Das neo-institutionalistische Paradigma als Erklärungsrahmen für eine Analyse der Entwicklung schulischer Integration
Das in die eben dargestellten Überlegungen einzubeziehende neo-institutionalistische Paradigma hat seinen Ursprung in soziologischen Theorien, mit deren Hilfe Strukturen und Operationsweisen von Organisationen dargestellt werden, ohne dabei den Bezug auf Normen, Erwartungen und Leitbilder des gesamtgesellschaftlichen, institutionellen Kontexts, in den sie eingebunden sind, zu verlieren. [1] In diesem Kontext werden Organisationen als formale Organisationen verstanden, d. h. als Organisationen, die einer vorgegebenen Ordnung unterliegen: „Im Gegensatz zur informalen Organisation umfasst die formale Organisation die bewusst von Organisatoren gesetzten, offiziell autorisierten und als verbindlich angesehenen Regelungen zur Steuerung der Organisationsmitglieder. Sie gibt die Soll-Struktur der Unternehmung wieder“ (Wirtschaftslexikon, 2014). In einer Institution[2] werden durch die festgelegten Reglungen genaue Rollenerwartungen an die jeweiligen Institutionsmitglieder gestellt. Diese Rollenerwartungen werden in Institutionen durch die Entwicklung einer „formalen Struktur“ (vgl. Luhmann, 1972; SchulteZurhausen, 2014) dargestellt, da durch sie die komplexen, oftmals vielseitigen Arbeitsabläufe und -aktivitäten überhaupt erst koordiniert werden können (vgl. Scott, 1975). Mit der Arbeitsaktivität oder der „empirischen Struktur“ ist in diesem Fall die von den betroffenen Akteuren ausgeführte Handlung gemeint, die sie innerhalb der Institution ausführen.
Damit Institutionen allerdings funktionieren können, benötigen sie Ressourcen aus ihrer Umwelt, was mit einem gewissen Legitimationsdruck verbunden ist, bei dem die Höhe der Legitimation auch den Umfang der Ressourcen bestimmt. Demnach legitimiert sich eine Institution durch eine hohe strukturelle Anpassung an die von der Umwelt gesetzten Anforderungen. Durch die Inkorporation institutionalisierter Elemente[3] (vgl. Scott & Lyman, 1968) werden die Aktivitäten einer Institution nicht in Frage gestellt. Dieser Prozess wird als Isomorphie bezeichnet, stellt ein grundlegendes Prinzip des Neo-Institutionalismus dar (vgl. Meyer & Rowan, 1977) und umfasst die grundlegenden und allgemeingültigen Forderungen, denen Institutionen zu entsprechen haben und die Art und Weise, in der sie in der Gesellschaft ihre Legitimität erhalten. Dadurch werden gleichzeitig das Ziel und die Zielerreichung durch die Gesellschaft festgelegt (vgl. Meyer & Rowan, 1977), wobei sowohl Zielsetzung als auch Zielerreichung nicht auf die Optimierung des Austausches von Ressourcen zwischen Organisation und Gesellschaft ausgelegt sind, sondern auf die Herstellung von Legitimation für die Institution. So werden die Ressourcen für die Organisation selber zwar gewährleistet, gleichzeitig muss aber nicht zwingend ein produktives Austauschverhältnis bestehen, denn die Anforderungen, die an eine Institution gestellt werden, müssen dabei nicht immer konsistent sein und können sich unter Umständen sogar widersprechen (vgl. Luhmann, 1972; Kühl, 2011). So können beispielsweise Anforderungen in Form institutionalisierter Regeln, die durch die Gesellschaft (oder genauer: die umgebenden Systeme) an eine Institution gestellt werden, in Widerspruch zu deren Effizienz stehen, wenn etwa „… the relational networks involved in economic exchange and political management become extremely complex, bureaucratic structures are thought to be the most effective and rational means to standardize and control sub-units.“ (Meyer & Rowan, 1977, S.342). Darüber hinaus können Erwartungen an die Institutionen zu unklar und vage gestellt sein, um daraus für die darin tätigen Akteure klare Handlungsanweisungen abzuleiten. Die Aufgabe einer Organisation ist es dann, diese Umwelterwartung umzusetzen und sie als interne formale Organisationsstruktur zu deklarieren.
Die Anforderungen die damit an die Organisation von unterschiedlichen Umwelten gestellt werden, schlagen sich allerdings nicht unbedingt direkt in der Handlung der Akteure nieder, sondern nur vermittelt über deren subjektive Wahrnehmung und Interpretation. Um die Legitimation dennoch nach aussen zu garantieren implementieren Institutionen sogenannte Rationalitätsfassaden, aus denen schliesslich „Mythen“als nicht hinterfragte, unreflektierte Tatsachen, die in der Gesellschaft fest institutionalisiert sind (vgl. Meyer & Rowan, 1977) kreiert werden. Eine derartige Institutionalisierung von Arbeitsaktivitäten kann jedoch zu Konflikten und Inkonsistenzen mit tatsächlichen Arbeitsaktivitäten führen. [4] Damit Institutionen trotzdem effektiv sein können, verfolgen sie deshalb zwei grundlegende Strategien (vgl. Meyer & Rowan, 1977):
1. Die Strategie der Entkopplung (decoupling), mit der die tatsächlichen Aktivitäten in der Organisation von den formalen Strukturen der Organisation, die die äusseren Anforderungen der Gesellschaft widerspiegeln und dadurch bestimmten Effizienzkriterien unterliegen, entkoppelt. Durch dafür entworfene Realitätsfassaden wird verhindert, dass die formale Struktur nach Effizienzkriterien beurteilt wird und gleichzeitig sicher gestellt, dass die Probleme mit denen sich die handelnden Akteure konfrontiert sehen, durch die tatsächlichen Aktivitätsstrukturen lösbar sind.
2. Über die Entkopplung hinaus ist es Aufgabe der Organisation nach innen (akteursgerichtet) und aussen (gesellschaftsgerichtet) ein vertrauensvolles Klima bezüglich organisatorischer Abläufe zu schaffen („logic of confidence“). Dazu müssen die Akteure davon überzeugt sein, dass sie in guter Absicht handeln.
Dabei wird das Vertrauen der Akteure in die Strukturelemente der Institution auf drei Arten aufrechterhalten: Vermeidung, Aufteilung und Wegsehen (vgl. Goffmann, 1967). Dies führt zu einem höherem Verpflichtungsgrad der Akteure gegenüber der Institution, zu deren stärkerer Identifikation mit den geschaffenen Mythen und ermöglicht damit, die entkoppelte Handlungsstruktur mit täglichen Routinen auszufüllen. Die Voraussetzung für eine gelingende Entkopplung der Aktivitätsstrukturen ist demnach erst, und nur durch das Vertrauen in die Organisation und ihre formale Struktur gegeben.
Ausgangspunkt der nun folgenden, auf dem eben dargestellten neo-institutionalistischen Paradigma fussenden Überlegungen ist die direkte Auswirkung institutionalisierter Regeln auf die tatsächliche, technische Umsetzung, wobei informale Prozesse, Überzeugungen, Regeln oder soziale Netzwerke (vgl. Meyer & Rowan, 1977) nicht in Betracht gezogen werden. Auf das Problem der schulischen Integration übertragen, soll der Versuch unternommen werden, im Erklärungsrahmen der beiden eben beschriebenen Prozesse den Wandel des Bildungssystems in Richtung schulischer Integration und damit auf eine bessere Gewährleistung gleicher Bildungschancen zu beschreiben und zu deuten. Konkret geht es also darum, zu analysieren, inwiefern und gegebenenfalls warum sich die tatsächliche integrative Praxis im Schulwesen von formalen Gesetzes- und Konzeptvorlagen, Effizienzfragen, usw. unterscheidet. In einem darüber hinausgehenden Schritt sind die Eigenschaften der Struktur von besonderem Interesse, da sie Hinweise auf einen eventuellen Rückschluss der empirischen auf die formale Struktur geben können (s. Kapitel 3.3.3.4).
Zu diesem Zwecke wird Powells (2009) auf das Sonderschulwesen bezogene Argumentation weiter verfolgt und entwickelt, wobei jedoch auch das Regelschulsystem mit einbezogen wird. Das hat seinen Grund darin, dass in einem auf Integration ausgerichteten Bildungssystem das separierende Teilsystem schon auf das Regelschulsystem ausgeweitet ist. Hinzu kommt, dass den hier verfolgten Überlegungen eine etwas veränderte Zielsetzung zugrunde liegen wird. Während Powell den Fokus seiner Darstellungen auf die Selbstlegitimation separierender Organisationen legt, besteht das Ziel dieser Arbeit in der Analyse von Differenzen zwischen der Struktur von Handlungsvorgaben für befasste Akteure (formale Struktur) und den Strukturen beabsichtigter oder vollzogener Handlungen von mit dem Gegenstand befassten Akteuren (empirische Struktur), wobei auch die Rolle des von den Organisationen ausgehenden Legitimationsdrucks mit berücksichtigt wird.
Fragestellungen
Vor dem Hintergrund der zuerst (vgl. Kapitel 2.3) beschriebenen Situierung und der inhaltlichen Darstellung der Integrationsthematik ergibt sich im Rahmen des neoinstitutionalistischen Paradigmas und seines Bezuges auf die diesbezügliche Perspektive der Integrationsthematik folgende Fragestellung für die sich nun anschliessende exemplarische empirische Untersuchung zur Situation im Kanton Solothurn:
Übergeordnete Hauptfragestellung
In welcher Beziehung steht die durch rechtliche Festlegung, bildungspolitische Ausrichtung und bereitgestellte Ressourcen repräsentierte regulative Säule des Bildungswesens zu den herrschenden Paradigmen in der kulturell kognitiven Säule sowie zu dem aus dem Professionsverständnis hervorgehenden institutionellen Handeln der im Schulbereich tätigen Akteure und wie lässt sie sich mit der Entkopplungsthese verbinden?
Auf den neo-institutionellen Rahmen bezogene Teilfragestellung
Allgemein: Inwieweit und in welcher Weise ist das institutionelle Handeln der Akteure von den staatlichen Vorgaben entkoppelt? (1)
Spezifisch: Inwieweit und in welcher Weise ist das institutionelle Handeln in den Bereichen „Diagnostik“, „Finanzen“, „Recht“, „Institutionen“ sowie „Aus- und Weiterbildung“ bei den Akteuren „Eltern“, „Klassenlehrpersonen“, „Schulleitern“, „Heilpädagogen“, „Förderlehrpersonen/Förderlehrkräfte“, „Logopädinnen“ und „Psychologen“ von den staatlichen Vorgaben entkoppelt? (1)
▶ Hypothese: Die untersuchte empirische Struktur unterscheidet sich nicht von der formalen Struktur.
Der Teilfragestellung zugeordnete Unterfragestellungen
Lassen sich die beiden Strukturtypen überhaupt darstellen? (2)
▶ Hypothese A: Die Akteursgruppen zeigen keine prägnante empirische Handlungsstruktur.
Besitzen die herausgestellten empirischen Handlungsstrukturen unterschiedliche Eigenschaften? (3)
▶ Hypothese B: Die bestimmten Eigenschaften der untersuchten Handlungsstrukturen unterscheiden sich nicht in ihrer Ausprägung.
- [1] Entsprechend steht in der Erziehungswissenschaft der Einfluss von Bildungsorganisationen auf die Strukturen und Praktiken organisierten pädagogischen Handelns im Vordergrund (Weick, 1976).
- [2] Das Wort Institution wird äquivalent zum Begriff formale Organisation gebraucht (vgl. Meyer & Rowan, 1977)
- [3] Mit Elemente sind zum Beispiel die Aufnahme und Anpassung bestimmter gesetzlicher Änderungen gemeint. So kann eine Schule durch die Umorganisation ihrer internen Struktur z. B. sehr schnell auf eine neue rechtliche Situation reagieren. Im Kanton Solothurn wurden so z. B. zum Schuljahr 2011 fast alle Kleinklassen abgeschafft (s. Schulversuch Kanton Solothurn 2011-2014).
- [4] Bereits Durkheim (1933) wies auf das widersprüchliche Verhältnis institutioneller Regeln und technischen Aktivitäten hin.