Zwischen „hart“ und „weich“: die ökonomische Bedeutung von sozialen Beziehungen
Die sich auf „harte“ Faktoren stützenden Theorien konzentrieren sich in erster Linie auf die formellen politischen Reformen und materiellen Anreize, während die „weichen“ Erklärungen kulturelle Werteinstellungen und Weltanschauungen in den Vordergrund rücken. In meinen Augen sind jedoch sowohl die ökonomische Entwicklung als auch die Beständigkeit des politischen Systems in China auf einen kombinierten Effekt von formellen institutionellen Regelungen und der chinesischen Kultur zurückzuführen. Dass ökonomisches Verhalten einerseits von institutionellen Anreizen motiviert und andererseits von Werteinstellungen und Weltanschauungen geprägt wird, gehört auch zu den Alltagserfahrungen (vgl. Schlicht 1990). Deswegen empfiehlt es sich, diese zwei Einflüsse in einem gemeinsamen theoretischen Rahmen zu analysieren. Diesem Leitbild ist auch Weber als ein wichtiger Begründer der Soziologie gefolgt, bevor für lange Zeit eine integrierende Betrachtung von Ökonomie und Kultur verloren ging. Die ökonomische und politische Entwicklung in China scheint jedoch ein guter Untersuchungsgegenstand zu sein, um die beiden Bereiche wieder zu verbinden.
In China existiert eine besondere Institution, die weder zum Staat oder Markt gehört noch als Kultur definiert werden kann. Gleichwohl wird durch sie ein großer Teil der Markttransaktionen organisiert. Die Rede ist von „Guanxi“, was auf Deutsch „soziale Beziehung“ bedeutet. Im Chinesischen hat Guanxi mehrere Bedeutungen: Es impliziert eine langfristige und stabile private Beziehung, welche die Guanxi-Partner dazu verpflichtet, sich gegenseitig zu helfen und sich auf eine dauerhafte Reziprozität einzustellen. Heutzutage spielt Guanxi auch in der Marktwirtschaft eine zentrale Rolle. Es ist kaum übertrieben zu sagen, dass sich in China alles um Guanxi dreht. Fast jeder wirtschaftliche Erfolg in China setzt den Aufbau eines guten und umfassenden Guanxi-Netzwerks voraus, in dem ein Akteur mit zuverlässigen Guanxi-Partnern kooperieren kann.
Der Grund für die Bedeutung von Guanxi für das ökonomische Leben der Chinesen ist seine kulturelle Basis – der Familismus. Familismus fördert das Vertrauen zwischen nahen Verwandten und intimen Freunden, während er Fremden gegenüber Misstrauen nahelegt. Aufgrund dieses partikularen und begrenzten Vertrauens fühlen sich Chinesen – wie Fukuyama behauptet – nur sicher, wenn sie mit ihren Guanxi-Partnern kooperieren. Fremde werden deshalb aus der Zusammenarbeit ausgeschlossen. Auf der anderen Seite entwickelt sich Guanxi bei gewandelten institutionellen Rahmenbedingungen weiter. Fremde sind zwar für die meisten Chinesen nach wie vor nicht zuverlässig, verkörpern in einer Marktwirtschaft jedoch wertvolle Ressourcen, mit denen man sich bessere Chancen auf dem Markt ausrechnen kann. Deswegen versucht jeder, seine Guanxi-Kreise möglichst weit auszudehnen.
In diesem Prozess – ebenso wie in dem Prozess, der der Aufrechterhaltung eines bestehenden Guanxis dient – wird eine besondere Ressource genutzt:
„Soziabilität“ als die Fähigkeit zur intersubjektiven Interaktion und zum Aufbau von sozialen Beziehungen. Verfügt ein Akteur über diese besondere Ressource, ist er in der Lage, ein stabiles Guanxi-Netzwerk zu entwickeln und aufrechtzuerhalten, auch wenn ihm nur bescheidene monetäre und politische Mittel zur Verfügung stehen. Diese sozialen Fähigkeiten haben ihren Platz in der Alltagswelt und in persönlichen Beziehungen, können aber bis in das politische System hinein wirken. Wie die Allokation und Verwendung von Geld und politischer Macht ist deshalb auch die Macht „ohne Gewehrläufe“, welche aus sozialen Netzwerken und persönlichen Vertrauensbeziehungen entsteht, von großer Bedeutung für die institutionellen Veränderungen in China.
Im folgenden Kapitel werde ich das Puzzle Chinas aber zunächst in einen weiteren Zusammenhang stellen. Sowohl die „harten“ als auch die „weichen“ Erklärungen zur Entwicklung Chinas speisen sich aus den theoretischen Grundlagen der „Neuen Institutionenökonomik“. Sie geht der Frage nach, auf welche Weise Institutionen entstehen und sich verändern, insbesondere auch der Frage, warum manche ineffiziente politische und ökonomische Ordnungen dauerhaft existieren können. „Harte“ Erklärungen, im Sinne eines „Calculus Approach“, und „weiche“ Erklärungen, im Sinne eines „Cultural Approach“, werden dabei zu Rate gezogen. Ich werde in Auseinandersetzung mit diesen Ansätzen dafür argumentieren, dass es wichtig ist, drei Arten von Institutionen zu unterscheiden: formelle staatlich-rechtliche Institutionen, informelle soziale Institutionen sowie informelle kulturelle Institutionen.