Korruption als ein struktureller Defekt des kommunistischen Systems
Während sich Nee in erster Linie mit den ökonomischen Reformen in China beschäftigt, widmen sich andere Autoren den politischen Rahmenbedingungen des sozialistischen Chinas, unter anderen Jean Oi. Sie hält Korruption für einen systemischen Defekt des kommunistischen politischen Systems. Demnach sei die Patron-Klient-Beziehung nicht nur auf die distributive Macht der Regierung zurückzuführen, sondern auf das gesamte politische System des kommunistischen Staates. Neben der distributiven Macht nennt Oi noch zwei weitere politische Machtinstrumente: staatliche Regulierungen und die feindliche Behandlung von erfolgreichen Unternehmern (vgl. Oi 1989: 227). Aufgrund fehlender Pressefreiheit und der Monopolisierung der politischen Macht seien die Kader in der Lage, eine willkürliche staatliche Politik zu betreiben und politische Maßnahmen zu manipulieren. Auch unter den neuen Marktbedingungen könnten sie allein aufgrund persönlicher Abneigung irgendwelche „Gründe“ erfinden, um erfolgreiche Unternehmer zu erpressen oder ihnen zu schaden. Obendrein könnten sie ihren Freunden und Verwandten über politische Kanäle „Hintertüren“ öffnen, durch die sie andere Marktteilnehmer und Konkurrenten übervorteilen. Oi kommt zu folgendem Schluss (Oi 1989: 233):
… a free market environment does not necessarily lead to the end of bureaucratic control nor the demise of cadre power. Restructuring the economy and re-opening markets may offer peasants more opportunities and put limits on cadre power, and may even eliminate the power of certain cadres, such as team leaders in the Chinese case, but unless other conditions such as scarcity are removed, and unless access is equalized through a more developed market system and a complete dismantling of central planning and rationing, the prospects for overcoming the effects of systemic corruption and particularistic relationships are poor.
Aus dieser Perspektive ist der Marktmechanismus alleine nicht in der Lage, hierarchisch organisierte politische Machtgruppen dauerhaft zu schwächen. Vielmehr können politisch-bürokratische Organisationen und Marktinstitutionen in Symbiose existieren. Der sogenannte „lokale staatliche Korporatismus“ (vgl. Kapitel 1.2), bei dem lokale Regierungen als Vorstand kollektiver Unternehmen fungieren, ist eine Spielart einer solchen Symbiose: Die lokale politisch-bürokratische Macht in China geht vor der Marktwirtschaft nicht in die Knie, sondern zieht sogar noch Vorteile aus ihrer Entwicklung. Einerseits gehört der lokale staatliche Korporatismus, der unter dem Kuratel des politisch-bürokratischen Systems steht, zur staatlichen Ökonomie. Andererseits agiert der lokale staatliche Korporatismus jedoch entsprechend der Marktbedingungen: Er stellt sich der Konkurrenz auf dem Markt und trägt zum Aufschwung der chinesischen Ökonomie bei.
Die kommunistische politische Macht konnte daher in der neuen Marktwirtschaft bislang überleben. Aus der Sicht von Oi kann die Grundlage des Klientelismus nur zerstört werden, wenn die kommunistische Politik Chinas grundlegend verändert wird, was jedoch in der überblickbaren Zukunft nicht geschehen werde.