Die Grenzen des „Cultural Approach“
Obschon der „Cultural Approach“ viele Fragen relativ erfolgreich beantwortet, kann er insgesamt nicht überzeugen. Die Hauptkritik besteht darin, dass er zu viel Gewicht auf die Beharrungskraft der Kultur legt, Möglichkeiten von Veränderung und Entwicklung erscheinen nur als sehr gering, wenn nicht überhaupt ganz ausgeschlossen. So hat Greif den Begriff der „fundamentalen Asymmetrie“ vorgeschlagen, um zu verdeutlichen, wie schwer neue Möglichkeiten in einer Kultur zu verwirklichen sind. „Fundamentale Asymmetrie“ bezieht sich dabei auf eine asymmetrische Spannung zwischen „institutional elements inherited from the past“ und „technologically feasible alternatives“ (Greif 2006: 187). Die begrenzte Fähigkeit, neue Situationen zu erfassen und in ihnen eine erfolgreiche Strategie zu wählen, veranlasst die Akteure, auf vergangene Erfahrungen, Kenntnisse und Institutionen zurückzugreifen. Dabei vertritt Greif vier Thesen: 1. Institutionelles Raffinement: Institutionelle Entwicklung zeichnet sich durch die Verbesserung der alten Institutionen aus, anstatt durch die Schaffung von neuen; 2. Umwelteffekt: Die alten Institutionen sind die Ausgangspunkte und die Umwelt der neuen Institutionen, deren Entwicklung deswegen weitgehend von den alten Institutionen beherrscht wird; 3. Koordinationseffekt: Um sich untereinander abzustimmen, müssen die Individuen nach Vorbildern für gelingende Koordination in vergangenen Institutionen suchen; [1] 4. Inklusionseffekt: Neue Institutionen werden viele Elemente aus alten Institutionen übernehmen.
Die fundamentale Asymmetrie institutioneller Entwicklung hat Greif in seiner bereits erwähnten historiographische Studie (2006) über die Genueser und die Maghribis dargestellt und erläutert. Diese zwei Gruppen mittelalterlicher Händler entwickelten verschiedene Lösungen zu dem Prinzipal-Agenten Problem: eine individualistische Lösung bei den Genuesern und eine kollektivistische bei den Maghribis. Mit diesen unterschiedlichen Strategien waren beide Händlergruppen zunächst sehr erfolgreich. Doch während die sich verändernden Rahmenbedingungen für die individualistische Kultur immer günstiger wurden, wurden die Geschäftsleute der Maghribis angesichts der anstehenden ökonomischen Probleme zunehmend handlungsunfähiger. Die fundamentale Asymmetrie und die Pfadabhängigkeit machte es nach der Analyse Greifs für die Maghribis unmöglich, ihr altes kollektives System durch ein individualistisches System zu ersetzen, um ihre ökonomischen Schwierigkeiten zu überwinden. Aus diesem Grund seien die Geschäftsleute der Maghribis im Laufe der Zeit allmählich verschwunden, während die Genueser sich hätten halten und gedeihen können.
Folgt man dieser Analyse, scheint das Schicksal einer Kultur bereits besiegelt, wenn Menschen irgendwann bestimmte Lösungen für ihre Probleme unter vielen Alternativen gewählt haben. Die ursprünglichen Entscheidungen würden demnach den späteren Entwicklungspfad mehr oder weniger determinieren. Neue Institutionen wären nur möglich, wenn sie auf den alten Institutionen beruhen, auch wenn das traditionelle Wissen in neuen Situationen überholt ist. Diese Auffassung erklärt zwar überzeugend, warum ineffiziente Institutionen manchmal lange überdauern können, aber sie ist inadäquat angesichts erfolgreichen gesellschaftlichen Wandels. Es ist sicher richtig, dass Kultur eine dominante Rolle bei der Institutionenentwicklung spielen kann, wie im Fall der Genueser und Maghribis. Auf der anderen Seite können wir jedoch beobachten, dass sich gesellschaftliche Institutionen in einigen Kulturen erfolgreich an neue Situationen anpassen konnten, indem alte Sichtweisen und Einstellungen überwunden wurden. In der Ming- und der Qing-Dynastie etwa hielten die Konfuzianer den „Geschäftsmann“ nicht mehr für einen niedrigstehenden, unwürdigen Beruf, sondern engagierten sich aktiv auf diesem Feld. Am Ende der Kulturrevolution verlor die kommunistische Kultur ebenfalls an Bedeutung, und der traditionelle Familismus erlebte eine Wiederbelebung. Angesichts von solchen erfolgreichen Änderungsprozessen können Menschen nicht mehr generell als passive soziale Wesen angesehen werden, die sich immer nach gegebenen Verhaltensmustern richten, sondern müssen als aktive und gestaltende Akteure betrachtet werden, die in neuen Situationen auch neue Institutionen zur Lösung der jeweils aktuellen Probleme entwickeln und aufbauen können.
Die Divergenz zwischen dem „Calculus Approach“ und dem „Cultural Approach“ ist zwar nicht unerheblich, aber ihr gemeinsamer Beitrag zur Vermittlung zwischen Ökonomik und Soziologie sollte nicht außer Acht gelassen werden. Durch diese zwei Perspektiven wird die traditionelle Spannung zwischen Individualismus und Kulturalismus bzw. zwischen Ökonomik und anderen Sozialwissenschaften verringert. Beide Ansätze nehmen an, dass der Mensch sein Verhalten institutionalisieren muss, um in einer Welt voller Unwissenheit und Unsicherheit überleben zu können. Der Hauptunterschied zwischen ihnen besteht darin, dass der „Calculus Approach“ die Befolgung von Normen und Regeln individuell rational erklären will, während der „Cultural Approach“ Normenbefolgung vor allem als ein Ergebnis von Habitualisierung versteht, die weitgehend immun gegen individuelle Rationalität ist.
Ist eine dritte Perspektive möglich, aus der einerseits an der relativen Unabhängigkeit von Institutionen gegenüber individueller Rationalität festgehalten werden kann, die andererseits aber auch offen ist, um institutionelle Veränderungen adäquat erfassen zu können? Auf diese Frage soll im folgenden Abschnitt eingegangen werden.
- [1] Mit diesem Koordinationseffekt versucht Cristina Bicchieri (2006: 176–197) die Beharrungskraft von unpopulären Normen zu erklären. Sie argumentiert, dass Individuen zu der Illusion kommen können, dass Normen, die von ihnen abgelehnt werden, von anderen allgemein anerkannt würden. Aus diesem Grund kann eine Norm dauerhaft existieren, obwohl sie tatsächlich von allen abgelehnt wird.