Der Calculus Approach

Hall und Taylor identifizieren die Rationalitätsannahme als Grundlage des „Calculus“-Ansatzes. Aus dieser Perspektive unterscheidet sich der „Calculus Approach“ kaum von der neoklassischen Ökonomik, der zufolge die Vorlieben und Präferenzen von Individuen exogen gegeben sind und sich die Akteure rational verhalten. Während allerdings die neoklassische Ökonomik einen Markt ohne Transaktionskosten, perfekt rationale Akteure und vollständige Information postuliert, geht die Neue Institutionenökonomik davon aus, dass signifikante Transaktionskosten, begrenzte Rationalität und unvollständige Information auf dem Markt angenommen werden müssen. In modernen Gesellschaften, in denen die individuellen Entscheidungen und das Verhalten einer großen Zahl von Akteuren miteinander verflochten sind, ist der einzelne nicht in der Lage, sein eigenes Schicksal autonom zu bestimmen. Was er erreichen und in welchem Ausmaß er seinen Nutzen maximieren kann, ist stark von den Entscheidungen und dem Verhalten anderer abhängig. Es ist auch unmöglich, alle relevanten Informationen zur Kenntnis zu nehmen, bevor eine Entscheidung in einem gegebenen Fall getroffen wird. Die Sammlung und Verarbeitung dieser Informationen geht über individuelle Fähigkeiten hinaus. Deswegen ist es nötig, die Komplexität der Umgebung und die Transaktionskosten durch Regeln und Normen – nämlich Institutionen – zu reduzieren, die individuelle Entscheidungsmöglichkeiten in bestimmten Situationen lenken und einschränken. Durch Regeln und Normen wird das Verhalten von anderen voraussehbar, Risiken werden für den Einzelnen vermindert und kalkulierbar. Auf diese Weise können Institutionen als „Werkzeuge“ für die Lösung all jener Probleme gelten, die immer wieder in unserem Alltagsleben auftauchen.

Zwei grundlegende Arten von Problemen sind voneinander zu unterscheiden: Koordinations- und Konfliktprobleme. Bei Koordinationsproblemen geht es vor allem um Information und Kommunikation. Eine vielzitierte Koordinationsinstitution bildet im Straßenverkehr das Rechtsbzw. Linksfahrgebot. Dabei steht nicht die Frage im Zentrum, ob entweder ein Rechtsoder Linksfahrgebot als Regel zu etablieren ist. Links zu fahren oder rechts zu fahren macht keinen wesentlichen Unterschied. In diesem Zusammenhang ist es vielmehr entscheidend, dass sich die Verkehrsteilnehmer auf eine der beiden Regeln einigen, so dass sie ihr Verhalten aufeinander abstimmen können. Es würde prohibitive Transaktionskosten erfordern, wenn Autofahrer dieses Koordinationsproblem immer wieder durch situative Kommunikation zu lösen versuchten. Eine Verkehrsregel spart diese Kosten, indem sie die Alternativen der Autofahrer einschränkt. Sobald eine solche Regel festgelegt wird, liegt es im Interesse aller – gleichgültig ob sie egoistisch oder altruistisch motiviert sind –, sich an die einmal gewählte Konvention zu halten.

Während es bei einem Koordinationsproblem vor allem um Information und Kommunikation geht, steht im Konfliktfall das Durchsetzungsproblem im Vordergrund. In der ökonomischen Theorietradition ist das Paradigma für Konfliktfälle das sogenannte Gefangenendilemma, bei dem ein nicht-kooperatives Verhalten, die sog. „Defektion“, für jedes rationale und nutzenmaximierende Individuum die dominante Strategie ist:

Abb. 1 Das Gefangenendilemma

Das Dilemma besteht darin, dass individuell gesehen „Defektion“ in jedem Fall die beste Wahl ist, die beteiligten Akteure gemeinsam aber nur ein suboptimales Ergebnis (0, 0) erzielen, wenn sie individuell die „beste“ Strategie verfolgen. Das kollektive Nutzenoptimum (1, 1) kann nur verwirklicht werden, wenn beide eine kooperative Strategie verfolgen würden. Auch hier können Regeln und Normen eine Lösung darstellen, wobei allerdings nicht mehr das Informationsoder Kommunikationsproblem im Zentrum steht, sondern das „Bindungsproblem“. Denn unabhängig davon, ob der andere Akteur kooperiert oder sich verweigert, ist die rationale Entscheidung für den Einzelnen die „Defektion“. In einer solchen Situation können eigennützige Akteure, wie sie der „Calculus Approach“ voraussetzt, zur Befolgung von Normen nur dann bewegt werden, wenn jedes abweichendes Verhalten bestraft wird: Eine wirksame Institution muss im Konfliktfall Individuen Zwangsrestriktionen auferlegen. Externe Anreize anstatt Präferenzen zu ändern, gehört aus dieser Perspektive zur Hauptaufgabe von Institutionen.

Im „Calculus Approach“ sind aber nicht nur formelle Institutionen wie Gesetze als rationale Entwürfe von Menschen anzusehen, mit dem sich Koordinations- und Konfliktprobleme lösen lassen. Auch informelle Institutionen wie Moral und Kultur werden als Ergebnis rationalen Handelns interpretiert. So schreiben etwa Karl Homann und Andreas Suchanek Moral und Rationalität eine gleiche Funktion zu, nämlich „einen Beitrag zur Lösung von ökonomischen Problemen, von Knappheitsproblemen, zu leisten“ (Homann/Suchanek 1987: 113). Da sich moralische Normen im Kern auf ökonomische Probleme beziehen würden, sollten sie auch durch ökonomische Rationalität verstanden werden.

Die traditionelle metaphysische Begründung der Moral sei dagegen ein Holzweg. Auch Douglass North, der als Ökonom Kultur und Ideologie in die Untersuchung wirtschaftlicher Entwicklungen einbezieht, versucht, informelle Institutionen aus ihrer Einbindung in formelle Institutionen zu erfassen (North 1990: 111):

Ideas and ideologies matter, and institutions play a major role in determining just how much they matter […] by structuring the interaction of human beings in certain ways, formal institutions affect the price we pay for our actions, and to the degree the formal institutions are deliberately or accidentally structured to lower the price of acting on one's ideas, they provide the freedom to individuals to incorporate their ideas and ideologies into the choices they make.

Es scheint demnach, dass im „Calculus Approach“ nicht-ökonomische Elemente wie Moral und Kultur zwar nicht ausgeschlossen, sie aber doch auf ökonomische Rationalität reduziert werden. In diesem Sinne ist die Etablierung unterschiedlicher Institutionen als Ergebnis rationalen Verhaltens von Menschen zu verstehen, die damit vielfältige Probleme im Alltagsleben zu lösen versuchen. Damit stellt sich jedoch die Frage, warum in manchen Gesellschaften – z.B. der VR China – politische Institutionen trotz ihrer Ineffizienz langfristig überdauern konnten und können, ohne durch den Institutionenwettbewerb verdrängt zu werden.

Dieses Problem ist eine der zentralen Fragestellungen von North (1990). Für ihn liegt der Schlüssel zur Beantwortung in der „Pfadabhängigkeit“. Demnach können die politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen zu einem bestimmten Zeitpunkt einen Entwicklungspfad festlegen, der sich kaum verändern lässt. Das Phänomen der Pfadabhängigkeit wurde erstmals im Zusammenhang mit der sogenannten QWERTY-Tastatur diskutiert, anhand deren Geschichte Paul David zu dem Schluss gelangte, dass „competition in the absence of perfect futures markets drove the industry prematurely into standardization on the wrong system – where decentralized decision making subsequently has sufficed to hold it“ (David 1985: 336). Aufgrund fehlender Kenntnisse über die Zukunft können sich rationale Akteure also für ein falsches System entscheiden, das zwar momentan ein Problem löst, sich im Laufe der Zeit aber als defizient erweisen kann. Und trotz der zu Tage tretenden Ineffizienz können rationale Akteure dennoch das System am Leben erhalten, weil seine Veränderung zu hohe Kosten erfordern könnte.

North verwendet die Theorie der Pfadabhängigkeit im politisch-ökonomischen Kontext und weist auf einen zusätzlichen Beharrungsfaktor hin: „The increasing returns characteristic of an initial set of institutions that provide disincentives to productive activity will create organizations and interest groups with a stake in the existing constraints. They will shape the polity in their interests“ (North 1990: 99). In ähnlicher Weise argumentiert Mancur Olson (1982): Die Inflexibilität von Institutionen bei der Anpassung an neue Entwicklungen sei auf den politischen Einfluss organisierter Akteure zurückzuführen, die von den bestehenden Institutionen profitieren. Aus dieser Perspektive ist das Überdauern ineffizienter Institutionen ein Ergebnis der rationalen Strategien von mächtigen Akteuren, die aus Eigeninteresse alle Anstrengungen zur Aufrechterhaltung des Status quo unternehmen. Eine institutionelle Reform ist dann nur möglich, wenn sich die relevanten Akteure selber wegen einer fühlbaren Verschlechterung ihrer Kosten- und Nutzenbilanzen für eine neue Ordnung interessieren oder wenn sie aufgrund einer Veränderung politischer und gesellschaftlicher Strukturen ihre Verhandlungsmacht verlieren.

Der „Calculus Approach“ beruht auf einem Methodologischen Individualismus. Institutionen spielen für ihn zwar eine wichtige Rolle, ihre Entstehung und Entwicklungsdynamik müssen aber auf die individuellen Entscheidungen der involvierten Akteure zurückgeführt werden: Sie sind ein Resultat der Handlungen und Strategien von rationalen und eigennützigen Individuen. Auch die Neue Institutionenökonomik teilt insofern die selbstbewußten Ambitionen von Ökonomen, wie sie Hirshleifer beschrieben hat: „economics really does constitute the universal grammar of social science“ (1985: 53). Auch die Institutionenökonomik beteiligt sich deshalb an der Invasion ökonomischen Denkens in all jene Gebiete, die traditionell zu anderen Wissenschaftsdisziplinen gehören. Dieses ehrgeizige Projekt steht jedoch vor mindestens drei Schwierigkeiten:

(1) „Second-Order“-Dilemma: Wenn Institutionen Kollektivgüter darstellen, gerät ihre Bereitstellung selbst in ein Gefangenendilemma, bei dem jeder versucht, persönliche Investitionen in die Institutionen zu vermeiden, auch wenn deren Etablierung und Unterhaltung im gemeinsamen Interesse liegt. Auf dieser Weise unterliegt der „Calculus Approach“ demselben Problem, das von ihm gerade gelöst werden sollte (vgl. Bates 1988: 395). Besonders in Konfliktfällen, in denen Zwangsinstitutionen erforderlich sind, ist das Dilemma gravierend. Es spricht deshalb Einiges für die Hypothese, dass die Existenz von Institutionen, wie etwa dem Rechtsstaat, bereits einen Hinweis dafür darstellt, dass in einer solchen Gesellschaft eine „moralische Basis“ besteht, die sich nicht auf ökonomisches Kalkül reduzieren lässt. [1]

(2) „Verdrängungseffekt“: Aus der Sicht des „Calculus Approach“ dienen Institutionen unter anderem dazu, unsere Abhängigkeit von Moral und Tugend zu minimieren: „economize on virtue“ (vgl. Brennan/Hamlin 1995). Institutionen können Individuen demnach von moralischen Anforderungen emanzipieren und gewährleisten, dass auch egoistische Handlungen zu moralisch wünschenswerten Konsequenzen führen. Dieser Hoffnung wird jedoch entgegen gehalten, dass eine moralische Motivation gerade verdrängt werden kann, wenn man ausschließlich durch Belohnung und Bestrafung zu einem moralischen Verhalten veranlasst wird (Frey 1993, 1997; Taylor 1982, 1987; Titmuss 1997). Ein solcher „Verdrängungseffekt“ von Institutionen würde dazu führen, dass Menschen von moralischen Normen abweichen werden, sofern ihr Verhalten nicht mehr prämiert oder bestraft wird. Institutionen, die Tugenden nur sparen sollten, werden auf diese Weise Tugenden darüber hinaus schwächen.

(3) Überwachungs- und Sanktionskosten: Wenn Menschen die an sie gerichteten Regeln und Normen grundsätzlich nicht aus eigenem Antrieb befolgen, werden die Kosten extrem hoch, um sie allein mit Zwangsinstitutionen durchzusetzen. Außerdem droht unter dieser Bedingung das Implementationsproblem in einen infiniten Regress zu münden, „bei der man für jede Institution eine andere Institution zur Stabilisierung benötigt, was die Transaktionskosten jeder einzelnen Institution zur Lösung eines Konfliktproblems immer weiter in die Höhe treiben kann“ (Kubon-Gilke 1997: 53f.). Auch ist in diesem Fall der unvermeidlichen Lücke zwischen institutionellen Regulierungen und der sozialen Realität Rechnung zu tragen. Würde man andererseits einem staatlichen Zwangsapparat ausreichende Macht und Autorität für eine umfassende Überwachung und Sanktionierung zubilligen, käme man bald zu einem Staatsmodell wie dem Hobbesschen Leviathan, unter dem individuelle Freiheiten und Rechte Makulatur würden.

Aber auch unsere Alltagserfahrungen stellen eine universelle Unterstellung nutzenmaximierender Rationalität in Frage. In vielen Situationen – besonders in jenen, die regelmäßig und kontinuierlich wiederkehren – halten wir uns einfach an die bestehenden Normen und Regeln, ohne zu überlegen und rational zu kalkulieren, ob es eine bessere Entscheidung gibt. Menschen habitualisieren ihr Verhalten, so dass sie sich in ähnlichen Situationen nicht immer wieder erneut entscheiden müssen. Dass sich Menschen in vielen Fällen gewohnheitsmäßig und nicht rational verhalten, ist ein wichtiger Aspekt bei der Analyse von Institutionen, auch in ökonomischen Kontexten. [2] Diesen Aspekt hat der „Calculus Approach“ aber vernachlässigt, indem er seine Institutionenanalyse ausschließlich unter die Prämisse uneingeschränkter Rationalität stellt.

  • [1] Eine solche Basis wird etwa als „Minimalethik“ (Ulrich 1990: 124), „nichtökonomische Voraussetzung“ (Wieland 1990: 150) oder als „Vorhandensein ziviler Tugenden“ (Baurmann 1996: 261– 277) charakterisiert.
  • [2] Zur wichtigen Rolle von Gewohnheit in Institutionen vgl. Hodgson (2006: 6f.).
 
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