Markt, Guanxi und Hierarchie
In den vorangegangenen Ausführungen wurde auf drei wirtschaftliche Allokationsmechanismen Bezug genommen: Markt, Guanxi und Hierarchie. Nach herkömmlicher Ansicht sind diese drei Mechanismen nicht miteinander kompatibel und die Modernisierung ist ein Prozess, bei dem der Marktmechanismus allmählich die beiden anderen Verteilungsmechanismen verdrängt. Aus dieser Perspektive behaupten etwa Guthrie und Wank, dass im Zuge der Entwicklung der chinesischen Marktwirtschaft Guanxi eine immer geringere Rolle spielen wird. Auch Nee folgt dieser Logik und argumentiert, dass die Vermarktungsprozesse die politische Macht des Staates geschwächt haben. Dies ist sicherlich nicht ganz falsch, da sich in China der marktwirtschaftliche Wettbewerb immer deutlicher durchsetzt. Als Kunden vertrauen Chinesen nicht mehr unbedingt Guanxi, um etwas zu kaufen. Sie gehen in ein Kaufhaus und erwerben, was sie möchten. Als Unternehmer suchen sie im Wettbewerb auf dem Markt nicht automatisch nach der Hilfe von Kadern. Um ihren Gewinn zu erhöhen, versuchen sie einfach, bessere und billigere Produkte anzubieten.
Aber dies ist nur eine Seite der Ökonomie Chinas. Dass die Marktwirtschaft Chinas in den letzten Jahren im Rekordtempo gewachsen ist, bedeutet nicht, dass sie die zwei anderen Allokationsmechanismen generell beseitigen konnte. Wenn z.B. ein Unternehmer für einen mit ihm verbundenen Zulieferer oder Investor einen Kooperationspartner suchen möchte, spielt Guanxi nach wie vor eine zentrale Rolle, da durch seine sozialen Normen nicht nur Vertrauen, sondern auch kulturelle Elemente wie Mianzi und Renqing vermittelt werden. Das ist der Grund, warum viele Experten ausländischen Unternehmern in China raten, Guanxi auf jeden Fall zu berücksichtigen, wenn sie in China erfolgreich sein wollen. Ebenso herrscht der Klientelismus nach wie vor in China. Auf den Kapital- und Immobilienmärkten und auch bei den Bauaufträgen der Regierungen steht die politische Patronage unverändert im Zentrum.
Dass der Markt nicht der einzige wirtschaftliche Allokationsmechanismus in der modernen Welt ist, wurde von vielen Wissenschaftlern betont. Oliver Willliamson zeigt, dass Unternehmer aufgrund der anfallenden Transaktionskosten die horizontale marktwirtschaftliche Kooperation durch hierarchische Strukturen ersetzen (vgl. Williamson 1975). Granovetter misst dagegen sozialen Beziehungen eine große Bedeutung bei ökonomischen Transaktionen bei (vgl. Granovetter 1973). Wer jedoch die Situation Chinas verstehen will, muss die historischen und kulturellen Hintergründe in seine Analyse mit einbeziehen, ohne die der Stellenwert von Guanxi, Renqing und Mianzi rätselhaft bliebe. Deshalb ist in China unter „Hierarchie“ als Allokationsmechanismus auch nicht nur die innere Struktur eines Unternehmens zu verstehen, sondern auch die bürokratische Macht des Staates. Setzt man das voraus, dann erkennt man im Geld auf dem Markt, in Renqing und Mianzi im Rahmen von Guanxi und in der politisch-hierarchischen Macht die drei zentralen Vermittlungsmechanismen in China.
Es ist bemerkenswert, dass sich diese drei Vermittlungsformen nicht gegenseitig verdrängen, sondern wechselseitig beeinflussen und verflechten. Erstens können Geld und Renqing/Mianzi „getauscht“ werden. Auf dem Markt kann man einen nicht unerheblichen Rabatt erhalten, wenn man die Normen von Renqing und Mianzi richtig nutzt. In diesem Sinne sieht Yang Guanxi als ein Äquivalent zu Geld (vgl. Yang 1994: 167). Umgekehrt lässt sich auch mit Hilfe von Geld – meistens in Form von Geschenken oder Essenseinladungen – eine GuanxiBeziehung aufbauen oder aufrechterhalten, wodurch Renqing-Schuld und Mianzi produziert werden. Aus diesem Grund hat die Vermarktlichung von Guanxi die Menschen nicht dazu animiert, weniger in Guanxi zu investieren. Zweitens kann Guanxi auch in politische Macht verwandelt werden. In China ist die mächtigste Waffe der Schwächeren nicht Geld, sondern Renqing und Mianzi. Gleichgültig wie viel politische Macht ein Kader besitzt, auch er muss sich der Macht des Alltagslebens beugen. In dem durch Guanxi erzeugten Mikrokosmos wird das Machtverhältnis so umgekehrt, dass sich die Mächtigen verpflichtet fühlen, ihren Verwandten oder Freunden zu helfen. Zuletzt ist der Tausch zwischen Geld und Macht zu nennen, der stattfindet, sofern die politische Macht stark zentralisiert ist und keine wirksame Kontrolle besteht. Obwohl sich ein solcher Tausch in China immer häufiger beobachten lässt, ist er für beide Seiten durchaus nicht die beste Wahl. Die Kader nehmen dabei ein großes Risiko auf sich, dass ihr korruptes Verhalten bekannt wird, während ihre Klienten exorbitante Geldbeträge anbieten müssen, um die Kader gefügig zu machen. Aus diesem Grund tendieren die meisten Kader und Marktteilnehmer auch im heutigen China weiterhin dazu, den Tausch zwischen Geld und Macht nur in vermittelter Form in Guanxi-Kontexten zu praktizieren.
Die am meisten verbreitete Praxis in China verläuft so: Zu Beginn ist durch Geschenke und Essenseinladungen ein Guanxi mit einem wichtigen Kader zu etablieren (getauscht wird: Geld gegen Renqing/Mianzi), um dann die GuanxiNormen für politisch gewährbare Privilegien zu nutzen (getauscht wird hier: Renqing/Mianzi gegen politische Macht) und um schließlich mit Hilfe dieser Privilegien andere Marktteilnehmer auf dem Markt zu übervorteilen (getauscht wird nun: politische Macht gegen Geld). So werden Markt, Guanxi und Hierarchie eng miteinander verflochten.
Diese Konstellation ist jedoch instabil. Sie kann sich verschieben, wenn die Rahmenbedingungen sich ändern. Wenn etwa der politische Einfluss der Regierungen auf den Markt reduziert würde, wären die Kader nicht mehr das ideale Zielobjekt für „emotionale Investitionen“ oder – mit den Worten von Walder – „target cultivation“ (Walder 1986: 180). Bekanntlich möchte die KPCh die Grundlagen des politischen Systems nicht reformieren, sondern forciert nur die Bekämpfung der Korruption. Damit mag sich einerseits zwar die unverblümte und offensichtliche Korruption in gewissem Ausmaß kontrollieren lassen, andererseits aber verstärkt sich hierdurch gerade die Rolle von Guanxi, Renqing und Mianzi. Denn Patrone und Klienten versuchen gerade angesichts von intensivierten Kontrollen und Sanktionen ihre Transaktionen möglichst in GuanxiKontexten durchzuführen. Manchmal wird politische Patronage auch ohne ein „gekauftes“ Guanxi erzielt, wenn Marktteilnehmer und Kader nach dem Motto „Gefälligkeit gegen Gefälligkeit“ handeln. So erteilt ein Kader einem Klienten z.B. einen Bauauftrag und im Gegenzug stellt der Unternehmer einen Verwandten oder Freund des Kaders mit einem hohen Gehalt an, der in Wirklichkeit jedoch niemals in dem Unternehmen arbeitet. Dabei bleibt Geld von Anfang an aus dem Spiel, so dass die Strafverfolgungsbehörden solchen Korruptionspraktiken kaum auf die Schliche kommen können.
Die komplexen Wechselwirkungen zwischen den politisch-administrativen Rahmenbedingungen und den von Markt, Guanxi und Hierarchie bestimmten Verhältnissen ist ein Thema, das in diesem Kontext nicht weiter vertieft werden kann. Hier ist es wichtig festzuhalten, dass die drei Allokationsmechanismen nebeneinander und miteinander existieren können – deshalb wird in China die Entwicklung der Marktwirtschaft sowohl von Guanxi als auch vom Klientelismus und der direkten Korruption begleitet.