Die Rückkehr zum Klanleben

Unternehmerische Tätigkeit und Markttransaktionen waren unter diesen Bedingungen in hohem Maße unsicher und riskant. Sie konnten nur bei einem verlässlichen wechselseitigen Vertrauen zwischen den wirtschaftlichen Partnern stattfinden. Bevor man andere Menschen als Mitarbeiter in seinem Unternehmen anstellte oder sich mit ihnen auf substantielle wirtschaftliche Transaktionen einließ, musste man sich sicher sein, dass man mit ihnen nicht nur punktuell gemeinsame Interessen hatte, sondern dass sie sich die potentiellen Mitarbeiter oder Transkationspartner darüber hinaus an die Prinzipien und Pflichten wechselseitiger Kooperation intrinsisch gebunden fühlen. Denn angesichts der ungünstigen politischen Umwelt konnten private Transaktionen nur durch persönliches Vertrauen und ein starkes Gefühl der gegenseitigen Verpflichtung abgesichert werden. Dieser Bedarf an einer „starken Bindung“ unterscheidet sich von politisch und rechtlich geordneten Marktgesellschaften im Westen, in denen „schwache Bindungen“ eine in der Regel hinreichende Basis für funktionierende und verlässliche Marktbeziehungen sind (vgl. Baurmann 2012; Granovetter 1973).

Aus diesem Grund muss auch die Annahme von Nee und Opper (2012) skeptisch gesehen werden, dass allein die fortlaufende Kontinuität sozialer und wirtschaftlicher Beziehungen und die kontextabhängige Rationalität der Akteure in der durch politische und rechtliche Unsicherheit gekennzeichneten Frühphase der chinesischen Marktwirtschaft hinreichend waren, um verlässliche soziale Normen der Kooperation ins Leben zu rufen und durchzusetzen – also ohne dass kulturelle Orientierungen oder Werteinstellungen eine wesentliche Rolle gespielt hätten.

Mit dem Ansatz von Nee und Opper lässt sich auch nur schwer vereinbaren, dass man ähnliche soziale Beziehungen mit einem erkennbar familistischen Charakter in allen vier chinesischen Gesellschaften – VR China, Hongkong, Taiwan und Singapur – findet, [1] obwohl sich die politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen stark voneinander unterscheiden. Wäre das Verhalten von Menschen nur eine „reasonable response to their present situation“ (Granovetter 1985: 506), dann wäre zu erwarten, dass sich Menschen in der VR China aufgrund ihrer unterschiedlichen „present situation“ erheblich anders verhalten als die Bürger der anderen chinesischen Gesellschaften.

Die These erscheint deshalb plausibel und diskussionswürdig, dass der für chinesische Gesellschaften spezielle Typus sozialer und ökonomischer Beziehungen vor allem auch durch kulturelle Besonderheiten geprägt wird. Zur Erklärung, wie das chinesische Wirtschaftswunder ohne einen gleichzeitigen Schutz des Privateigentums möglich war, muss man auf einen Eckpfeiler der traditionellen Kultur Chinas zurückgreifen: den Familismus.

Wie schon erwähnt, wurde der Familismus in der Kulturrevolution offiziell als „feudalistisch“ diffamiert und stattdessen das universalistische Konzept der „Kameradschaft“ propagiert (vgl. Vogel 1965). Doch ist der Familismus in China so stark verwurzelt, dass das ländliche China schon kurz nach der Kulturrevolution zur Klan- und Ahnenverehrung zurückkehrte. Tempo und Ausmaß dieser Entwicklung waren überraschend. In den 1980er Jahren haben sich viele chinesische Dörfer trotz der verbreiteten Armut beim Aufbau von Ahnentempeln und bei der Kompilation von Genealogiebüchern engagiert. Bis zum Ende des Jahrzehnts hatte in manchen Gebieten (z.B. in Wenzhou, der Keimzelle der privaten Ökonomie in China) fast jedes Dorf mindestens einen Ahnentempel und jeder große Klan sein Genealogiebuch. In diesen Gebieten spielten die Klanorganisationen eine bedeutende Rolle, wenn es galt, Konflikte zu lösen, Kooperation zu fördern und Hilfe in Notsituationen zu leisten (vgl. Feng 2005; Wang 1991).

Warum konnte der Klan – eine Organisation, die in der modernen Gesellschaft fast verschwunden ist – während der Einführung der Marktwirtschaft in China einen solchen Aufschwung erleben? In der Regel werden dafür zwei Gründe genannt, wobei der erste politischer Natur ist. Nach der Reform im Jahre 1978 hatte die Zentralregierung den Schwerpunkt auf den wirtschaftlichen Aufbau gelegt. Der Klassenkampf gegen Kapitalisten und Landbesitzer (Klan und Familismus wurden als feudalistische Kultur, also als Kultur der Landbesitzer angesehen) rückte dagegen in den Hintergrund. Unter diesen relativ permissiven politischen Bedingungen konnten die Klanorganisationen zu neuem Leben erwachen. Der zweite Grund wurzelt in der Ökonomie: Mit der Reform wurde die damalige ökonomische Grundorganisation – die Volkskommune[2] – aufgelöst und das System der sogenannten „Eigenverantwortlichkeit der Haushalte“ installiert. In diesem neuen System wurden die Familien zu den basalen wirtschaftlichen Einheiten. Der Bedarf an wechselseitiger Hilfe in der Landwirtschaft machte eine Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Familien profitabel. Auf diese Weise entstand die Klanorganisation in erster Linie als eine Kooperationsorganisation.

Es stimmt sicherlich, dass sowohl politische wie ökonomische Faktoren zur Rückkehr der Klans beigetragen haben. Aber wie Hang Qian kritisiert, lässt eine Erklärung, die nur diese Faktoren heranzieht, das wichtigste Element außer Acht – den psychologischen Bedarf (Qian 1994: 236): „Der Grund, warum die chinesische Klanorganisation im Modernisierungsprozess überleben konnte und sich für die absehbare Zukunft noch weiter erhalten wird, liegt darin, dass sie Fragen beantworten kann, die gerade für den modernen Menschen drängend sind: Wer bin ich? Woher komme ich? Und wo ist meine Wurzel?“ [3] Auch wenn solche Fragen sehr allgemein und wissenschaftlich unpräzise klingen mögen, spiegeln sie doch die psychologische Situation vieler Chinesen nach 1978 wider. Diese Identitätsfragen motivierten Chinesen dazu, sich wieder an die eigene Familie zu wenden, um ein neues Sicherheits- und Zugehörigkeitsgefühl zu gewinnen. Ahnentempel und Genealogiebücher gelten als identitätsstiftende Instanzen, mit denen die Solidarität innerhalb der Dörfer und kleinen Städte gefördert wurde. So hat z.B. im Dorf Shuiquan in der Provinz Gansu der Klan von Zhang-Li im Jahr 1984 entschieden, ein neues Genealogiebuch zu erstellen. Drei Gründe wurden dafür genannt: um die Ahnen zu verehren; die genealogischen Beziehungen festzustellen; und den Nachwuchs zu motivieren, dem Klan und der eigenen Familie zur Ehre zu gereichen (Wang 1991: 150).

Aus dieser Perspektive sind die chinesischen Klans in erster Linie als kulturelle Institutionen zu interpretieren, obwohl sie gleichzeitig ökonomische Funktionen erfüllt haben. Die Verbreitung der Klanorganisationen im ländlichen China hat eine solide Basis für die Entwicklung von Guanxi-Netzwerken geschaffen, die besonders in den 1980er Jahren zu einem Großteil auf der Basis genealogischer Beziehungen aufgebaut wurden. Die Pioniere der privaten Unternehmer wandten sich in erster Linie an ihre Familienangehörigen und Blutsverwandten, um sich Geld zu leihen oder um Mitarbeiter anzustellen. Allerdings gewannen während des Aufbaus der Marktwirtschaft offene soziale Netzwerke immer mehr an ökonomischer Bedeutung, weshalb sich auch die Struktur des Guanxis veränderte. In den 1990er Jahren und später ist zu beobachten, dass sich Guanxi allmählich weg von den genealogischen Beziehungen verlagerte (worauf im 4. Kapitel näher eingegangen wird).

Aufgrund einer empirischen Untersuchung aus dem Jahr 1989 hat Erkang Feng eine Tabelle erstellt, in der die ökonomischen Bedeutungen verschiedener sozialer Beziehungen eingestuft werden (Feng 2005: 360):

Art der soziale Beziehungen

Art der Anliegen in ökonomischen Tätigkeiten

Präferenz, wen man um Hilfe bitten will

Die Stärke der Hilfe

Präferenz for Kooperationspartner

Familienangehörige

1

1

1

Freunde

2

2

2

Blutsverwandte

3

4

5

Nachbarn

4

7

3

Verschwägerte

Verwandte

5

3

4

Mitglieder des Klans

6

8

8

Die Partei

7

9

10

Ökonomische

Organisationen

8

5

7

Dorfkader

9

6

9

Dorfmitbewohner

10

10

6

Tabelle 2. Ökonomische Bedeutung verschiedener sozialen Beziehungen im ländlichen China

Anhand dieser Tabelle ist ersichtlich, dass Guanxi einerseits stark von dem jeweiligen Klan abhängig war – Familienangehörige waren die wichtigsten Akteure im Guanxi –, es andererseits aber nicht unbedingt mit den genealogischen Beziehungen zusammenfällt: So sind Freunde die zweitwichtigste Beziehungsgruppe im Guanxi, wohingegen weitere Mitglieder des Klans nur eine nachrangige Rolle spielten. Guanxi als soziale Institution ist deswegen als ein Ergebnis der Wechselwirkung von Kultur mit anderen Einflussfaktoren wie den formellen Institutionen in einer Gesellschaft anzusehen: Interne Wertorientierungen und externe Anreizstrukturen bestimmen gemeinsam, welches Guanxi die Akteure entwickeln und auf welche Weise sie dies tun, um ihre jeweiligenZiele zu erreichen.

  • [1] Zur allgemeinen Verbreitung des Familismus in der chinesischen Gesellschaft vgl. Fukuyama (1996) und Redding (1990).
  • [2] Die Volkskommune (renming gongshe) war eine Form landwirtschaftlicher Kollektivierung in der Mao-Ära. Sie übernahm fast sämtliche Besitztümer ihrer Mitglieder und organisierte deren Arbeit und Versorgung kollektiv. Das traditionell festgefügte chinesische Familiensystem wurde durch die Volkskommune beseitigt.
  • [3] Eigene Übersetzung.
 
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