Mianzi

Unter Mianzi, also „Gesicht“, wird im chinesischen Kulturkreis nicht das physische Antlitz verstanden, sondern die Ehre, die Anerkennung und der soziale Status einer Person. Aber wie durch die wörtliche Bedeutung von „Gesicht“ bereits angedeutet wird, handelt es sich bei Mianzi um eine Eigenschaft der „Oberfläche“, also um Ehre und sozialen Status, die eine Person scheinbar besitzt. Das heißt, im Zentrum von Mianzi stehen all jene Meinungen, die Andere über eine bestimmte Person haben, bzw. die Wertschätzung, die ihr von ihren Mitmenschen entgegengebracht wird. Mianzi gehört zum „Impression Management“ im Sinne von Erving Goffman. In Analogie zum Theater unterscheidet Goffman (1990) zwei soziale Verhaltenstypen: das Verhalten auf der Vorder- und der Hinterbühne. Auf der Vorderbühne versucht man die erwartete soziale Rolle zu spielen und einen guten Eindruck bei Anderen zu machen. Diese Kontrolle über die eigene Erscheinung wird von Goffman als „Impression Management“ bezeichnet. Mianzi ist insgesamt das wichtigste Instrument des „Impression Management“ im Alltagsleben von Chinesen.

Für die meisten Chinesen wäre der Verlust von Mianzi traumatisch. Deswegen versuchen sie um jeden Preis, ihr Mianzi aufrechtzuerhalten. Normalerweise wird dabei der Begriff Mianzi in zwei Zusammenhängen verwendet. Erstens heißt es: „A hat Mianzi“ (you mianzi), wenn A großes Ansehen bei seinen Verwandten und Freunden genießt. Die zweite Verwendungsweise bezieht sich auf Handlungen: „A gibt mir Mianzi“ (gei wo mianzi) oder „A gibt mir kein Mianzi“ (bu gei wo mianzi), wenn A eine Bitte erfüllt oder zurückweist.

Um den Besitz von Mianzi zu demonstrieren, also „you mianzi“, muss man sich so verhalten, als ob man viele Ressourcen besitzt, wie Geld, politische Macht oder soziales Kapital, also Guanxi. Dies kann anhand einer kleinen Komödie während des Frühlingsfest-Galaabendes im Fernsehsender CCTV (China Central Television) aus dem Jahr 1995 illustriert werden. In dieser Komödie – „Bitte melden Sie sich, wenn Sie meine Hilfe brauchen!“ (you shi ning shuo hua) – spielte Donglin Guo, ein bekannter Komiker in China, einen einfachen Menschen, der auf sein Mianzi außergewöhnlich sorgfältig Acht gibt. Um mehr Mianzi bei seinen Freunden und Kollegen zu gewinnen, lehnt Guo niemals die Bitten von Anderen ab, auch wenn sie manchmal seine Fähigkeiten überfordern. So war im Jahr 1995 eine Zugfahrkarte für den Fernverkehr nur äußerst schwer zu kaufen. Aber wenn man ein funktionierendes Guanxi mit einem Kader im Eisenbahnministerium hatte, konnte man eine Fahrkarte ohne Schwierigkeiten und sogar kostenlos erhalten. Einen Zugang zu kostenlosen Zugfahrkarten zu besitzen, wurde deswegen in jener Zeit besonders geschätzt, und diejenigen, die über einen solchen Zugang verfügten, konnten erhebliches Mianzi erwerben. Vor diesem Hintergrund prahlt Guo bei seinen Freunden damit, dass er jemanden im Eisenbahnministerium kennen würde, was jedoch nicht der Wahrheit entsprach. Schon bald sollte ihn ein Kollege um eine Zugfahrkarte bitten. Um sein Mianzi aufrechtzuerhalten, hatte Guo keine andere Wahl, als diese Bitte zu erfüllen. Dafür wartete er eine kalte Winternacht lang in der Schlange und zahlte die Fahrkarte aus eigener Tasche. Fahrkarten an der Kasse zu erwerben, galt als Ausdruck von Unfähigkeit, wodurch sich kein Mianzi gewinnen ließ. Daher verlangte Guo anschließend von seinem Kollegen nichts für die Fahrkarte, so als ob er die Fahrkarte von einem Kader im Eisenbahnministerium kostenlos und ohne Mühe bekommen hätte.

Zwar ist diese Geschichte in gewissem Maße übertrieben, sie veranschaulicht das Phänomen von Mianzi in China aber doch recht treffend. Menschen, die Mianzi bei ihren Verwandten und Freunden genießen wollen, müssen ihre Ressourcen dafür einsetzen: Geschäftsleute müssen Geld für Geschenke und Feste ausgeben; Kader müssen ihr politisches Privileg nutzen und ihren Verwandten und Freunden die „Hintertür“ öffnen; diejenigen, die ein umfangreiches Guanxi-Netzwerk besitzen, haben mit diesem sozialen Kapital die Bitten ihrer Verwandten und Freunden zu erfüllen. Und es gibt natürlich auch Leute, die tatsächlich keine Ressourcen haben, aber eifrig bemüht sind, Mianzi zu gewinnen, so wie es Guo in der geschilderten Komödie versucht hat.

Bei Mianzi geht es aber auch um die Haltung von anderen. Guo (um noch einmal zu der Hauptfigur der Komödie zurückzukehren) würde seinem Kollegen einen besonderen Gesichtsverlust zufügen, wenn er dessen Bitte abgelehnt hätte. Stünde der Ablehnende in einem engen Guanxi mit dem Bittsteller, wäre der Gesichtsverlust noch gravierender. Mianzi nicht zu geben oder seinen Gegenüber Mianzi einbüßen zu lassen, ist die größte Demütigung für Chinesen, die ernste Konsequenzen nach sich zieht: Die Guanxi-Beziehung wird zerstört, und der Bittsteller wird obendrein nach einer Gelegenheit suchen, seine Demütigung zu rächen, also das Mianzi des Ablehnenden zu verletzen.

„Du gibst mir kein Mianzi, und ich werde auch dir kein Mianzi geben!“ ist in China eine der schlimmsten Drohungen. Aus diesem Grund gehen Chinesen mit den Bitten von Verwandten und Freunden sehr vorsichtig um, vor allem wenn sie eine enge Guanxi-Beziehung mit ihnen unterhalten.

Die zwei Seiten des Mianzi sind häufig miteinander verbunden. Als in der erwähnten Komödie Guos Kollege ihn um eine Zugfahrkarte bat, stand Guo vor dem Dilemma, dass er nicht nur sein eigenes Mianzi verliert, sondern auch das Mianzi seines Kollegen verletzt, wenn er die Bitte zurückweist. Deswegen hatte Guo keine andere Wahl, als die Fahrkarte aus eigener Tasche zu bezahlen. Nehmen wir an, dass Guo wirklich einen Kader im Eisenbahnministerium gekannt hätte, der ihm eine kostenlose Fahrkarte verschaffen könnte. In dieser Situation würde sich Guo besonders gedemütigt fühlen, falls der Kader ihm die Fahrkarte verweigerte, weil Guo dann sowohl vor dem Kader als auch vor seinem Kollegen sein Mianzi verlöre. Daher würde Guo jede Anstrengung unternehmen, um die Fahrkarte von dem Kader zu bekommen. Gleichzeitig hätte sich auch der Kader in einer schwierigen Situation befunden, da eine Ablehnung nicht nur zur Zerstörung des Guanxis mit Guo führen würde, sondern auch zu erheblichen Hassgefühlen bei Guo, die ihn später zu Rachemanövern bewegen könnten.

Die Macht des Mianzis in China sollte deutlich geworden sein. Es funktioniert als Motor für die Dynamik von Guanxi: Menschen werden durch diesen Mechanismus motiviert, Verwandten und Freunden zu helfen, auch wenn sie einen bedeutenden Preis dafür bezahlen müssen. Das eigene Mianzi aufrechtzuerhalten und das Mianzi von anderen anzuerkennen und zu stärken, ist eine der wichtigsten Normen im Guanxi. Umgekehrt ist sie nur im Guanxi-Kontext wirklich wirksam: Chinesen interessieren sich in erster Linie für die Haltungen und Meinungen von denen, die enge Beziehungen mit ihnen haben. Einschätzungen von Fremden werden dagegen für nicht so wichtig gehalten. Die Komödie von Guo ist ein gutes Beispiel. Um Mianzi bei seinen Kollegen zu genießen, hat Guo eine ganze Winternacht in der Schlange vor der Kasse gewartet, was in den Augen von vielen Chinesen nur „unfähige“ (mei you ben shi) Menschen tun. Guo machte sich dennoch keine Sorgen über die Meinungen von anderen, die Fremde für ihn sind. In der Schlange zu stehen, lässt Guo deswegen nicht an Mianzi einbüßen, allerdings nur sofern ihn niemand dort kennt. Wichtig ist, dass er seinen Kollegen davon überzeugt, dass er die Fahrkarte durch eine Guanxi-Beziehung erhalten hat. Auch wird niemand einen relevanten Gesichtsverlust erleiden, wenn seine Bitte von einem Fremden abgelehnt wird.

Der Charakter von Mianzi ist im Wesentlichen durch den Familismus geprägt. Wie bereist erläutert, werden in einer familistischen Gesellschaft Familienangehörige, Verwandte und Mitglieder desselben Klans bevorzugt behandelt und erfreuen sich besonderer Wertschätzung. Ihr Respekt und ihre Anerkennung werden dementsprechend sehr hoch bewertet. „Reich zu sein, aber nicht in die Heimat zurückzukehren, ist wie sich eine wunderschöne Kleidung anzuziehen, aber nur in der Nacht zu spazieren“ (fu gui bu huan xiang, ru jin yi ye xing), lautet ein chinesisches Sprichwort. Und „mit Reichtum und Ehre in die Heimat zurückzukommen“ (yi jin huan xiang) ist der glorreichste Moment im Leben eines Chinesen. Es ist insofern nicht verwunderlich, dass Mianzi nur im Guanxi-Kontext seine Wirksamkeit entwickeln kann.

 
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