Private Ökonomie und Klans

Das erste Puzzle Chinas kann jetzt aufgelöst werden: Warum konnte die private Ökonomie in China in einer feindlichen politischen Umwelt entstehen und sich schnell und robust entwickeln, obwohl kein gesetzlicher Schutz für Privateigentum existierte und unlizenzierte private Transaktionen darüber hinaus als schwere Straftaten angesehen wurden? Wissenschaftler wie Jean Oi (1992; 1995), Susan H. Whiting (2006) und Tao Qian (2008) führen diese Entwicklung auf die erwähnte institutionelle Reform zurück, die besondere finanzielle Anreize für lokale Kader geboten habe, während Martin K. Whyte (1995; 1996) den Aufschwung der privaten Ökonomie als Ergebnis der chinesischen Kultur interpretiert, die ein hohes Vertrauen und wechselseitige Verpflichtung unter Verwandten ermöglicht hätte. Diese zwei Positionen wurden bereits im ersten Kapitel vorgestellt. Hier soll dagegen argumentiert werden, dass formelle und kulturelle Institutionen nur als Randfaktoren fungieren, die Akteure in ihr Kalkül ziehen. Die direkte Ursache für den unerwarteten Aufstieg des Kapitalismus in China liegt vielmehr darin, dass die Pioniere des privaten Unternehmertums mit Hilfe ihrer Guanxi-Netzwerke die für sie ungünstigen politischen Regeln und Restriktionen umgehen konnten. Die Fähigkeit, Guanxi schrittweise auszuweiten und auf dem Markt zu nutzen, ermöglichte eine private Ökonomie ohne private Eigentumsrechte und trug zu den ex post vorgenommenen Veränderungen der formellen Institutionen bei.

Wie oben bereits beschrieben, wurden private Unternehmen zu Beginn der Reform in den 1980er Jahren systematisch diskriminiert: Sie mussten ein langes Registrierungsverfahren und hohe Gebühren erdulden, erhielten keine Darlehen von Banken, wurden in vielen Bereichen verboten, durften nicht mehr als sieben Mitarbeiter anstellen und entrichteten deutlich höhere Steuern als die Staatsunternehmen. Diese Einschränkungen zwangen die damaligen Privatunternehmer dazu, Methoden zu entwickeln, mit denen sie die Einschränkungen umgehen konnten. Zwei Strategien waren dabei besonders erfolgreich: Erstens die Gründung von sogenannten Shareholding-Kooperativen, bei denen mehrere Familien ein Unternehmen gemeinsam führten. Zweitens die Tarnung von Firmen als kollektive Unternehmen, die tatsächlich zum Sektor der Privatunternehmen gehörten, aber als kollektive Unternehmen registriert wurden. Diese Strategie wurde mit dem Bild „einen roten Hut tragen“ karikiert.

Die Shareholding-Kooperative war eine sich spontan entwickelnde Organisationsform am Beginn der achtziger Jahre. Vor 1988 waren nur solche privaten Unternehmen erlaubt, die von einem einzelnen Haushalt geführt wurden. Solche selbständigen Haushaltsgeschäfte (getihu) beschränkten sich wegen ihres begrenzten Kapitals normalerweise auf kleine Unternehmungen wie etwa den Betrieb eines Kiosks. Sie konnten kein Kapital ansammeln und keine größere Zahl an Mitarbeitern anstellen, weil das offiziell als Ausbeutung angesehen wurde und verboten war. Vor diesem Hintergrund haben sich mehrere Familien zusammengetan, um ihr Geschäft zu vergrößern. Diese gemeinsamen Unternehmen werden seitdem als Shareholding-Kooperativen (gufen hezuo qiye) bezeichnet. Derartige Unternehmen gingen über die Begrenztheit der einzelnen Familien hinaus: Die Ersparnisse und der erweiterte Kreis der Angehörigen der beteiligten Familien boten den Unternehmen verbesserte Möglichkeiten für ihre weitere Entwicklung. Als eine neu auftauchende Organisationsform befand sich die Shareholding-Kooperative irgendwo zwischen kollektiven und privaten Unternehmen. Ob sie eher kollektiver oder eher privater Natur war, wurde in jenen Jahren von der Zentralregierung nicht endgültig festgelegt. Privatunternehmer und lokale Kader hatten deshalb mehr Spielräume, um die Shareholding-Kooperativen als kollektive Unternehmen einzuordnen und agieren zu lassen. Beispielsweise in Wenzhou und Taizhou verfügten die lokalen Regierungen in den 1980er Jahren eine Reihe politischer Grundsätze, um den Shareholding-Kooperativen die gleichen Rechte wie kollektiven Unternehmen zu erteilen (vgl. Qian 2008: 69; Whiting 2006: 152).

Durch die Möglichkeit, ihre Geschäfte als Shareholding-Kooperative zu organisieren, konnten die Privatunternehmer zwar über die gesetzlichen Begrenzungen für private Unternehmen hinausgehen, waren aber dann mit dem Problem konfrontiert, wie sie die Zusammenarbeit innerhalb der Shareholding-Kooperative wirksam gewährleisten konnten. In der Zeit, als die Shareholding-Kooperativen in den Dörfern Chinas gediehen, gab es noch kein Eigentums- und Vertragsrecht, auf dessen Grundlage man die Rechte und Pflichten der einzelnen Mitglieder einer Kooperative hätte festlegen und durchsetzen können. Angesichts dieser unsicheren politischen und rechtlichen Verhältnisse lieferte die starke Bindung an den Klan eine verlässliche Grundlage für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit in den Shareholding-Kooperativen.

Ursprünglich war die Shareholding-Kooperative eine informelle Institution unter Verwandten und Freunden (Qian 2008: 64). In Wenzhou stand diese Institution in enger Verbindung mit den als Chenghui bezeichneten Versammlungen, die zu den traditionellen Sitten in Wenzhou gehörten. Zu Chenghui wurden Verwandte und Freunden regelmäßig eingeladen, wobei jeder einen bestimmten Geldbetrag mitbringen und abgeben musste. Das gesammelte Geld wurde in Notsituationen von den Teilnehmern genutzt, etwa wenn ein Familienmitglied schwer erkrankte. In den 1980er Jahren, als sich immer mehr Bürger in Wenzhou Geschäftstätigkeiten widmeten, wurden die Finanzreserven von Chenghui nicht mehr nur für Notsituationen ausgegeben, sondern auch als Kapitalstock für wirtschaftliche Unternehmungen verwendet. Wenn also jemand Geld brauchte, um ein Geschäft zu gründen, versammelte er unter dem Mantel von Chenghui seine Verwandten und Freunde und forderte sie auf, sich an seinem Geschäft zu beteiligen. Auf diese Weise wurden zahlreiche Shareholding-Kooperative in Wenzhou ins Leben gerufen (vgl. Ye 2002). In anderen Gebieten in China, die zwar keine Tradition wie Chenghui hatten, wurden Shareholding-Kooperative jedoch auf eine ähnliche Art und Weise organisiert.

Die zweite Strategie der privaten Unternehmer bestand darin, das eigene Unternehmen als ein kollektives Unternehmen anzumelden, also einen „roten Hut“ zu tragen. Da diese Form privater Ökonomie häufig unter dem Schutz der lokalen Regierungen stand, konnte sie die staatliche Politik unterlaufen, also hohe Steuerlast, ausbleibende Bankdarlehen und vor allem die drohende Verfolgung unter dem Verdikt der „Spekulation“ vermeiden. Unternehmen mit einem „roten Hut“ waren in den 1980ern Jahren sehr populär in China und wurden zu einem Standard für private Unternehmer (Tsai 2007: 57f.; Nee/Opper 2012: 109-132; Whiting 2006: 144-150).

Aber auch diese Strategie stand vor dem Problem des ungesicherten Privateigentums. Es gab zwei Möglichkeiten, um einen „roten Hut“ zu erhalten. Private Unternehmer konnten ihre eigenen Unternehmen als neue kollektive Unternehmen registrieren lassen, die gesetzlich zu den lokalen Regierungen gehörten. Sie konnten ihr Unternehmen aber auch im Rahmen der bereits bestehenden kollektiven Unternehmen anmelden. In jeder Variante setzten sich beide Seiten – private Unternehmer und lokale Kader oder die Leiter kollektiver Unternehmen – aber erheblicher Risiken aus.

Für private Unternehmer stand die Sicherheit ihres Privateigentums im Zentrum, weil – worauf Donald C. Clarke hingewiesen hat – „a change in government policy with respect to collectively-owned enterprises could suddenly demote the founders and investors to mere employees with no right to a return on the capital that they had invested“ (Clarke 1991: 305). Sobald private Unternehmer ihr Unternehmen als kollektives Unternehmen angemeldet hatten – und zwar unabhängig davon, ob es sich um ein neues Unternehmen oder um einen Teil der bestehenden Unternehmen handelte –, konnten die lokalen Kader Anspruch auf das Unternehmen mit „rotem Hut“ erheben, während die tatsächlichen Besitzer – die privaten Unternehmer – keine Möglichkeit besaßen, sich diesem Anspruch zu widersetzen. In ihrer Untersuchung hat Whiting beschrieben, wie in den 1980er Jahren zwei ausschließlich privat gründete Unternehmen in Yueqing – einem Dorf in Wenzhou – von der lokalen Regierung übernommen wurden und die ursprünglichen privaten Investoren lediglich eine völlig unzureichende Kompensation erhielten (Whiting 2006: 146). Außerdem mussten private Unternehmer für einen „roten Hut“ eine sogenannte „Management-Gebühr“ entrichten, die nach dem Ermessen der Kader festgelegt wurde.

Die Kader waren in der Lage, durch diese „Management-Gebühr“ einen großen Teil des Profits der privaten Unternehmen abzuschöpfen, was die Entwicklung der privaten Ökonomie erheblich behinderte.

Auf der anderen Seite gingen auch die Kader und die Leiter der kollektiven Unternehmen ein gewisses Risiko ein. Denn die privaten Unternehmer mit „rotem Hut“ hatten keinen legalen Status, um Verträge zu schließen und mussten deshalb unter dem Namen der lokalen Regierung oder eines kollektiven Unternehmens ihre Geschäfte führen. Die lokalen Regierungen waren somit haftbar, wenn die privaten Unternehmen Geldbeträge schuldeten und in der Folge verklagt wurden. Daraus konnten private Unternehmer wiederum Vorteile ziehen (vgl. Qian 2008: 67).

Trotz dieser Gefahren und Risiken wurde die Strategie des „roten Hutes“ durchaus von allen Beteiligten begrüßt. Und ihre Popularität in ganz China zeigte, dass eine enge Beziehung zwischen privaten Unternehmern und lokalen Kadern existierte, die das Verhalten für beide Seiten berechenbar machte. Yusheng Peng (2004) ist deshalb der Ansicht, dass sich die private Ökonomie in jenen chinesischen Gemeinschaften besser entwickelt hat, in denen die Solidarität innerhalb der Klans und die entsprechenden Guanxi-Netzwerke besonders stark entwickelt waren. In diesen Gemeinschaften standen die Kader als Mitglieder eines Klans unter großem sozialem Druck, wenn sie die anderen Mitglieder ihres Netzwerkes wirtschaftlich schädigten oder ihnen politisch drohten. Um Anerkennung in ihrem Klan zu finden, mussten sie als Verwandte oder Freunde den privaten Unternehmern des Klans helfen, anstatt die Politik des sozialistischen Regimes durchzusetzen. Die Verpflichtung gegenüber der „Familie“ rangierte vor der Verpflichtung gegenüber dem Staat. Solche „sozial eingebetteten“ Kader werden deshalb nicht nur eine bescheidene Managementgebühr für den „roten Hut“ festsetzen, sondern die privaten Unternehmer auch vor unangekündigten Inspektionen von höheren Regierungsstellen warnen. In diesem Sinne schreibt Chin-Jou J. Chen den lokalen Kadern die Rolle von „political shelter“ (1999: 65) zu, durch die die lokale private Ökonomie vor dem sozialistischen Staat geschützt wurde. Diese stabile Kooperationsbeziehung zwischen Kadern und Unternehmern ermöglichte das chinesische Wirtschaftswunder in den 1980er Jahren, ohne sie wäre eine nennenswerte private Ökonomie angesichts der damaligen politischen Rahmenbedingungen kaum möglich gewesen.

Sowohl die Shareholding-Kooperativen als auch die Unternehmen mit „rotem Hut“ beruhten auf der Solidarität innerhalb des Klans und den sozialen Beziehungen des Guanxi. Die Prinzipien von Mianzi und Renqing regulierten die Interaktionen unter Verwandten, Freunden und Mitgliedern des Klans, wodurch jeder in einen reziproken Kreislauf verwickelt wurde: die Anteilseigner in Shareholding-Kooperativen, die privaten Unternehmern mit „rotem Hut“ und ebenso die lokalen Kader, die den privaten Unternehmer Schutz boten. Ihr Verhalten lässt sich nur unter Berücksichtigung der lokalen sozialen Institutionen nachvollziehen. In seiner empirischen Untersuchung über Jinjiang, eine kleinere Stadt in der Provinz Fujian, in der sowohl Shareholding-Kooperative als auch Unternehmen mit „rotem Hut“ agierten, kam Chen (1999: 61) zu den folgenden Schlussfolgerungen:

The organizational features of Jinjiang's rural economy were not mandated by state reform policies, nor were they anticipated by policy makers. Instead, the local social context and institutional environment shaped the growth of enterprises in Jinjiang. What has propelled the development of the privately owned economy over the past two decades? What are the institutional forces underpinning these particular configurations of property rights (i.e., private, family-centered enterprises)? I suggest that Jinjiang's economic organizations, dominated by household and partnership management and investment, are embedded in the local institutions of family and clan. Family and clan force norms and standards of conduct centered on kinship principles and community identity. This promotes and constrains certain features of social relations and economic activities.

Daraus sollte man aber nicht schließen, dass Verwandtschaft und Klan die einzigen Ursachen für den Aufschwung der privaten Ökonomie in China gewesen sind. Die auffällige Rolle der Klans in den 1980er Jahren rührte gerade daher, dass die existierenden politischen Institutionen den Marktakteuren keine andere Wahl ließen, als mit Verwandten zu kooperieren und sich auf die Klanorganisation zu verlassen. Bei einer Veränderung der politischen Rahmenbedingungen sind auch Veränderungen im Verhalten der Marktakteure zu erwarten. Nach der erfolgreichen Etablierung der Marktordnung zeigt sich, dass Guanxi sich immer mehr von Verwandten und Klanbeziehungen ablöst. Neue Anreizstrukturen bewog die Marktakteure zur Reform ihrer Guanxi-Netzwerke, wobei die Prinzipien von Mianzi und Renqing aber nach wie vor gültig blieben.

 
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