr fehlen – davon 19 Tage ohne Angabe von Gründen. Bei einem Schuljahr von offiziell 180 Tagen sind das immerhin 25 % des Unterrichts. Von dieser Regelung machen die Klassen 11 und 12 (nicht selten auch schon die zehnten Klassen im zweiten Schulhalbjahr) regen Gebrauch, um sich auf die Universitätsaufnahmeprüfung vorzubereiten. Die Zahl der nicht entschuldigten Fehltage wurde immerhin mit Beginn des Schuljahres 2013/2014 auf zehn reduziert.

Hinzu kommt, dass an vielen Schulen sämtliche Arbeiten als Vergleichsarbeiten geschrieben werden. Diese Lernstandserhebungen werden in dafür eingerichteten

„Prüfungswochen“ vorgenommen, sodass sich hier auch ein Unterrichtsausfall von 5–6 Wochen ergibt, denn die Schüler erscheinen während dieser Wochen kaum noch regelmäßig zum regulären Unterricht oder bereiten sich während der Unterrichtsstunden auf die nächste Arbeit vor, von denen nicht selten zwei an einem Tag geschrieben werden.

Generell ist die Kultur der Leistungsmessung im türkischen Schulwesen eher als problematisch einzuschätzen. Das Schwergewicht der Beurteilung liegt auf den schriftlichen Leistungen, die in der Regel über Tests mit Schwerpunkt Wortschatz und Grammatik ermittelt werden. Die sonstige Mitarbeit, also etwa auch die mündliche Beteiligung im Unterricht, geht zwar formell zu 50 % in die Endnote ein, spielt aber qualitativ eine geringere Rolle.

Allgemein lässt sich sagen, dass deutlich zu wenig Wert auf längere schriftliche und mündliche Beiträge gelegt wird. Der Unterricht erfolgt in der Regel frontal mit hohem muttersprachlichem Anteil und ist einer Art Grammatik-Übersetzungsmethode verpflichtet, also deutlich zu grammatiklastig, ohne dass die Schüler am Ende wenigstens sicher im Gebrauch der Strukturen wären. Im Gegenteil: Es kommt vor, dass nach vier Jahren das Perfekt nicht richtig gebildet werden kann.

Das verwundert nicht, denn ein auf Grammatik ausgerichteter Frontalunterricht ohne systematische Ausrichtung auf kommunikative Lernziele führt nicht zu einer sprachlich-interkulturellen Handlungskompetenz und demotiviert. So haben beispielsweise in einem der letzten Durchgänge im DSD I an einer Schule ohne deutsche Programmlehrkraft von 40 gemeldeten Schülerinnen und Schülern nur sieben die Niveaustufe A2 erreicht, niemand das Niveau B1, und zehn Schüler konnten nach über drei Jahren Unterricht in Deutsch als erster Fremdsprache in keinem einzigen Prüfungsteil auch nur das Niveau A2 erreichen.

Dabei sind die Vorstellungen des türkischen Erziehungsministeriums, was einen modernen Fremdsprachenunterricht betrifft, durchaus auf der Höhe der Zeit. Das Ministerium regt zum Beispiel Projekte wie darstellendes Spiel oder alternative, schülerzentrierte Sozialformen an, aber die Praxis beherrscht ein zumeist auf Grammatik ausgerichteter Frontalunterricht. Dies hat u. a. damit zu tun, dass die Lehrerausbildung nicht dem reformierten Curriculum entspricht und in den diversen Sprachprüfungen in der Türkei in erster Linie Leseverstehen, Wortschatz und Grammatik geprüft werden.3 Die Unzulänglichkeit des Sprachunterrichts wird gerne auch mit folgendem Vergleich illustriert: Schülern kann man nicht Schwimmen beibringen, indem man ihnen über Jahre Schwimmstile schematisch an der Tafel erklärt und Filme von Wettkämpfen zeigt. Wirft man sie dann ins Wasser, gehen sie unter.

Es ist davon auszugehen, dass sich dies zumindest im Primarschulwesen ändern wird. Das türkische Erziehungsministerium (MEB) hat nämlich zu Beginn des Schuljahres 2013/2014 in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut Ankara einen entsprechenden „Lehrplan für das Primarschulwesen. Deutsch als Fremdsprache in den Grundund Mittelschulen (für die Klassen 2–8)“4 ausgearbeitet. Dieser Lehrplan – und das ist neu und müsste für die Sekundarstufe 2 fortgeschrieben werden – ist am Erwerb von Kompetenzen in den vier kommunikativen sprachlichen Fertigkeiten orientiert, wie sie der Gemeinsame europäische Referenzrahmen für Sprachen (GeR) von 2001 vorsieht.

  • [1] Nach acht verbindlichen Grundschuljahren beginnt in der Türkei die Sekundarstufe 2 mit der neunten Klasse am sogenannten Lise, dem Gymnasium. An den Anadolu-Gymnasien, die traditionell eine fremdsprachliche Ausrichtung haben, gab es ein vorgeschaltetes Vorbereitungsjahr ( hazırlık), um die Lernenden auf den Fremdsprachengebrauch in Sachfächern vorzubereiten. Mit der verlängerten Grundschulzeit hat sich der Deutschunterricht entsprechend um drei Jahre verkürzt
 
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