Die Macht ohne Gewehrläufe und die formelle institutionelle Entwicklung

Nach herkömmlicher Lesart werden institutionelle Entwicklungen vor allem durch politische und ökonomische Macht geprägt. Aus dieser Perspektive werden immer wieder Begriffe wie Rationalität und materielle Anreize in den Vordergrund gerückt, z.B. von Olson (1971) oder North (1990); wenn auch North die Macht des Alltagslebens nicht völlig außer Acht gelassen hat. Wie im zweiten Kapitel gezeigt, haben Nee und Ingram (2001) den Faktor „soziale Beziehungen“ in die Diskussionen über institutionelle Entwicklung eingebracht. Margaret Levi (1990) hat in ihrer Studie zur Logik institutioneller Veränderung auf die sogenannte „bedingte Zustimmung“ hingewiesen. Für Levi können externe Anreize die Konformität mit Normen nicht völlig erklären. Prosoziales Verhalten sei in den meisten Fällen auf ein alltägliches Verständnis des Konzepts der „Fairness“ zurückzuführen. Konformität sei in dem Sinne „bedingt“, dass sie entzogen werde, wenn die bestehenden Institutionen nicht mehr für fair gehalten werden.

Auch wenn Nee und Ingram oder Levi die Konformität mit Normen und Institutionen im alltäglichen Leben verankern, beziehen sie sich am Ende aber doch auf rationales Verhalten, das materiellen Anreizen folgt. Soziale Beziehungen, behaupten Nee und Ingram, seien zu fragil, um allein menschliches Verhalten zu regulieren und setzen die Möglichkeit wechselseitiger Überwachung und sozialer Sanktionen zur Stabilisierung einer kooperativen Ordnung voraus. Der Entzug bedingter Zustimmung, wie Levi sie versteht, könne sich nur dann auf der institutionellen Ebene auswirken, wenn die Unzufriedenen, die die bestehenden Institutionen nicht mehr für „fair“ halten, über hinreichende politische oder ökonomische Macht verfügen. Der Einfluss auf formelle Institutionen, der im Alltagsleben produziert wird, also die „Macht ohne Gewehrläufe“, wird dagegen eher gering geschätzt.

Die Erfahrungen Chinas zeigen aber, dass auch eine dezentralisierte und unorganisierte Macht in der Lage ist, Institutionen zu verändern. Die revolutionären Umwälzungen im China der 1980er Jahre waren zu einem wesentlichen Teil auf die spontanen menschlichen Interaktionen im Alltagsleben zurückzuführen. Die Pioniere des Unternehmertums haben sich niemals organisiert. Die Unternehmer waren zu Beginn der Reformen lediglich in der Lage, die Machtverhältnisse in einem mikrokosmischen Kontext zu ihren Gunsten zu verschieben. Dabei wurde nicht eine politische oder ökonomische Macht genutzt, sondern die soziale Macht, die auf alltäglichem Wissen und alltäglichen Erfahrungen beruht und sich nicht mit „Gewehrläufen“ ausrüstet. Um in einer konkreten Situation individuelle Beziehungen zwischen Kadern und Unternehmern anzubahnen, wurden Renqing und Mianzi immer wieder als Mittel der Wahl herangezogen. Viele Millionen Kader und Unternehmer waren in diese Praxis involviert. Ihre unorganisierten, individuellen, alltäglichen Interaktionen haben am Ende eine unwiderstehliche Macht erzeugt, die schließlich auch die formellen Institutionen veränderte.

Es ist bedauerlich, dass der kulturell und sozial vermittelte Einfluss des Alltagslebens auf die Entwicklung formeller Institutionen insgesamt nur begrenzte Aufmerksamkeit findet. Die vorliegende Studie sollte dagegen die ökonomische und institutionelle Bedeutung der subjektiven Wahrnehmung der Wirklichkeit und der von ihr geprägten sozialen Beziehungen vor Augen führen. Institutionelle Ordnungen müssen keine „stahlharten Gehäuse“ sein, die den Menschen alle Optionen nehmen und sich kaum verändern lassen. Stattdessen können sie auch durch die Dynamik alltäglicher intersubjektiver Interaktionen in Bewegung gebracht und sogar aufgelöst werden – es kann also genau das geschehen, was die 1980er Jahren in China charakterisierte.

 
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