Ein evolutionäres Entwicklungsschema von Institutionen
Mit der Typologie von Helmke und Levitsky können wir den Prozess der institutionellen Entwicklung in China besser erfassen. Aber ein Problem wird dabei doch vernachlässigt: Formelle Institutionen werden nur als effektiv oder ineffektiv im Sinne ihrer Durchsetzung eingestuft. Dabei kann eine effektive Institution gleichzeitig ökonomisch ineffizient sein, ebenso wie eine ökonomisch effiziente formelle Institution sich nicht zwingend durchsetzen muss. Die staatlichen Institutionen waren in der Mao-Ära zwar defizitär und konnten die Ökonomie nicht stützen, aber sie konnten sich trotzdem durchsetzen. Im Gegensatz dazu sind die formellen Gesetze und Regulierungen in China heutzutage wenig verlässlich, obwohl ihre Durchsetzung zum Erfolg der Marktwirtschaft beitragen würde. Mit diesen Überlegungen lassen sich die ökonomisch ineffizienten und die ökonomisch effizienten formellen Institutionen in das Schema integrieren und vier Arten von formellen Institutionen unterscheiden:
effizient |
ineffizient |
|
effektiv |
I Industrieländer |
II Autokratien |
ineffektiv |
III Entwicklungsländer |
IV Übergangsphase |
Tabelle 5. Vier Arten formeller Institutionen
I: Die formellen Institutionen haben nicht nur ein ökonomisch rationales Design, sondern sind auch tatsächlich wirksam. Die heutigen Industrieländer gehören in ihrer Mehrzahl zu dieser Kategorie.
II: Die formellen Institutionen sind zwar ökonomisch ineffizient, dennoch erweisen sie sich als durchsetzungsfähig. Die Wirksamkeit dieser Institutionen behindert die ökonomische Entwicklung und führt zu Stagnation und dauerhafter Unterversorgung. Viele autokratische und diktatorische Staaten haben diese Eigenschaft, z.B. Nordkorea und China in der Mao-Ära.
III: Die formellen Institutionen haben zwar ein ökonomisch effizientes Design, können aber nicht hinreichend effektiv umgesetzt werden. Grundrechte und Eigentumsrechte stehen weitgehend nur auf dem Papier. Zu dieser Kategorie gehören heute Länder wie China und Indien.
IV: Die formellen Institutionen sind weder effizient konzipiert noch wirksam umgesetzt. Diese Konstellation zeigt normalerweise historische Übergangsphasen an, etwa die kommunistischen Institutionen kurz nach der Kulturrevolution und die gegen die Privatökonomie gerichteten politischen Aktionen im China der 1980er Jahre.
Wenn die Wirksamkeit und Effizienz formeller Institutionen gleichzeitig in Beracht gezogen werden, lässt sich exemplarisch anhand von China zeigen, wie sich die Funktionen sozialer Institutionen in wechselseitiger Abhängigkeit mit formellen Institutionen entwickeln können:
Abb. 6 Entwicklungspfad sozialer Instituionen Chinas
Diese Darstellung pointiert einen möglichen Entwicklungspfad von sozialen Institutionen in ihrer Wechselwirkung mit formellen Institutionen. Der Ausgangspunkt ist ein ineffizienter und effektiver Staat mit komplementären, den Staat stützenden sozialen Institutionen (wie in der Mao-Ära). Dass derartige soziale Institutionen entstehen oder (re-)aktiviert werden, ist in dem Glauben der Menschen begründet, dass das betreffende politische System in ihrem Interesse liegt. Wenn sie jedoch feststellen, dass die vorhandenen formellen Institutionen die ihnen zugewiesenen Funktionen tatsächlich nicht (mehr) erfüllen, schaffen sie als Nebenprodukte ihrer alltäglichen Interaktionen neue soziale Institutionen, um konkrete Probleme in ihrem sozialen und ökonomischen Leben zu lösen. Phase I zeigt den Prozess, dass komplementäre soziale Institutionen aufgrund der zunehmenden Enttäuschung allmählich „vermittelnden“ Charakter annehmen.
Bedienen sich immer mehr Akteure den vermittelnden sozialen Institutionen, verlieren die formellen Institutionen schließlich an Durchsetzungskraft. In dieser Situation entwickeln sich die sozialen Institutionen von „vermittelnden“ zu „konkurrierenden“ Institutionen, was Phase II entspricht.
Die zunehmende Anerkennung und Wirkmächtigkeit der konkurrierenden sozialen Institutionen kann zur Reform der formellen Institutionen beitragen. In Phase III werden die ineffektiven und ineffizienten formellen Institutionen ex post reformiert, um die tatsächlich wirksamen konkurrierenden sozialen Institutionen rechtlich zu fixieren. Nach einer solchen Reform können die sozialen Institutionen weiterhin eine dominierende Stellung im gesellschaftlichen und ökonomischen Leben einnehmen, wenn die neuen formellen Institutionen noch schwach sind und die Akteure die alten Strategien und Gewohnheiten beibehalten. In dieser Situation kommt den sozialen Institutionen eine „substitutive“ Funktion zu.
Würden die formellen Institutionen den neuen Gegebenheiten entsprechend konzipiert und effektiv umgesetzt, könnten sie eine strukturbildende Wirkung entfalten und die sozialen Institutionen eine verstärkende, „komplementäre“ Funktion ausfüllen. Phase IV stellt das erfolgreiche Ende einer Entwicklung dar, bei der sich rational entworfene formelle Institutionen nicht nur aus eigener Kraft durchsetzen, sondern auch Unterstützung von konvergenten sozialen Institutionen erhalten, was etwa Überwachungs- und Sanktionskosten erheblich reduziert.
Die Erfahrung in der VR Chinas zeigt einen solchen Entwicklungspfad: von der Mao-Ära (Phase I, Autokratien) über den Beginn der Reformen (Phase II, Übergangsphase) bis zur Gegenwart (Phase III, Entwicklungsländer[1] ). Es ist dabei zu beachten, dass in Phase III soziale Institutionen in China nicht nur substitutive, sondern auch konkurrierende Funktionen aufweisen. Während Guanxi einerseits Transaktionen auf dem Markt absichert, fördert es andererseits auch die Korruptionspraxis. Der Einsatz von Guanxi beim „Rent Seeking“ bietet den Marktakteuren eine Möglichkeit, durch Erfolge im Wettbewerb um politische Macht Vorteile auf dem Markt zu erzielen. Der mögliche Profit durch politische Patronage und das unerschütterliche Vertrauen auf die eigenen Guanxi-Fähigkeiten verleiten Marktteilnehmer dazu, die konkurrierenden Funktionen des Guanxi zu nutzen, was die Entwicklung zu einem demokratischen Rechtsstaat (also zu Phase IV) in China erheblich behindert. Die konkurrierenden Funktionen des Guanxis könnten verringert und verändert werden, wenn die Mehrheit der Marktteilnehmer erkennen würde, dass sie im Wettbewerb um politische Patronage mehr verlieren als verdienen kann. Diese Enttäuschung könnte zu einem Wandel der Funktionen des Guanxi führen: von „konkurrierenden“ zu „substitutiven“ oder „komplementären“ Funktionen.
- [1] Genauer gesagt, befindet sich das heutige China noch in der Übergangsphase zu einem effizienten Staat, da noch zahlreiche, die ökonomische Entwicklung hemmende Schranken existieren, wie etwa die Monopolisierung des Kapital- und Immobilienmarktes durch den Staat.