Der Ansatz des symbiotischen Klientelismus
Die dritte Perspektive erkennt einerseits die dauerhafte Existenz der PatronKlient-Beziehungen in der chinesischen Marktwirtschaft an, geht andererseits aber auch davon aus, dass die Einführung der Marktwirtschaft die Machtstrukturen derart umgekehrt hat, dass die privaten Unternehmer nun mehr Macht als die Kader besitzen. Der Klientelismus, bei dem die Klienten mächtiger als die Patrone sind, wird von David Wank als „symbiotischer Klientelismus“ bezeichnet – im Gegensatz zu einem „abhängigen Klientelismus“, bei dem die Patron-KlientBeziehung vom Patron dominiert wird.
Aus den Ergebnissen seiner in Xianmen – einer Stadt in Südostchina – durchgeführten empirischen Studie folgert Wank, dass sich im Zuge der Entwicklung des Kapitalismus die Grundlage des Austauschs zwischen Unternehmern und Kadern radikal verändert habe. Früher – in den 1980er Jahren – waren private Unternehmer stark von den Kadern abhängig. In vielerlei Hinsicht benötigten sie ihre Hilfe, ohne die sie mit ihren wirtschaftlichen Aktivitäten kaum vorankommen konnten. Aber nachdem die Nationalökonomie zu großen Teilen liberalisiert und dezentralisiert worden ist, haben private Unternehmer immer mehr an Macht gewonnen. Die Gefälligkeiten von Kadern sind nicht mehr notwendig, im Gegenteil: „it is now the entrepreneur-citizen who gives officials access to material necessities through bribes, salaries, and dividends“ (Wank 1995: 176). Die veränderte Machtstruktur sorge so dafür, dass die Patron-Klient-Beziehung zu einer Symbiose werde: Die Unternehmer bieten den Kadern materielle Vorteile, und im Gegenzug öffnen die Kader diese oder jene „Hintertür“, durch die ihre Klienten andere Marktteilnehmer übervorteilen können (vgl. Wank 1999: 72–81).
Der Befund von Wank wird durch weitere empirische Belege gestützt. Laut Steven Cheung (2008) ist eine wichtige Ursache für den Aufschwung der chinesischen Ökonomie die unter kleinen Städten herrschende Konkurrenz um private Investitionen. Um so viele Investitionen wie möglich im eigenen Regierungsbezirk anzuziehen und dadurch das lokale Steuereinkommen zu erhöhen, streben die Bürgermeister von kleinen Städten nach guten GuanxiBeziehungen mit privaten Unternehmern. Auf diese Weise geschieht ein Rollentausch. Die Kader bieten den lokalen Unternehmen nicht nur günstige politische Bedingungen, sondern handeln solche auch mit anderen lokalen Regierungen zugunsten der eigenen Klienten aus. Dies bezeichnet Wank als „Neomerkantilismus“ (Wank 1999: 217ff.).
Die Entwicklung des Kapitalismus führt deswegen auch aus dieser Perspektive nicht unbedingt zum Verschwinden des politischen Einflusses auf dem Markt. Die erfolgreichen Kapitalisten in China suchen immer noch den Zugang zu dem sozialistischen politisch-bürokratischen System, um zusätzliche Vorteile zu erzielen. Diese Strategie der chinesischen Unternehmer hat eine ironische Konsequenz, wie Wank erläutert: „as it undermines the infrastructural power of the central state, it perpetuates a pervasive bureaucratic presence in the market economy“ (Wank 1995: 181). Auch Ting Gong kommt zu einem ähnlichen Schluss, nachdem er die neuen Entwicklungen der Korruption in China analysiert hat: „All this indicates that, in contrast to the conventional wisdom that marketization necessarily reduces corruption, the sources of corruption are many and complex and a free market is not panacea“ (Gong 1997: 287).
Es ist in diesem Zusammenhang wichtig, dass Wank zwar die zentrale Rolle des „symbiotischen Klientelismus“ hervorhebt, er aber gleichzeitig von einer abnehmenden Bedeutung der Guanxi-Praktiken ausgeht. Eine Eigenschaft des symbiotischen Klientelismus sei es, dass die dort herrschenden Beziehungen „more blatantly instrumental“ sind und sich auf „much larger sums of money and valuable commodities“ beziehen (Wank 1995: 178). Ganqing, in den der vormalige „abhängige Klientelismus“ tief eingebettet war, werde in dem neuen Klientelismus durch ausschließlich ökonomische Interessen ersetzt. Auf diese Weise gehe Guanxi in der Marktwirtschaft immer weiter unter, während die PatronKlient-Beziehungen immer instrumenteller würden.