Pluralistische Ignoranz

Dass Guanxi auf dem Markt häufig für ökonomische Zwecke genutzt wird, bedeutet nicht, dass es seine kulturellen Bedeutungen verloren und sich auf ein reines Instrument zur Wahrung materieller Interessen reduziert hätte. Im Gegenteil: Es verkörpert weiterhin die Macht der Kultur. Die Nützlichkeit von Guanxi auf dem Markt setzt voraus, dass die kulturelle und symbolische Bedeutung von Mianzi und Renqing allgemein anerkannt wird. Wenn jedoch die kulturellen Werte von Mianzi und Renqing keine Rolle mehr spielen würden, verlöre auch Guanxi im ökonomischen Leben an Gewicht.

Aufgrund dieser kulturellen Präferenzen fühlen sich Chinesen auch dann verpflichtet, ihren Freunden eine Gefälligkeit zu erweisen, wenn sie zur Kenntnis nehmen müssen, dass ihre Freunde sie tatsächlich auszunutzen versuchen und sie einen ökonomischen Verlust erleiden werden. Nach der Gründung der Marktwirtschaft geraten Chinesen immer mehr in solche Renqing-Dilemmata, da die Marktinstitutionen für viele Probleme effizientere und einfachere Lösungen bieten. So hat z.B. Yang (1994) beobachtet, dass Chinesen vermehrt Geld anstatt Renqing-Schuld als Gegenleistung annehmen bzw. anbieten. Tatsächlich trifft dies aber nur auf diejenigen Personen zu, die nicht über ein enges Guanxi verfügen. Unter nahen Verwandten und Freunden darf Geld nach wie vor nicht erwähnt werden, da es die Freundschaft schwer verletzen kann. [1]

In chinesischen Gesellschaften ist die moralisch akzeptable Gegenleistung für eine Gefälligkeit, den Helfer zu einem opulenten Essen einzuladen und anzuerkennen, dass man in der Renqing-Schuld des Helfers steht. Unter marktwirtschaftlichen Bedingungen erscheinen solche Formen von reziproken Beziehungen allerdings für beide Seiten als ineffizient und aufwendig. Angesichts der Kosten eines luxuriösen Essens (im heutigen China kostet ein solches Essen manchmal Hunderte von Euro pro Person) und der Pflicht der Renqing-Schuld, bezahlen viele Bittsteller lieber mit Geld. Umgekehrt gibt es auch Helfer, die lieber Bargeld erhalten, weil von einer teuren Essenseinladung nur das Restaurant profitiert und eine RenqingSchuld häufig ein leeres Versprechen bleibt.

Die Bevorzugung von Barzahlung einerseits und die moralische Anforderung der Guanxi-Norm andererseits lassen Bittsteller sowie Gebetene in ein RenqingDilemma geraten, das wegen des Phänomens der „pluralistischen Ignoranz“ (vgl. Bicchieri 2006) nur schwer zu überwinden ist. Denn jede Seite nimmt an, dass die andere Seite eine Barzahlung als eine Verletzung des Guanxi empfindet, was aber nicht der Wahrheit entsprechen muss. Da Geld unter Guanxi-Gesichtspunkten ein delikates Thema darstellt und Guanxi eine subtile Institution ist, wird eine Barzahlung als Gegenleistung unter nahen Verwandten und Freunden kaum zur Sprache gebracht. Auf dieser Weise bleibt die soziale Norm weiterhin wirksam.

Interessant ist, dass die Beständigkeit dieser Norm die Marktinstitutionen indirekt wiederum fördern kann. Da die Menschen das Renqing-Dilemma nicht lösen können, haben sie nur die Möglichkeit, es zu vermeiden, indem sie ihre Bedürfnisse direkt auf dem Markt befriedigen. Wenn jemand also etwa ein Fernsehgerät erwerben will und einen Freund hat, der durch eine besondere Verbindung ein Gerät unter dem Marktpreis erhalten kann, wird er überlegen, ob es sich wirklich lohnt, die Einsparung mit einer Essenseinladung und Renqing-Schuld zu erkaufen. Denn auch wenn die Einsparung so groß ist, dass beide Seiten von einer Teilung des monetären Gewinns profitieren könnten, wird eine Barzahlung nicht stattfinden, weil beide Seiten aufgrund des Phänomens der pluralistischen Ignoranz irrtümlich davon ausgehen werden, dass der andere ein Geldangebot als eine Beleidigung verstehen würde. In solchen Situationen wird man dann häufig seine Guanxi-Netzwerke nicht weiter nutzen, sondern sich an den Markt halten, auf dem man zwar mehr bezahlen muss, aber das Renqing-Dilemma vermeiden kann. Aus dieser Perspektive kann gerade die Beständigkeit von Guanxi einen Beitrag dazu leisten, dass Menschen ihre Wünsche immer mehr durch die Märkte erfüllen. Guanxi wird dann nur noch unter der Bedingung in Anspruch genommen, dass die Leistung des Marktes geringer ausfällt als die der Guanxi-Institution, z.B. wenn jemand einen guten Arbeitsplatz sucht. [2] In solchen Situationen versuchen sowohl die Bittsteller als auch die Gebetenen, „Geschenke“ zu geben und anzunehmen, ohne jedoch Mianzi und Renqing zu verletzen.

Im nächsten Abschnitt soll gezeigt werden, dass pluralistische Ignoranz zwar zur Weiterexistenz ineffizienter Guanxi-Normen führen kann, die Marktakteure jedoch auch in der Lage sind, Guanxi-Normen geänderten Marktbedingungen anzupassen, wenn die Kosten von Guanxi jene der Märkte erheblich übersteigen. Bei einer solchen Entwicklung reinterpretieren die Akteure ihre kulturellen Werte und neue soziale Institutionen entstehen. Aus diesem Grund ist es wichtig, mehr über die Effizienz von Guanxi im Vergleich zu Marktbeziehungen in Erfahrung zu bringen.

  • [1] Zu der sozialen Norm, dass Geld unter Nachbarn und Freunden nicht als Gegenleistung eingesetzt werden darf, vgl. auch Elster (1988).
  • [2] Zur Rolle von Guanxi auf dem Arbeitsmarkt in China vgl. Bian (1997).
 
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