Kultur und institutioneller Entwicklungspfad

Kulturelle Institutionen und ihre Traditionen strukturieren – als gemeinsamer Werte- und Wissensbestand – das Denken und Verhalten sowohl im sozialen Alltagsleben als auch im ökonomischen Handeln. Durch Kultur werden unsere Erfahrungen und Werturteile so weitergegeben, dass sie von den kommenden Generationen zunächst als etwas Vorgegebenes fraglos aufgenommen werden. Aufgrund dieser Eigenschaft wird Kultur häufig für unveränderbar gehalten.

Sowohl Webers Studie zum Geist des Kapitalismus als auch Greifs Untersuchung zu den mittelalterlichen jüdischen Händlergruppen deuten traditionelle kulturelle Überzeugungen als eigenständiges System von Weltanschauungen und Werteinstellungen, die sich von neuen gesellschaftlichen und technologischen Errungenschaften kaum beeinflussen lassen. Das Scheitern des Kapitalismus in China und der Untergang der kollektivistischen Maghribi-Juden im mittelalterlichen Europa sind aus dieser Perspektive vorbestimmte und folgerichtige Phänomene gewesen.

Tatsächlich ist es jedoch nicht zwingend, dass kulturelle Kontinuität und Stabilität immer zur Ablehnung neuer Entwicklungen führen. Kultur lässt sich zwar nur schwer verändern, es besteht aber doch die Möglichkeit, dass Menschen auf dem Hintergrund ihrer überkommenen Weltanschauungen und Werteinstellungen die Realität in einer kreativen Weise neu und anders interpretieren und bewerten. Die moderne chinesische Geschichte ist dafür ein gutes Beispiel Sie hat sowohl Phasen mit großer kultureller Stagnation als auch Perioden revolutionärer institutioneller Veränderungen erlebt. So erscheinen zwar auf den ersten Blick kommunistische Ideale mit der konfuzianischen Lehre als völlig inkompatibel, und nach der Gründung der Volksrepublik China versuchte die Kommunistische Partei auch dementsprechend, Konfuzianismus als „alte, feudalistische und rückständige“ Ideologie zu überwinden. Aber die genauere Betrachtung zeigt, dass die von der Kommunistischen Partei Chinas propagierten Ideale zu einem nicht unwesentlichen Teil gerade auf der traditionellen chinesischen Kultur beruhten. So soll gemäß dem konfuzianischen politischen Ideal der gesamte Staat wie eine große Familie aufgebaut werden, in der sich Herrschende wie Väter verhalten und die Bürger einander als Familienangehörige betrachten. Kollektivismus, Paternalismus und Zentralismus als Grundlagen des sozialistischen Chinas konnten so vom chinesischen Volk gerade vor dem Hintergrund der konfuzianischen Tradition und der familistischen Kultur akzeptiert werden (vgl. Nivison 1956). Die ökonomische Organisation in den sozialistischen Staatsunternehmen ähnelte darüber hinaus den Organisationsstrukturen der Klans im traditionellen China (vgl. Li 1991).

Allerdings legen kulturelle Traditionen das konkrete Verhalten der Menschen nicht fest, sondern wirken eher als Begrenzung der Möglichkeiten. Während in der Mao-Ära die familistische Kultur zu der Vorstellung einer „großen sozialistischen Familie“ beitragen konnte, ließ sie die Chinesen später zu deren eigenen natürlichen Familien und Guanxi-Kreisen tendieren. Auch wenn kulturelle Traditionen demnach ein großes Beharrungsvermögen haben und sich in ihrem Kern kaum oder nur sehr langsam verändern, kann auf der Grundlage einer bestimmten Kultur die Welt sehr unterschiedlich interpretiert werden und dementsprechend auch zu sehr unterschiedlichen sozialen Verhaltensweisen und Beziehungen führen. Deswegen konnten sich in China trotz der historischen Kontinuität des Familismus in verschiedenen Zeiträumen sehr verschiedenartige soziale Institutionen und Normen entwickeln: von der Kameradschaft über Verwandtschaftsbeziehungen innerhalb traditioneller Klans und verschiedene Varianten von Guanxi-Netzwerken in der Marktwirtschaft bis hin zu Patron-Klient-Beziehungen auf einem politisierten Markt. Diese sozialen Institutionen werden einerseits vom Familismus geprägt, andererseits sind sie immer offen für innovative Anpassungsleistungen.

Diese Offenheit erklärt, warum sich am Ende der Kulturrevolution angesichts des Scheiterns der „großen sozialistischen Familie“ divergierende soziale Institutionen entwickeln konnten, die schließlich über die formellen Institutionen hinauswuchsen, sie erfolgreich unterminierten und den Aufschwung der Marktwirtschaft ermöglichten. Sie erklärt aber auch, warum in der aktuellen Situation Chinas Guanxi-Netzwerke immer mehr für Korruptionspraktiken eingesetzt werden und als konkurrierende soziale Institutionen keine weiteren politischen Reformen in Gang setzen. Obwohl die Korruption Chinas Ökonomie insgesamt zweifelsohne stark schädigt, bedeutet die Korruption für die einzelnen Marktakteure nur, dass ihre Aktivität sich vom Markt zur Politik verschiebt: Wettbewerb um Macht statt Wettbewerb um Kunden lautet die Devise. Da die meisten Unternehmer in China über stabile und weitreichende Guanxi-Netzwerke verfügen, sind sie zuversichtlich, dass sie genügend politischen Einfluss haben, um ihre Interessen auf diesem Weg zu sichern. Auch diese Einschätzung ist teilweise kulturell geprägt. In einer familistischen Kultur fühlt man sich sicher, wenn man mit Personen innerhalb von Guanxi-Netzwerken interagiert, auch wenn es sich um riskante und vertrauliche Vorgänge handelt. Deswegen tendieren die ökonomischen Eliten in China dazu, Probleme durch persönliche Guanxi-Netzwerke zu lösen, anstatt sie durch eine Reform der politischen und rechtlichen Institutionen in den Griff zu bekommen.

Die ökonomische Erfolgsgeschichte Chinas auf der Grundlage der informellen sozialen Beziehungen und Normen, wie sie sich in den Guanxi-Netzwerken herausgebildet haben, hat so insgesamt zu der verbreiteten „Toleranz“ und dem Langmut der ökonomischen Eliten gegenüber den defizitären politischen und rechtlichen Institutionen in China beigetragen. [1] Die Möglichkeit, mit Hilfe informeller sozialer Institutionen wirtschaftliche und politische Ziele erfolgreich durchzusetzen, hat das Interesse des chinesischen Unternehmertums an einem Kampf um weitere Reformen und eine umfassende Demokratisierung spürbar gedämpft. Guanxi-Netzwerke haben sich allmählich zwar wieder zu konkurrierenden Institutionen entwickelt, aber in diesem Fall koexistieren die divergierenden sozialen Institutionen mit den ineffektiven formellen Institutionen, anstatt deren Veränderung anzustoßen. Die Komplexität der Beziehungen von Kultur, sozialen und formellen Institutionen wird durch das folgende Schaubild abschließend verdeutlicht.

Abb. 7 Wechselwirkungen von kulturellen, formellen und sozialen Institutionen

  • [1] Zu Guanxi als Ersatz für defizitäre formelle Institutionen vgl. Xin/Pearce (1996).
 
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