Patron-Klient-Beziehungen in der maoistischen Epoche
Korruption wurde in China erst nach der Reform des Jahres 1978 thematisiert. Ein wichtiges Kennzeichen dafür ist die in jenem Jahr gegründete zentrale Disziplinarkommission der KPCh, die auf das korrupte Verhalten von Kadern abzielte. Von da an wurden Korruption und damit verbundene Wörter und Redensarten – etwa „durch die Hintertür gehen“ (zou houmen), „Guanxi erhalten“ (la guanxi), „Geschenke verteilen“ (song li) usw. – immer mehr zu gängigen Begriffen in der Umgangssprache von Chinesen. Aber eigentlich existierten Patron-Klient-Beziehungen schon in der maoistischen Epoche, als Korruption kaum ein Thema war. Diese Beziehungen unterschieden sich in vielerlei Hinsicht von denen in den 1980er Jahren, jedoch sollten die Gemeinsamkeiten nicht außer Acht gelassen werden: Beide waren eng mit partikularen und persönlichen Beziehungen verbunden, die sich auf den Familismus zurückführen lassen.
Vogel (1965) zufolge hat die KPCh nach der Gründung des neuen Chinas systematisch und umfassend in das private Leben der Bürger eingegriffen. Der politische Zugriff auf die individuellen Lebenswelten habe darauf abgezielt, dass die traditionellen partikularen persönlichen Beziehungen in China – wie Verwandtschaft und Freundschaft – schließlich durch eine universale Beziehung – die Kameradschaft – ersetzt werden. D.h. es sollte keinen Vater, keine Mutter und keine Freunde mehr geben und die einzige legale Beziehung sollte die Genossin oder der Genosse sein. Besondere Bindungen im Sinne des „differential mode of association“ wurden als „feudaler Rest“ angesehen und waren zu beseitigen.
Die KPCh betrachtete die traditionellen persönlichen Beziehungen – besonders in Klans – als eine große Bedrohung für die kommende kommunistische Gesellschaft und unternahm deshalb den Versuch, alle Bürger stattdessen durch die kommunistische Ideologie miteinander in Verbindung zu bringen. Die partikularen persönlichen Beziehungen verschwanden dabei jedoch nicht. Laut Andrew Walder (1986: 123f.) hätten gerade die Versuche, „Outsider“ durch Anreize oder Bestrafung zum ideologischen Commitment zu bewegen, eine besondere Form von Partikularismus im kommunistischen System verursacht, und zwar einen „principled particularism“ (1986: 25):
Formally speaking, the relationship is impersonal, a form of „principled particularism”: the party itself rewards and promotes people preferentially according to the loyalty and service they render to management and party. The networks that result are „objectively” clientelist in structure: they are vertical, between superior and subordinate, relatively stable, and involve an exchange of mutual benefit between the parties involved. Personal loyalties and affectivity between specific leaders and followers do naturally arise in this setting, become mingled with the public, official loyalties, and often result in more privileges and favors than the party prescribes.
Indem er den Begriff des „Partikularismus“ mit dem Adjektiv „principled“ qualifiziert, will Walder hervorheben, dass diese Art partikularer Beziehungen ein legales Ergebnis des herrschenden politischen Systems war. Die KPCh erlaubte es den Kadern offiziell, genau denjenigen Personen ihre persönliche Patronage zu gewähren, die eine besondere Loyalität zur Partei an den Tag legten. Da die Bewertungskriterien für „Loyalität“ aber subjektiv und vage waren, wurde häufig die Loyalität zur Partei mit der zum betroffenen Kader gleichgesetzt. Aus diesem Grund tendierte auch der „principled particularism“ zu einer typischen Patron-Klient-Beziehung: Der Patron bot dem Klienten günstigere Unterkunft, mehr Lebensmittel und andere Belohnungen. Umgekehrt zeigte der Klient dem Patron seine Loyalität und half ihm dabei, Mitarbeiter zur „fleißigen Arbeit“ zu motivieren, unterstützte ihn bei politischen Aktionen und wurde „Auge“ und „Ohr“ des Kaders. Diese gegenseitige Abhängigkeit schuf ein gemeinsames Bedürfnis nach einer stabilen Patron-Klient-Beziehung.
Zu beachten ist, dass diese Beziehung zum großen Teil durch Renqing und Ganqing vermittelt wurde: Unabhängig davon, wie instrumentell die Einstellungen der beiden Seiten tatsächlich waren, mussten sie sich aber wenigstens so verhalten, als ob ihre gegenseitige Hilfsbereitschaft in erster Linie einem persönlichen Verbundenheitsgefühl entsprungen wäre. Der Klient sollte häufiger eine Vorteilsgewährung ablehnen, um seine reine Loyalität oder Ganqing zu zeigen. Umgekehrt versuchte auch der Patron, den Klienten davon zu überzeugen, dass alle Gegenleistungen von ihm ebenfalls auf bloßem Ganqing beruhten (vgl. Walder 1986: 170–175). Nur wenn sich ihre Beziehung im Kontext von Ganqing entwickelte, konnte sie dauerhaft und stabil sein.
Diese persönliche Beziehung war zwar im politischen System erlaubt und stellte offiziell keine Korruption dar, wich aber durchaus von den propagierten Idealen der KPCh ab. Die Loyalität zu höheren Kadern wurde zwar im Namen der KPCh gefordert, in den meisten Fällen ersetzte sie aber de facto die Loyalität zur Partei. Dies konnte das Regime zwar nicht untergraben, jedoch entstanden so verschiedene politische Cliquen, die mittels der eigenen Patron-Klient-Netzwerke um Macht und Einfluss rangen (vgl. Walder 1986: 175–179). Der Patron manipulierte in dieser Weise den offiziell anerkannten „prinzipientreuen Partikularismus“, um seinen eigenen politischen Vorteil zu verfolgen, was als eine Variante von Korruption erscheint. Diese Form von Patron-Klient-Beziehung, die auf einem engen persönlichen Kontakt der Beteiligten beruhte, bildet so auch den Archetyp der späteren Korruption in den 1980er Jahren.
Es entsteht die Frage, inwieweit diese Patron-Klient-Beziehung in der maoistischen Epoche auf der chinesischen Kultur – dem Familismus – beruhte. Auf den ersten Blick könnte diese Frage als abwegig erscheinen, weil die VR China nach ihrer Gründung die radikale Beseitigung der traditionellen chinesischen Kultur auf ihre Fahne geschrieben hatte und jeder Kader sämtliche Elemente der „alten, feudalistischen und rückständigen“ Ideologie – eben auch und vor allem den konfuzianischen Familismus – zu überwinden hatte. Eine genauere Betrachtung zeigt allerdings, dass die von der Kommunistischen Partei Chinas propagierten Ideale zu einem nicht unwesentlichen Teil gerade auf der traditionellen chinesischen Kultur beruhten. So soll gemäß dem konfuzianischen politischen Ideal der gesamte Staat als eine große Familie verstanden werden, in der sich Herrschende wie Väter verhalten und die Bürger einander als Familienangehörige behandeln. Kollektivismus, Paternalismus und Zentralismus als Grundlagen des sozialistischen Chinas konnten so vom chinesischen Volk gerade vor dem Hintergrund der konfuzianischen Tradition und der familistischen Kultur akzeptiert werden (vgl. Nivison 1956).
Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang auch der Umstand, dass die interne Organisation in sozialistischen Staatsunternehmen – in denen Walder seine Forschungen durchführte – den Organisationsstrukturen des Klans im traditionellen China ähnelte. Damit beschäftigt sich die Untersuchung von Hanlin Li (1991). Er ist der Ansicht, dass die Staatsunternehmen in der maoistischen Epoche –Danweis (auf Deutsch: „Einheit“) – wie Klans aufgebaut und geführt wurden. Klan und Danwei teilen demnach ähnliche Strukturen und Mechanismen, z.B. die Konzentration von Macht, die Ressourcenallokation durch Austausch von Väterlichkeit und Fürsorge gegen Gehorsam und Loyalität sowie schließlich umfangreiche zentrale Kontrollen aller öffentlichen und privaten Lebensbereiche. So wie Klanmitglieder von ihrem Klan waren auch die Arbeiter in Danweis von ihrem Unternehmen enorm abhängig. Elementare Bedürfnisse konnten nur durch den Klan bzw. das Danwei befriedigt werden, so dass die traditionellen Klannormen im Danwei eine neue Blüte erlebten. Die Beziehung zwischen Unternehmensleitern und Arbeitern kann mit der Beziehung zwischen Vater und Sohn verglichen werden: Der Leiter kümmerte sich um seine Arbeiter in sämtlichen Lebensbereichen – der Arbeit, der Ausbildung und sogar im Privatleben, wenn er für seine Arbeiter geeignete Ehepartner suchte. Umgekehrt mussten sich die Arbeiter gegenüber dem Leiter gehorsam und loyal erweisen.
Obwohl Walder und Li verschiedene Ausgangspunkte haben, zielen sie doch auf denselben Gegenstand – die Mechanismen und Beziehungen innerhalb des Staatsunternehmens. In beiden Studien wird deutlich, dass die menschlichen Beziehungen in den Staatsunternehmen durch emotionale Zuneigung und persönliche Gefühlen geprägt waren. Walder hält diese affektive Bindung für ein wichtiges Element in der Patron-Klient-Beziehung, die später kleine politische Cliquen entstehen ließ, während Li versucht, aufgrund dieser affektiven Bindung einer Erbschaftsbeziehung zwischen Klan und Danwei auf die Spur zu kommen.
Was Li aber außer Acht gelassen hat, ist „the differential mode of association“ in einem Klan. Klanmitglieder unterliegen zwar derselben Klanorganisation, behandeln einander entsprechend ihrer Blutsbeziehung jedoch unterschiedlich. Bei traditionellen Ritualen – z.B. dem Ahnenverehrungsritual, Hochzeitsfesten oder Trauerfeiern – wird den Teilnehmern gemäß ihrer genealogischen Position eine feste Rolle zugewiesen, die mit einer Reihe von Pflichten verbunden ist: Welche genaue Rolle sollen sie bei der Ahnenverehrung übernehmen, wie viele und welche Geschenke sollen sie beim Hochzeitsfest schenken, welche Kleidung sollen sie bei einer Trauerfeier anziehen? Im Alltagsleben behandeln Menschen ihre Mitmenschen entsprechend ihrer Blutsbeziehung ebenfalls unterschiedlich.
Im Danwei ist ebenfalls ein „differential mode of association“ festzustellen. Da ein Danwei im Wesentlichen aufgrund persönlicher und partikularistischer menschlicher Beziehungen geführt wurde, war es unvermeidlich, dass unterschiedliche Gefühlsbindungen zu den anderen Mitgliedern und eine entsprechende Vielfalt der auf sie bezogenen Handlungsweisen aufkamen. Der „Vater“ kann nicht alle „Söhne“ gleich behandeln, und er wird eine besondere Vorliebe für diejenigen haben, die ihm aktiv ihre Pietät und Loyalität erweisen. Die besondere affektive Bindung führt auf diese Weise zu persönlichen PatronKlient-Beziehungen und schließlich zum Entstehen von Seilschaften mitsamt den zwischen ihnen herrschenden Konflikten. Hier ist das Prinzip des „differential mode of association“ nicht mehr die Blutsbeziehung, sondern die Beziehung zwischen verschiedenen Kadern und Cliquen. Wenn Danwei also mit einem Klan vergleichbar ist, dann weisen die Cliquen in Danwei eine Analogie zu den Familien im Klan auf.
Die Wirksamkeit des „differential mode of association“ zeigt den prägenden und dauerhaften Einfluss kultureller Traditionen auf die gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungen in China. Trotz des radikalen gesellschaftlichen Wandels spielte die familienähnliche affektive Bindung weiterhin eine Schlüsselrolle in der neuen politisch-ökonomischen Organisationsform, dem Danwei. Auf dieser Grundlage konstituierte und entwickelte sich der Klientelismus. Die Beziehung zwischen Patron und Klient war deshalb keine rein instrumentelle Beziehung, sondern kann in gewisser Weise als eine Art Familienbeziehung gelten. Diese Eigenart sollte auch die Patron-Klient-Beziehungen in den 1980er Jahren ganz wesentlich charakterisieren.