Marktwirtschaft, Patronage-Ökonomie oder symbiotischer Klientelismus?

Die vorangegangenen Ausführungen kreisten im Wesentlichen um zwei Fragen: Geht der Klientelismus in China unter? Und wer ist mächtiger in der Marktwirtschaft: Kader oder private Unternehmer?

Bei der Beantwortung der ersten Frage vertritt Nee die optimistische Sicht, dass die Ausbreitung des Marktes allmählich die politische Macht verdrängen wird. Nur in den Bereichen, in denen Kader noch redistributive Macht besitzen, sei politische Patronage vorteilhaft, so etwa auf dem Kapital- und Immobilienmarkt sowie bei der Vergabe von Regierungsaufträgen. Doch blieben die Transaktionen in jenen Bereichen lediglich „sporadischer“ Natur, während politikfreie Transaktionen das Hauptmerkmal des wirtschaftlichen Alltagslebens seien (vgl. Nee/Opper 2012: 240).

Es wäre jedoch ein Irrtum anzunehmen, dass die so genannten „sporadischen“ Transaktionen in ihrer Bedeutung in den Hintergrund rückten. Bei den alltäglichen Transaktionen geht es in der Regel nur um dreibis vierstellige Geldbeträge. Im Gegensatz dazu betrifft eine einzelne „sporadische“ Transaktion oft Millionen oder sogar Milliarden. Die hier möglichen riesigen Profite animieren die beteiligten Marktteilnehmer, um politisches Kapital zu konkurrieren. Angesichts dieser Tatsache ist es nicht verwunderlich, dass die „sporadische“ Korruption so große Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat und das gesamte ökonomische Klima in Chinas dominiert (vgl. Gong 1997).

Außerdem existiert politischer Einfluss ebenso in jenen Märkten, die Nee für politikfrei hält. Obwohl ein Unternehmer Produktionsmittel und Produkte auf dem Markt kaufen und verkaufen kann, ist er doch von zahlreichen öffentlichen Verwaltungsbehörden abhängig – z.B. für Sicherheit, Hygiene, Kommerz, Umweltschutz, Steuern, Feuerwehr usw. Ein Inhaber einer Anzahl von Restaurants in Wuxi, einer Stadt in Südostchina, beklagt sich auf die folgende Art und Weise (Cheung/King 2004: 256):

They came without a reason, picked this and that up, charging you hygiene fee, garbage fee, ... If your business is good, they could charge you twenty thousand yuan (1 US dollar = 8 yuan) per year, without giving any reason. They could also charge you one thousand. That all depended on how good your relationship was with them. If the relationship was good, they would charge you less. If the relationship was not good, they would charge you more.

Dass die Marktkoordination die distributive Funktion der Regierung ersetzt hat, bedeutet deswegen nicht den Untergang des politischen Kapitals auf dem Markt. Es scheint vielmehr so, dass die weitere Entwicklung der privaten Ökonomie in China nur zu einer engeren Verflechtung des Marktmechanismus und des sozialistischen bürokratischen Systems führt, falls keine tiefgreifende politische Reform erfolgt. Deshalb sollte die Frage, ob der Klientelismus in China untergehen wird, durch eine andere Frage ersetzt werden: Warum führt die Entwicklung der Marktwirtschaft nicht zu eine Entpolitisierung der Märkte, sondern zu vertieften Verquickungen zwischen Wirtschaft und Politik?

Nun zur zweiten Frage, ob die Unternehmer mehr Macht haben als die Kader. Insgesamt hat die Macht von Unternehmern im Laufe der Zeit zugenommen. Nach drei Jahrzehnten der Entwicklung haben die privaten chinesischen Unternehmer Chinas sich bereits eine erhebliche Machtposition erworben. Sie benötigen keinen „roten Hut“ oder „politischen Schirm“ mehr, um sich vor der staatlichen Unterdrückung privater Ökonomie zu schützen. Umgekehrt werden sie und ihr Privateigentum jetzt von staatlichen Institutionen geschützt. Auf lokaler Ebene lässt sich deshalb mancherorts in der Tat ein umgekehrtes Machtverhältnis zwischen Kadern und Unternehmern beobachten, wie Wank gezeigt hat.

Aber das ist nicht überall der Fall. Ob der Klientelismus in seiner abhängigen oder seiner symbiotischen Spielart auftritt, ist davon abhängig, in welchen Bereichen Unternehmer tätig sind und mit welchen Kadern sie zu tun haben. Wenn es sich um Patronage im Kapitaloder Immobilienmarkt handelt, auf dem es um Millionenbeträge geht und der von der politischen Macht völlig beherrscht wird, oder wenn es um eine Beziehung zu einem hochrangigen Kader in der Zentralregierung geht, sind die privaten Unternehmer natürlich im Nachteil. Die individuelle Situation der privaten Unternehmer spielt ebenfalls eine Rolle. Ob sie sich für „Exit“-, „Voice“oder „Loyalty“-Strategien (vgl. Hirschman 1970; Tsai 2007) entscheiden, ist abhängig von ihren jeweils verfügbaren Ressourcen. Es kann deswegen kaum generell behauptet werden, dass die Unternehmer mittlerweile die Patron-Klient-Beziehung beherrschen, auch wenn sie ihre Position erheblich verbessert haben. Die existierenden Machtverhältnisse sind im heutigen China vielmehr komplexer Natur und können nicht durch eine einzige Struktur charakterisiert werden.

Darüber hinaus ist es auch wichtig, dass der Begriff „Macht“ nicht zu eng verstanden wird. Sowohl Oi als auch Wank verorten „Macht“ in der politischökonomischen Struktur, in der Macht im Wesentlichen auf Geld und politischem Einfluss basiert. Die soziologische Perspektive wird dabei außer Acht gelassen. Macht, wie Weber sie definiert, „bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“ (Weber 2002: 287). Im Sinne dieser Sichtweise sollte jede Fähigkeit, Einfluss auf den Entscheidungsprozess und das Verhalten von anderen auszuüben, als Macht verstanden werden. Im 3. Kapitel ist bereits gezeigt worden, dass in den 1980er Jahren die im ökonomischen Leben am meisten genutzte Macht weder Geld noch politische Autorität war, sondern die informelle Macht, die im Alltagsleben durch soziale Interaktionen und Netzwerke kontinuierlich produziert wird – also die Macht „ohne Gewehrläufe“. Die lokalen Kader – besonders in den kleinen Dörfern – mussten trotz ihres formellen politischen Machtmonopols ebenso den sozialen Normen – vor allem den Normen von Mianzi und Renqing – gerecht werden, die als Waffe der „politisch Ohnmächtigen“ fungiert haben. Die Techniken der Manipulation solcher Normen wurden bis in die feinsten Verästelungen weiterentwickelt, so dass die „politisch Ohnmächtigen“ eine mikrokosmische Welt erzeugen konnten, in der „hierarchical relations are to certain extent reversed“ (Yang 1994: 206). Anhand dieser „Macht ohne Gewehrläufe“ lässt sich erklären, warum die zunächst unterdrückten privaten Unternehmer die politischen Eliten der KPCh schließlich Schritt für Schritt zur Anerkennung der privaten Ökonomie zwingen konnten. Aus dieser Perspektive war der Klientelismus am Anfang der Reform in der Tat kein „abhängiger Klientelismus“ im Sinn von Wank.

Trotzdem sind Zweifel an der These angebracht, dass der Klientelismus im heutigen China generell als „symbiotisch“ zu betrachten ist. Die Vielfalt der Strategien der Unternehmer gegenüber den Kadern zeigt, dass die Eigenschaften der jeweiligen Patron-Klient-Beziehung von den vorhandenen Ressourcen beider Seiten abhängig sind. Die „vorhandenen Ressourcen“ müssen dabei auch soziologisch verstanden werden, also mit Hilfe von Renqing und Mianzi. Verlieren die privaten Unternehmer die Fähigkeit zur Manipulation von Renqing und Mianzi, können sie in eine nachteilige Position gegenüber den Kadern geraten, obgleich sie über viel Geld verfügen und politisch weniger diskriminiert werden.

Die systematische Korruption sowie die Machtverhältnisse in der PatronKlient-Beziehung sind auch die Schlüssel zum Rätsel des politischen Entwicklungspfads Chinas: Warum drängen die neuen ökonomischen Eliten die politische Führung nicht zu weiteren politischen Reformen? Warum sind sie bereit, ihre Abhängigkeit von der politischen Macht weiterhin hinzunehmen?

 
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