Grenzen überschreiten durch Sprachen: Interkulturelle Begegnungen an deutschsprachigen Schulen in der Türkei
Ausgehend von der Fragestellung, ob und inwiefern deutsche, türkische und türkisch-deutsche Bildungsinstitutionen zum Aufbau von transnationalem Bildungskapital beitragen, wollen wir in diesem Artikel auf einen Teilaspekt dieses Rahmenthemas eingehen: 1) Inwieweit die deutschsprachigen Schulen im Rahmen des Lehrens und Lernens des Deutschen als erste Fremdsprache zum türkisch-deutschen Kulturaustausch einen Beitrag leisten, und 2) ob sie ihre Schüler [1] von klein auf zu einer „grenzüberschreitenden Verständigung“ (Altmeyer 2005, S. 194) befähigen, was in der heutigen Welt von großer Bedeutung ist.
Die heutige Welt hat sich aufgrund der neuen sozialen, politischen, ökonomischen und technischen Entwicklungen seit der Jahrtausendwende grundlegend verändert. Die weltweiten technischen Entwicklungen, insbesondere die Kommunikationsvernetzung, die zunehmende Mobilität sowie die wachsenden ökonomischen Verflechtungen und Handelsbeziehungen haben sich stark verdichtet. In dieser vielfältig vernetzten Welt, in der Menschen unterschiedlicher Kulturen in immer engerem Kontakt miteinander leben, werden auch die klassischen Kulturkonzepte zur Diskussion gestellt und dementsprechend erneuert oder ergänzt.
Im Rahmen dieses Artikels wollen wir uns jedoch nicht mit den Diskussionen um die zeitgenössischen Kulturtheorien befassen. Wir möchten vielmehr der Frage nachgehen, ob die kulturellen Einstellungen, die durch Mischungen und Verflechtungen der Kulturen gekennzeichnet sind, im Deutschunterricht in der Türkei durch neue pädagogische und kulturorientierte Konzepte im Unterrichtsgeschehen Platz finden. Die Beantwortung dieser Frage ist für uns insofern von Bedeutung, weil das Erlernen der deutschen Sprache und Kultur in gewisser Hinsicht auch den Grundstein für türkisch-deutsche Kulturkontakte bildet.
In jedem Fremdsprachenunterricht, also auch im Deutschunterricht, in dem die Lernenden mit unterschiedlichen Sprachen und Kulturen zusammenkommen und mit diesen in Dialog treten, finden Prozesse einer fremdsprachigen Kommunikation statt, die den Blick der Lernenden über nationalstaatliche Grenzen hinweg erweitern und die Lernenden zu länderübergreifenden Handlungen befähigen soll. Zweifelsohne hängt die Effektivität dieser Kommunikation und Konfrontation vor allem von den pädagogischen Konzepten der Schulen und von der Gestaltung der kulturgeprägten Vermittlungsformen im Unterricht ab.
Bevor wir diese für den Deutschunterricht an türkischen Schulen beschreiben, möchten wir jedoch zunächst kurz die Struktur des türkischen Schulwesens darstellen, um dann in einem zweiten Schritt zu zeigen, welchen Stellenwert der Fremdsprachenunterricht im Allgemeinen und die Stellung des Deutschen in diesem hat. Im Jahre 2012 wurde das im Jahre 1997 erlassene Schulgesetz novelliert und die achtjährige Pflichtschule in zwei Stufen aufgeteilt. Heute sieht das türkische Schulgesetz als erste Stufe eine vierjährige Grundschule (Primarstufe) vor, an die sich eine sogenannte Mittelschule (Sekundarstufe I) anschließt, die wiederum vier Jahre dauert. Darauf folgt das nun verpflichtende vierjährige Gymnasium (Sekundarstufe II). Mit dieser Reform kam es nicht nur zu strukturellen Veränderungen im türkischen Schulwesen, sondern auch zu einer Verlängerung der Schulpflicht von acht auf zwölf Jahre.2 Es ist noch zu früh, um über die Ergebnisse dieses dreistufigen Schulsystems zu diskutieren. Dieses Konzept bedarf aber einer kritischen Auseinandersetzung, die den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde. Zu betonen ist an dieser Stelle jedoch, dass diese Schulreform keine bedeutenden Veränderungen für den Fremdsprachenunterricht gebracht hat. Heute, wie auch früher, wird die erste Fremdsprache landesweit bereits in der vierten Jahrgangsstufe als Pflichtfach eingeführt. Ab der sechsten Klasse (Sekundarstufe I) besteht die Möglichkeit, als Wahlfach eine zweite Fremdsprache zu lernen. In der Sekundarstufe II wird die erste Fremdsprache je nach Form der Schule als Pflichtoder Wahlfach angeboten und die zweite Fremdsprache wird als Wahlfach weitergeführt. Diese Strukturierung des Fremdsprachenunterrichts zeigt, dass der Fremdsprachenunterricht in allen drei Schulstufen einen festen Platz hat. Hinsichtlich der Wahl der Fremdsprache kann man allerdings in keinerlei Hinsicht von einem Gleichgewicht sprechen, denn im Zuge der Globalisierung ist auch im türkischen Schulsystem die Vorrangstellung des Englischen gegenüber anderen Sprachen nicht zu übersehen. Aus diesem Grund werden heute Fremdsprachenkenntnisse allgemein mit Englischkenntnissen gleichgesetzt (Steinbrügge 2003, S. 16). Dies spiegelt sich auch im Sprachenkanon aller Schulstufen in der Türkei wider (Polat und Tapan 2010, S. 91 ff.).
Wie ist nun die Strukturierung der deutschen Sprache innerhalb des türkischen Schulsystems? Deutsch wird im türkischen Schulwesen sowohl in den staatlichen als auch in den privaten Schulen als erste und als zweite Fremdsprache in allen drei Schulstufen angeboten. Die Zahl der staatlichen Schulen, in denen Deutsch als erste Fremdsprache angeboten wird, ist im Primarund Sekundarstufe-I-Bereich wegen der Dominanz des Englischen sehr gering. Darüber hinaus muss festgehalten werden, dass der Deutschunterricht in der Primarund Sekundarstufe I im staatlichen Schulsystem aufgrund der geringen Stundenzahl (zwei bis vier Wochenstunden) in der Regel nicht befriedigend ist und zur Demotivation bei Schülern und Lehrern führt. Aus diesem Grund ist es in diesen Schulen auch schwierig, die kulturgeprägten Vermittlungskonzepte effektiv in die Praxis umzusetzen. Daneben gibt es im türkischen Schulwesen in Primarund Sekundarstufe I auch Privatschulen, in denen Deutsch als erste Fremdsprache angeboten wird.3 In vielen dieser Schulen hat der Deutschunterricht im Lehrplan einen zentralen Stellenwert. Aus diesem Grund kann auch gesagt werden, dass in diesen Schulen für den Deutschunterricht günstigere Ausgangsbedingungen herrschen, die sich positiv auf die Gestaltung eines qualitativ hohen und zeitgenössischen Deutschunterrichts auswirken. Landesweit betrachtet, ist jedoch die Zahl dieser Schulen noch gering. Da diese Schulen aber den Wunsch der Eltern und der Schüler nach guten Deutschkenntnissen besser befriedigen, gewinnen sie in der türkischen Schullandschaft immer mehr an Bedeutung. Im Gegensatz zu den staatlichen Schulen können diese Privatschulen den Beginn des Deutschunterrichts festlegen und die Wochenstundenzahl erweitern. In diesen Schulen beginnt der Deutschunterricht in der Regel mit zehn bis zwölf Wochenstunden in einer sehr frühen Lebensphase des Kindes, das heißt in der ersten Klasse, bei vielen Schulen sogar bereits in der Vorschule. In der vierten Klasse beginnt dann obligatorisch die zweite Fremdsprache mit vier Wochenstunden. Die Vorverlegung der ersten Fremdsprache in die früheren Jahrgangsstufen und die Einführung einer zweiten Fremdsprache, ist ohne Zweifel ein bedeutender Fortschritt, weil dadurch Schülern der Zugang zur Sprachenund Kulturenvielfalt in einer relativ frühen Lebensphase eröffnet und in den weiteren Klassenstufen erweitert und fortgeführt werden kann (Tapan 2000, S. 40 ff.).
Wie sehen nun der Fremdsprachenbzw. der Deutschunterricht im Sekundarstufe-II-Bereich aus? Auch in diesem Bereich ist Deutsch als erste und als zweite Fremdsprache im schulischen System vorhanden. Der Deutschunterricht wird im Sekundarstufe-II-Bereich als erste Fremdsprache insbesondere an den sogenannten Anadolu-Gymnasien [2] (Schulen mit intensivem Deutschunterricht) angeboten.
Das Anadolu-Programm, das zur schulischen Integration von türkischen Rückkehrerschülern beitragen sollte, beruht auf ein Mitte der 1980er Jahre geschlossenes Abkommen zwischen der Türkei und der Bundesrepublik Deutschland. Im Rahmen dieses Vertrags wurden die Anadolu-Gymnasien im türkischen Schulwesen etabliert (Hartenburg 2003, S. 283; Tapan 2001, S. 100 ff.).
Allgemein unterscheidet man bei den Anadolu-Gymnasien zwischen den englischund den deutschsprachigen Anadolu-Gymnasien. Die englischsprachigen Anadolu-Gymnasien bieten Deutsch als zweite Fremdsprache und die deutschsprachigen Anadolu-Gymnasien Englisch als zweite Fremdsprache und können somit ihren Beitrag zur Realisierung eines Mehrsprachigkeitskonzepts an türkischen Schulen leisten (Polat 2000, S. 21 ff.).
An diesen Schulen haben Schüler die Möglichkeit, ihre bereits erworbenen Deutschkenntnisse zu erweitern und/oder in einer Vorbereitungsklasse Deutsch intensiv zu lernen (Polat und Tapan 2010, S. 94 f.). Es muss hinzugefügt werden, dass insbesondere ein Teil der naturwissenschaftlichen Fӓcher auf Deutsch unterrichtet wird und somit auch die Fachsprache Deutsch gefördert wird.
Die deutschsprachigen Anadolu-Gymnasien, deren Deutschlehrer zum Teil durch die Zentralstelle für das Auslandsschulwesen (ZfA) aus Deutschland entsendet werden, haben innerhalb des türkischen Erziehungssystems eine besondere Stellung. Diese Schulen werden aufgrund der hohen Unterrichtsqualität von vielen Eltern bevorzugt, obwohl hier Deutsch und nicht Englisch als erste Fremdsprache unterrichtet wird. Die Nachfrage nach diesen deutschsprachigen Anadolu-Gymnasien wächst ständig. Da die Anzahl der Schulen nicht in direkter Relation zur Nachfrage stehen, nehmen diese Schulen ihre Schüler durch eine Prüfung auf. Nach erfolgreichem Bestehen einer staatlichen zentral organisierten Aufnahmeprüfung erhalten die Schüler die Möglichkeit, an einem der AnadoluGymnasien Deutsch als erste Fremdsprache zu lernen. Die Ausbildungsdauer beträgt an diesen Schulen vier Jahre, in der Regel ist eine Vorbereitungsklasse zum Erlernen der Fremdsprache Deutsch mit 24 Wochenstunden vorgeschaltet. Auch in den darauffolgenden vier Schuljahren erhalten die Schüler einen intensiven Fremdsprachenunterricht.
Auch die türkischen Privatgymnasien5 mit Deutsch als erster Fremdsprache sowie die ausländischen Privatgymnasien, wie die Deutsche Schule Istanbul (Alman Lisesi) oder das österreichische Sankt Georgs-Kolleg, die seit Ende des 19. Jahrhunderts existieren und durch Lehrer aus Deutschland und Österreich unterstützt werden, verfügen aufgrund der guten Ausbildung und wegen der Vermittlung guter Deutschkenntnisse im Rahmen des türkischen Schulwesens über hohes Prestige und sind sehr begehrt. Der Eintritt in diese Schulen erfolgt ebenso über eine zentrale Aufnahmeprüfung. Im Vergleich zu den Anadolu-Gymnasien erheben sie höhere Schulgebühren.
Wir möchten in diesem Beitrag unter Berücksichtigung der oben erwähnten Bedingungen an den Schulen mit Deutsch als erster Fremdsprache auch der Frage nachgehen, ob und inwiefern in diesen Schulen durch das Erlernen der deutschen Sprache auch die kulturellen Elemente vermittelt werden, die Schülern den türkisch-deutschen Kulturtransfer ermöglichen. In diesem Zusammenhang stellen wir uns auch die Frage, ob und inwiefern ihnen durch geeignete didaktisch-methodische Unterrichtsgestaltung und außerschulische Angebote Unterschiede, Gemeinsamkeiten, Differenzen und Verflechtungen diverser kultureller Elemente bewusst gemacht werden können.
Ein Blick in die Lehrpläne dieser Schulen mit intensivem Deutschunterricht zeigt, dass in den Lehrplänen neben der Erweiterung der sprachlichen Kenntnisse auch der Vermittlung der kulturellen Elemente viel Zeit und Raum eingeräumt wird (Tapan 2012, S. 472 ff.). So nehmen beispielsweise im Primarund in der Sekundarstufe I Themen wie Feste und damit verbundene Bräuche, Schulleben, Freizeitgestaltung, Familienalltag usw. einen festen Platz im Unterricht ein. Als Beispiel wollen wir die Aktivitäten heranziehen, bei denen die Schüler über die deutschen Feste wie Laternenumzug, Ostern, Weihnachten landeskundliche Kenntnisse und Erfahrungen erwerben. In allen Schulen mit intensivem Deutschunterricht werden diese Feste als kulturvermittelndes Thema in der Unterrichtspraxis durch spielerisch orientierte und handlungsbezogene, projektorientierte Verfahrensweisen eingeführt. Die Beispiele der Unterrichtspraxis verdeutlichen, dass derartige Aktivitäten den Schülern nicht nur Spaß machen, sondern sie auch für das weitere Erlernen der deutschen Sprache motivieren. Dabei ist der Vergleich mit den eigenen Lebenserfahrungen im Unterricht insoweit von Bedeutung, als dadurch den Schülern die Möglichkeit geboten wird, sich schon im frühen Alter mit kulturellen Differenzen und Gemeinsamkeiten zu konfrontieren und somit ein Bewusstsein für „eigene“ und „fremde“ Lebensformen zu entwickeln. Mit anderen Worten: Dieses Bewusstsein über kulturelle Differenzen und Gemeinsamkeiten kann erst dann zu einem kulturellen Austausch beitragen, wenn auch im Unterrichtsgeschehen nicht nur die Kenntnisse der deutschen Kultur, sondern auch die Lebenserfahrungen der Schüler durch schülergerechte Strategien und Vergleiche einen festen Platz finden. Mit Krumm (1994, S. 118) kann deshalb auch gesagt werden: „Fremdsprachenunterricht beschäftigt sich mit der Sprache und den Kulturen der Zielsprache vor dem Hintergrund der eigenkulturellen Prägungen der Lernenden, d. h. Fremdes und Eigenes gehören in der Betrachtung zusammen.“ Demgemäß soll also das erzielte kulturelle Konzept im Deutschunterricht dazu verhelfen, dass die Schüler nicht nur für das Fremde, sondern auch für das Eigene sensibilisiert werden und die Differenzen nicht nur in der fremden, sondern auch in der eigenen Kultur erkennen. Das hier dargestellte Konzept ist insofern als eine interkulturelle Herangehensweise zu betrachten. Wir sind der Ansicht, dass diese Herangehensweise im Deutschunterricht Schüler schon in frühen Jahren zu einer kulturellen Sensibilisierung führen kann, die als die ersten Schritte zu einem Kulturaustausch im transnationalen Raum Deutschland-Türkei angesehen werden können.
Welche Faktoren tragen aber zur Realisierung dieses Konzepts bei? Um diese Frage zu beantworten, möchten wir kurz auf die benötigten Qualifikationen der Deutschlehrer eingehen, die bei der Umsetzung der erwähnten kulturellen Ansätze in die Unterrichtspraxis eine Schlüsselrolle spielen. Wer als Lehrer seine Schüler zu einer kulturspezifischen Sichtweise führen will, sollte als Kulturmittler fungieren können und auch selbst Erfahrungen in beiden Kulturen und Sprachen ins Klassenzimmer mitbringen.
Die zentrale Frage für unsere Thematik lautet demnach: Gibt es Lehrer, die über Kenntnisse und Erfahrungen in beiden Kulturen verfügen und fähig sind, diese zu vermitteln? Insbesondere im Bereich Deutsch als Fremdsprache verfügt die Türkei über ein überdurchschnittlich großes Potenzial an Lehrenden, die aufgrund ihrer eigenen Lebensgeschichte hervorragend für diese Aufgabe geeignet sind. Was sind jedoch die Besonderheiten dieser Lehrergruppe?
Ein Großteil der Deutschlehrer, die in den oben genannten Schulen unterrichten, verfügen über einen deutsch-türkischen Migrationshintergrund. Viele dieser Lehrer sind in Deutschland geboren oder kurz nach der Geburt nach Deutschland gekommen und haben wichtige Phasen ihrer Kindheit und Jugend in Deutschland verbracht. Im Zuge ihres Aufenthaltes in Deutschland haben sie deutsche Schulen besucht, und nach ihrer Rückkehr in die Türkei setzten sie ihre Ausbildung in der Regel an türkischen Schulen fort. Ihre sprachlichen Kenntnisse bewegen sich deshalb auf hohem Niveau, insbesondere, wenn es um die alltägliche Kommunikation geht. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, dass sie über kulturell geprägte Alltagserfahrungen in Deutschland und in der Türkei verfügen und sich in beiden Kulturen heimisch fühlen. Als Lehrer sind sie deshalb besonders gut imstande, die kulturbezogenen Lernprozesse in Deutschland und in der Türkei im eigenen Unterricht so zu thematisieren, dass ihre Schüler für kulturelle Begegnungen sensibilisiert werden können. Übertragen auf den Deutschunterricht bedeutet das, dass sie sich bei der Durchführung der kulturellen Themen im Unterricht nicht nur mit der Vermittlung der Fakten begnügen. Ihre in der Regel nach wie vor lebendigen kulturgeprägten Erinnerungen und Erlebnisse in beiden Kulturen ermöglichen ihnen, dies im Unterricht als eine Art „erlebte Landeskunde“ weiterzugeben. Dabei können sie ihren Unterricht in einer Form gestalten, in der die Lernsituation dem realen Leben nahe ist. Dadurch ist die Kommunikation zwischen Lehrern und Schülern verstärkt durch einen Wirklichkeitsbezug geprägt. Insbesondere die Auseinandersetzung mit kulturellen Differenzen des selbst Erlebten erweckt bei Schülern unter Umständen mehr Interesse als ein Kennenlernen der Kulturen über reines Faktenwissen. Mit anderen Worten kann deshalb auch gesagt werden, dass die migratorisch geprägten Biografien der Deutschlehrer, deren Lebenswelt durch die Mischung der Kulturen gekennzeichnet ist, ein wichtiges kulturelles Kapital der Lehrenden ist. Insbesondere durch dieses kulturelle Kapital sind sie imstande, ihren Schülern Wissen und Erfahrung mitzugeben, was die Grundlage für einen erfolgreichen und ergiebigen Kulturaustausch darstellen kann (Hatipoğlu 2009, S. 45; Polat und Tapan 2001, S. 182; Tapan 2012, S. 474 f.).
Von diesen Überlegungen ausgehend, möchten wir im Folgenden auf einen weiteren Punkt eingehen. Wenn wir vom „Bezug zur Wirklichkeit“ sprechen, so ist es von Bedeutung, dass der kulturelle Austausch im geografischen Raum Türkei-Deutschland stattfindet. Ein Ziel dieses Deutschunterrichts muss sein, die im Unterricht erworbenen sprachlichen und kulturellen Kenntnisse und Erfahrungen z. B. im Kontext von Austauschprogrammen und Begegnungen im Laufe der Zeit zu lebendigen Sprachkontakten zwischen deutschen und türkischen Schülern zu erweitern[3].
Schulen mit intensivem Deutschunterricht sowie andere Bildungsinstitutionen, wie z. B. das Goethe-Institut, fördern diese Austauschprozesse und ermöglichen es, Schülern sowohl in Deutschland als auch in der Türkei Erfahrungen im Umgang miteinander zu sammeln. Ein wichtiges Evaluationskriterium für den Deutschunterricht in der Türkei ist dabei, ob die im Unterricht erworbenen kulturellen Kompetenzen die Schüler auch in realen Situationen auβerhalb des Unterrichts handlungsfähig machen. Wie schon erwähnt, bekommen die Schüler die Möglichkeit, durch Austauschprogramme oder Partnerschaften mit deutschen Schülern ihres Alters in der Türkei oder in Deutschland „auf natürliche Weise“ über nationale Grenzen hinweg in einen Austauschprozess zu treten. Königs unterstreicht die Relevanz derartiger Programme und betont, „dass ein auf interkulturelles Lernen ausgerichteter Schüleraustausch gute Bedingungen für gegenseitiges Verstehen und über Kulturgrenzen hinweg reichendes Lernen schafft“ (Königs 1994, S. 103). Die Projekte, die zwischen deutschen und türkischen Schülern realisiert werden, wie beispielsweise die Comenius-Projekte oder PASCH-Sommercamps [4], spielen bei der Öffnung von Begegnungsräumen eine zentrale Rolle. Durch diese über die Grenzen hinwegführenden Projekte können Schüler aus unterschiedlichen Ländern und Kulturen miteinander an und in Projekten arbeiten und so in Kommunikation treten. Sie öffnen sich somit Türen zu unterschiedlichen Kulturen. Entscheidend für die Entwicklung interkultureller Handlungskompetenzen ist allerdings eine effektive Vorbereitung und auch Auswertung der Mobilitätsprogramme; denn es ist keinesfalls so, dass sich interkulturelles Verständnis füreinander automatisch durch eine Begegnung oder einen Austausch einstellt[5].
Des Weiteren spielen die Medien in diesen kulturellen Austauschprozessen eine essenzielle Rolle. Edelhoff (2009, S. 23) betont in diesem Zusammenhang:
„Gemeinsame Aufgaben ( tasks) des praktischen Lernens verbinden Lernende über Grenzen hinweg, vielfältig unterstützt durch die Nutzung der herkömmlichen und der neuen Medien.“ Hält man sich außerdem vor Augen, welche Rolle neue Medien und soziale Netzwerke in den Lebenswelten der heutigen Jugend spielen und in welchem Maße diese Technologien ein integraler Bestandteil von Lebenswirklichkeit geworden sind, so ist nachvollziehbar, dass auch die neuen Medien neue Begegnungsräume eröffnen und einen wesentlichen Beitrag bei der Entwicklung von interkulturellen Kompetenzen durch Kulturkontakte leisten können. So tragen heute beispielsweise E-Mail-Freundschaften oder Schulpartnerschaften, die über Skype und Facebook ermöglicht werden, dazu bei, grenzüberschreitende Kontakte auszubauen und zu verfestigen.
Aus all diesen Gründen möchten wir abschließend nochmals unterstreichen, dass ein Deutschunterricht, in dem Fremdsprachenlernen als interkulturelles Lernen konzeptionalisiert wird, als eine Brücke angesehen werden kann, die versucht, unterschiedliche Kulturen einander näherzubringen. Durch das hier dargestellte Kulturkonzept der deutschsprachigen Schulen werden den Lernenden von klein auf Wege zu Kulturkontakten eröffnet, die sich zweifelsohne positiv auf die Entwicklung der kulturellen Sensibilität der Schüler auswirken.
Aus den obigen Ausführungen kann demnach unserer Meinung nach festgehalten werden, dass den Bedürfnissen der modernen Lebensumstände entsprechend die deutschsprachigen Schulen im türkischen Schulwesen ein wichtiges Potenzial zur Vermittlung eines transnationalen Bildungskapitals beinhalten, und gerade dies muss unterstützt und gefördert werden.
- [1] Der Begriff Schüler wird hier als unmarkierte generische Form gebraucht. Es wird damit sowohl auf Schülerinnen als auch auf Schüler verwiesen. Das Gleiche gilt auch für Lehrer.
- [2] Einige der Anadolu-Gymnasien mit Deutsch als erste Fremdsprache sind: Bahçelievler Anadolu Lisesi (mebk12.meb.gov.tr/meb_iys_dosyalar/34/28/344516/); Cağaloğlu Anadolu Lisesi (cagalogluanadolulisesi.meb.k12.tr/); Gaziosmanpaşa Anadolu Lisesi (mebk12.meb.gov.tr/meb_iys_dosyalar/34/11/349843/); Istanbul Lisesi ( istanbullisesi.net/index.php/en/); Kabataş Erkek Lisesi (mebk12.meb.gov.tr/meb_iys_ dosyalar/34/03/456448/); Kartal Anadolu Lisesi (kartalanadolu.meb.k12.tr/)
- [3] Es bestehen mehrere Schulpartnerschaften zwischen türkischen und deutschen Schulen, hier sollen zwei Beispiele repräsentativ genannt werden: die Partnerschaft zwischen dem Europakolleg (Avrupa Koleji) und dem Schloss Neuhaus (Paderborn) sowie zwischen dem Kabataş Lisesi und dem Wilhelm Hausenstein-Gymnasium (München)
- [4] Insbesondere die PASCH-Kurse bzw. -Sommercamps (http//blog.pasch-net.de/jugendkurse) bieten in dieser Hinsicht Möglichkeiten der Begegnung.
- [5] Schlimmstenfalls können sich stereotype Vorstellungen und Klischees über die „anderen“ durch eine Begegnung oder einen Austausch auch verstärken. Siehe für eine aktuelle kritische Auseinandersetzung mit Mobilityund Austauschprogrammen auch Küppers und Bozdağ (2015)