Die „harten“ Erklärungen des chinesischen Puzzles

Moderne Ökonomen sind bekannt für ihre rigorose Methodologie, die häufig als ein wichtiges Kriterium für die Qualität wissenschaftlicher Arbeit angesehen wird. Nach dem ökonomischen Ansatz wird der Mensch als ein Geschöpf verstanden, das gänzlich von Eigeninteresse oder Eigenliebe beherrscht ist. Viele Formen des menschlichen Verhaltens könnten dann als Ergebnis rationaler Nutzenmaximierung verstanden werden (vgl. Becker 1990). Aus dieser Perspektive ist jedes soziale Phänomen durch die Analyse des Gesamteffekts des rationalen individuellen Verhaltens erklärbar und die moderne Ökonomik lässt sich auf Gebiete ausdehnen, die eher zu anderen Disziplinen gehören, z.B. die Politikwissenschaft, Soziologie und Ethik oder sogar die Anthropologie. Die auf diesem Ansatz basierenden Theorien kann man dann als „hart“ bezeichnen.

Dass jeder Akteur seinen Nutzen zu maximieren sucht, ist nach den „harten“ Theorien universell gültig. Deswegen ist der Schlüssel zum Puzzle Chinas in dem staatlichen Rahmen zu suchen, der die Interessenstrukturen gestaltet und einen bedeutenden Einfluss auf individuelle Entscheidungen ausübt. Die These, dass die Entwicklung der Privatökonomie nicht das ursprüngliche Ziel der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) war, wird zwar als durchaus überzeugend akzeptiert; allerdings kann die Entstehung des chinesischen Kapitalismus in den Augen zahlreicher Wissenschaftler doch auf die Reform am Ende der 1970er Jahre zurückgeführt werden, aus der sie als ein „Nebenprodukt“ hervorgegangen sei. Für diese Wissenschaftler übten die Veränderungen der politischen Rahmenordnung einen großen Einfluss auf das wirtschaftliche Leben der einfachen Menschen aus, deren rationale Reaktionen schließlich in eine weitere Reform zugunsten der Privatökonomie mündeten. Drei relevante Ansätze können hier genannt werden:

Gradualismus-Ansatz

Nach dieser Sichtweise ist die Reform in China partieller und gradualistischer Natur. Der Marktmechanismus wurde wegen der großen Vorbehalte gegenüber dem Kapitalismus nicht sofort eingeführt. Stattdessen hat die chinesische Regierung durch kleinere Maßnahmen, die auf die Rahmenbedingungen bezogen waren, Stück für Stück die nationale Ökonomie liberalisiert. Diese Maßnahmen sind für manche Wissenschaftler (vgl. Jefferson/Rawski 1994; Naughton 1995; Rawski 1999) die eigentlichen Ursachen des „Wirtschaftswunders“. Der Reformprozess wurde durch dynamische Interaktionen zwischen der Regierung und der Bevölkerung vorangetrieben (Rawski 1999: 142):

In China, reform is not a sequence of events in which the state makes decisions to which businesses and individuals react. Reform unfolds as an extended process replete with interaction and feedback among government administrations, enterprises, workers and consumers. Thinking about reform as an interactive process clarifies important aspects of economic change in China. Erosion of governmental power is both an unintended consequence and a powerful engine of China's reform.

Demnach hatten sowohl die Regierung als auch die Marktakteure keine langfristigen Vorstellungen über die Auswirkungen der Reform, und jede Handlung einer Seite war eine rationale Reaktion auf die vorangegangenen Handlungsweisen der anderen Seite. Durch die wechselseitigen Interaktionen wurde die Reform nach und nach verwirklicht, ohne dass irgendeine Seite größere „Schmerzen“ zu erdulden hatte. Dieser Mechanismus sei in China sehr erfolgreich gewesen, weshalb die Vertreter des Gradualismus-Ansatzes diese Strategie für alle postkommunistischen Staaten empfehlen. Die „Big Bang“-Strategie, die eine schnelle Privatisierung anstrebt und in Osteuropa und Russland verfolgt wurde, müsse dagegen zu den Akten gelegt werden.

 
< Zurück   INHALT   Weiter >