Konvergenz-Ansatz

Eine Implikation des Gradualismus-Ansatzes ist, dass auch ein Quasi-Marktmechanismus die Ökonomie stimulieren kann (Rawski 1999: 153). Eine Mischung aus Planwirtschaft und Marktwirtschaft, die aus dem Prozess der gradualistischen Reform Chinas entstehe, sei harmlos und eine unvermeidliche Phase einer Übergangswirtschaft. Wing Thye Woo lehnt jedoch diese Annahme ab. Den Gradualismus-Ansatz als „Experimentalist School“ („E-School“) einordnend, plädiert Woo für eine „Convergent School“ („C-School“). Der große Unterschied zwischen beiden Anschauungen besteht hinsichtlich der Einschätzung, ob der wirtschaftliche Erfolg in China durch das Wirken nichtkapitalistischer Institutionen erklärbar ist oder nicht. Für Woo kann die wirtschaftliche Entwicklung in China nur durch die zunehmende Konvergenz mit einer liberalen Marktwirtschaft erklärt werden (Woo 1999: 117):

The C-school holds that China's successes are the consequences of its institutions being allowed to converge with those of non-socialist market economies, and that China's economic structure at the start of reforms is a major explanation for the country's rapid growth.

Aus dieser Sicht ist die Hauptursache für das „Wirtschaftswunder“ in China die Dezentralisierung und Liberalisierung der nationalen Ökonomie. Dass die Reform nur partiell und gradualistisch vorgenommen wurde, sei ein Ergebnis des Kompromisses zwischen konservativen und liberalen Reformern der KPCh. In diesem Sinne hat China große Erfolge nicht wegen, sondern trotz des Gradualismus erzielt. Geht man von dieser Annahme aus, ist eine Reform im Meiji-Stil für weitere Reformen in China zu empfehlen, mit dem das politisierte ökonomische System durch die Marktinstitution vollständig ersetzt würde.

„Lokaler staatlicher Korporatismus“

Der Streit zwischen C-School und E-School besteht im Wesentlichen nur im Hinblick auf die Frage, durch welche Faktoren China seinen wirtschaftlichen Erfolg erzielt hat und auf welche Weise China weitere Reformen vornehmen sollte. Für beide Schulen kann das Ende der Reform Chinas aber nur in einem bestehen: in einer liberalen kapitalistischen Marktwirtschaft, so wie sie in Westeuropa und Nordamerika vorherrscht. Während diese Ansätze die aktuelle Lage Chinas mit einer „Übergangswirtschaft“ für vorläufig halten, die sich irgendwie zu einer vollständigen Marktwirtschaft entwickeln müsse, sind andere Wissenschaftler hingegen der Auffassung, dass die Wirtschaft im heutigen China eine besondere Kombination von sozialistischen und kapitalistischen Elementen verkörpere, die durchaus dauerhaft Bestand haben könne. Eine einschlägige Theorie ist von Jean Oi entwickelt worden, sie diagnostiziert die Etablierung eines „lokalen staatlichen Korporatismus“ (Oi 1995: 1132):

The state responsible for much of this growth is local governments that treat enterprises within their administrative purview as one component of a larger corporate whole. Local officials act as the equivalent of a board of directors and sometimes more directly as the chief executive officers. At the helm of this corporate-like organization is the Communist Party secretary.

Die Idee, die Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung Chinas in lokalen nichtkapitalistischen Institutionen zu suchen, bietet eine neue Perspektive auf das Puzzle Chinas. Doch anstatt auf den internen Mechanismus der lokalen Institutionen einzugehen, greift Oi zur Erklärung wieder auf die Veränderungen im Gefüge der formellen Institutionen zurück. Für sie war einer der wichtigsten Schritte die chinesische Finanzreform am Beginn der 1980er Jahre, durch die die lokalen Regierungen fiskalisch unabhängig wurden. Durch die Finanzreform sei es für die lokalen Regierungen möglich und reizvoll geworden, lokale Unternehmen zu entwickeln, von denen sie profitieren konnten (vgl. Oi 1992). Auf diese Weise wird die institutionelle Innovation – also der lokale staatliche Korporatismus – vor allem als eine strategische Reaktion auf die Finanzreform verstanden.

Mit den geschilderten drei Ansätzen lässt sich die ökonomische Entwicklung Chinas zwar aus verschiedenen Perspektiven analysieren, doch sie teilen eine gemeinsame Grundannahme: Sie gehen von der Theorie der rationalen Entscheidung aus. Der Gradualismus-Ansatz und der Konvergenz-Ansatz halten daran fest, dass die Reform in China durch institutionelle Anreize und die rationalen Anpassungen an sie vorangetrieben worden ist. Doch die private Ökonomie Chinas hat sich in Wirklichkeit schon vor der offiziellen Etablierung der Marktwirtschaft dynamisch entwickelt. Die meisten der die Privatökonomie fördernden Reformen sind dabei als ein Ergebnis der ökonimischen Entwicklung anstatt als deren Ursache zu verstehen. Ebenso hat die Theorie des lokalen staatlichen Korporatismus ihr Defizit. Die kollektiven Unternehmen gehören zwar nominal allen lokalen Einwohner, werden aber tatsächlich von politischen Kadern geführt, die sich nicht dem Willen der Einwohner unterwerfen müssen. Hier taucht ein Prinzipal-Agent-Problem auf: Wie kann garantiert werden, dass ein Agent (Kader) sich zugunsten des Prinzipals (lokale Einwohner) einsetzt, wenn ihm zu große Macht zugewiesen wird? Ohne ein rechtlich gesichertes Privateigentum kann man sich kaum vorstellen, dass Ressourcen im Rahmen eines lokalen staatlichen Korporatismus rational verteilt und effizient verwendet werden. Aus der Sicht dieser Theorie muss es auch als Rätsel erscheinen, dass zahlreiche Staatsunternehmen und auch kollektive Unternehmen aus dem Sektor des lokalen staatlichen Korporatismus zu Beginn der 1990er Jahre sehr schnell privatisiert wurden (vgl. Kung 1999). Wenn diese nichtkapitalistischen Institutionen die rasante Entwicklung in den achtziger Jahren erklären könnten, wäre es umso schwieriger zu verstehen, warum sie Anfang des folgenden Jahrzehnts rasch durch die private Ökonomie ersetzt wurden.

Aus diesen Überlegungen folgt, dass alle drei Ansätze scheitern, wenn es gilt, die zwei Kernfragen meiner Untersuchung zu beantworten: Warum konnte der Kapitalismus in China ohne Privateigentumsrecht entstehen? Und warum hat sein Aufstieg nicht zur Demokratisierung Chinas geführt? Diese zwei Kernfragen hängen zusammen, d.h. eine Beantwortung der ersten Frage kann auch zur Beantwortung der zweiten Frage beitragen. Denn Ökonomie entwickelt sich vor einem historischen Hintergrund immer auf einem bestimmten Pfad. Im nächsten Abschnitt werde ich zunächst die unterschiedlichen Ansätze zur Erklärung des chinesischen Puzzles schildern.

 
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