Die gesellschaftliche Lage und gegenwärtige Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland

Gegenwärtige Lebenslage von Kindern und Jugendlichen

Während in den USA und einigen europäischen Ländern Industrialisierungsprozesse Ende des 18. bzw. zu Beginn des 19. Jahrhunderts begonnen hatten, begannen diese seit den 1830er Jahren in Deutschland und beschleunigten sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts, die das deutsche Reich im Weltmaßstab sichtlich konkurrieren ließ. [1] Im Zeitraum von 1950 bis 2011 stieg das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland rasant von 46,69 Mrd. auf 2570,80 Mrd., was die starke wirtschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland zeigt. Im gleichen Zeitraum stieg die Anzahl an Beschäftigten nach Wirtschaftssektoren noch rascher, wie Abb. 8 zeigt: In den letzten 60 Jahren, also von 1950 bis 2011, wuchs die Gesamtzahl aller Beschäftigten im tertiären Sektor um 37,6%. Dagegen sank die Zahl der primären Sektoren um 23,0% und die der sekundären Sektoren gingen um 14,6% zurück.

Dieser Wandel bedeutet nicht, dass die neuen Bereiche nicht auch für die Industrie arbeiten, sondern, dass die Nachfrage nach Wissens-Arbeitern deutlich gestiegen ist. Auf diese Veränderung wurde in Deutschland mit dem starken Ausbau der weiterführenden qualifizierten Ausbildung im akademischen Bereich reagiert. [2] Weiterhin wurde das Familienmodell in der Industriegesellschaft, das als Kleinfamilie aus einem Ehepaar mit seinen Kindern in einem gemeinsamen Haushalt besteht, als natürliche Ordnung menschlichen Lebens gefordert. [3] M. Hong, Kinderschutz in institutionellen Arrangements, Kasseler Edition Soziale Arbeit 2, DOI 10.1007/978-3-658-10742-0_3, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016

Quelle: Statistisches Jahrbuch 2011 der Bundesrepublik Deutschland [4]

* 1950-1990 Westdeutschland, 2000 Gesamtdeutschland

Abbildung 7: Bruttoinlandsprodukt in Deutschland 1950-2011 (in Mrd., euro)

Quelle: Statistisches Bundesamt der Bundesrepublik Deutschland

Abbildung 8: Beschäftigte nach Wirtschaftssektoren in Deutschland 1950-2011 (in Prozent)

Die Tabelle 3 zeigt, wie sich die Entwicklung der Altersstruktur der Bevölkerung in Deutschland 1950-2011 verändert hat. Die Zahl der Kinder und Jugendlichen wird allmählich kleiner, wie die Entwicklung bei den Heranwachsenden unter 20 im Zeitraum von 1950 bis 2011 von 30,4% auf 18,2% verdeutlicht. Dagegen wächst die Zahl der anderen Altersgruppen (20-64, 65-79 und über 80) kontinuierlich. Der Jugendquotient (Zahl der unter 20-Jährigen bezogen auf die Altersgruppe der 20bis 64-Jährigen) sank seit 1970 (53,4%) bis im Jahr 2011 auf 29,8%. Weiterhin überstieg der Anteil des Altenquotienten (33,8% ) ab 2010 den Anteil des Jugendquotienten (30,3%). Diese Entwicklung der Altersstruktur wird unmittelbar von der Zahl der Geburten beeinflusst. [5]

Quelle: Datenreport 2013 der Bundesrepublik Deutschland [6]

* Altersgruppe der unter 20-Jährigen bezogen auf die Altersgruppe der 20bis 64-Jährigen.

** Altersgruppe der 65-Jährigen und Älteren bezogen auf die Altersgruppe der 20bis 64-Jährigen.

Tabelle 3: Entwicklung der Altersstruktur in Deutschland 1950-2011

Die Geburtenzahlen in Deutschland sinken rapide. Seit Anfang der 1960er Jahre bis 2011 sind sie von 17,3% auf 8,1% zurückgegangen, wie Abb. 9 zeigt. Im Jahr 2011 wurde die niedrigste Geburtenrate, mit 663000 Kindern seit 1950 festgestellt. Die Kinderzahlrate (Fruchtbarkeitsrate) je Frau lag durchschnittlich bei 1,36%. Der Grund dafür ist, dass einerseits die Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter abgenommen hat und andererseits die gewünschte Kinderzahl je Frau durchschnittlich zurückgegangen ist. [7] Die Erwerbstätigkeit von Frauen in Deutschland nahm von 47,2% auf 71% im Zeitraum von 1960 bis 2011 zu. Nach dem statistischen Bundesamt waren 2010 knapp 70% der 20 bis 64 jährigen Frauen erwerbstätig und davon arbeiteten 46% in Teilzeit und 54% in Vollzeit [8] . Der Grund für Teilzeiterwerbstätigkeit ist, dass 51% der Frauen die Betreuung von Kindern bzw. Pflegebedürftigen oder andere familiäre und persönliche Verpflichtungen nannten und 19% der Frauen keinen ganztätigen Arbeitsplatz finden konnten.

Quelle: Datenreport 2013[9], Statistisches Amt der Bundesrepublik Deutschland

Abbildung 9: Geburtenzahlen (in 1000) und die Erwerbstätigkeit von Frauen in Deutschland 1960-2011

Im Jahr 2011 wohnten insgesamt ca. 20,0 Mio. Paare, davon 18,0 Mio. Ehepaare, 2,8 Mio. Lebensgemeinschaften, 2,7 Mio. nicht-ehelichen, und 67000 gleichgeschlechtlichen. Daneben gab es 17,6 Mio. alleinstehende Personen, darunter wohnten ca. 90% Personen allein oder ca. 10% Personen teilten den Haushalt mit anderen Mitbewohnern, wie Tab. 4 zeigt. Zudem waren es ca. 17,6 Mio. alleinerziehende Mütter und Väter. Während innerhalb der betrachteten zehn Jahre ein Rückgang der Ehepaare mit gesetzlicher Eheschließung um rund 0,75 Mio. (-7%) festzustellen war, gab es von 2001 bis 2011 eine Zunahme der Lebensgemeinschaften um rund 0,59 Mio. (+27%) (Nicht-ehelich um rund 0,57 Mio., gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft um rund 17000), alleinerziehende Väter und Mütter um rund 0,33. Mio. (+14%) und Alleinstehende um 4,1 Mio. (+17%) (Einpersonenhaushalte 2,3 Mio.). Weiterhin lebten 2001 noch 7,1 Mio. Ehepaare mit mindestens einem Kind unter 18 Jahre, 10 Jahre später, also 2011, nur noch 5,8 Mio. (-19%). Demgegenüber erhöhte sich die Zahl alleinerziehender Mütter und Väter mit minderjährigen Kindern in diesem Zeitraum von knapp 1,5 Mio. auf fast 1,6 Mio. (+8%) und ebenfalls stieg die Anzahl der Lebensgemeinschaften mit minderjährigen Kindern von 586000 auf 743000 (+27%).[10] Nur noch drei von vier Kindern wachsen in der traditionellen Familiensituation (vollständige Kleinfamilie mit verheirateten Eltern) auf. [11] Es wird deutlich, dass die Zahl der traditionellen Familienkonstellation kontinuierlich zurückgegangen ist, während die Zahl der alternativen Familienformen (Alleinerziehende und Lebensgemeinschaften mit Kindern) stieg.

Quelle: Datenreport 2013 der Bundesrepublik Deutschland [12]

Tabelle 4: Lebensformen der Bevölkerung in Deutschland 2001, 2011 (in 1000)

In Bezug auf die Veränderung der Familienlebensformen, haben die Lebensituationen der Kinder und Jugendlichen an Bedeutung gewonnen, weil ihr Sozialisationsprozess, die Wohlfahrts- und Schutzsysteme der Sozialversicherung und des Gesundheitswesens mit der Leistung der Familie eng verzahnt sind. [13] Nach den statistischen Daten seit 1950 vom Bundesamt veränderte sich die traditionelle Familienstruktur, als eine der wichtigsten gesellschaftlichen Erscheinungen in Deutschland. Die vormailige Monopolstellung der „NormalFamilie“ wandelte sich zu einem Prozess der Pluralisierung von privaten Lebensformen und Lebensgemeinschaften. [14]

Im Jahr 2011 hatten ca. 11% der Familien mit Kind ein monatliches Nettoeinkommen von weniger als 1300€ und ca. 35% der Familien mit Kindern lebten von über 1 300€ aber unter 2600€, 38% über 2600€ jedoch unter 4500€ und 15% über 4500 (Tab. 5). Die Anteile der Familien mit Migrationshintergrund waren in den beiden unteren Einkommensstufen (unter 1300€: 12,8%, 1300€ 2600€: 46,6%) mehr als die Familien ohne Migrationshintergrund. Dagegen sind Familien ohne Migrationshintergrund vermehrt in den beiden oberen Einkommensklassen (2600€ 4500€: 40,6%, über 4500€: 17,6%) als Familien mit Migrationshintergrund. Weiterhin lebten nach statistischem Bundesamt 42% alleinerziehende Mütter und Väter von unter 1300€ monatlichem Nottoeinkommen. Und 77% der Ehepaare und 81% aller Lebensgemeinschaften mit minderjährigen Kindern lebten von einem monatlichen Familiennettoeinkommen zwischen 1300€ und 4500€. [15]

Quelle: Datenreport 2013 der Bundesrepublik Deutschland [16]

Tabelle 5: Familien mit Kind unter 18 Jahren nach monatlichem Nettoeinkommen 2011 (in 1000)

Quelle: Datenreport 2013 der Bundesrepublik Deutschland [17]

Abbildung 10: Eheschließung, Ehescheidung in Deutschland 1950-2011(in 1000)

1950 lag die Zahl der Eheschließungen in Deutschland bei 750000, so ist ein Rückgang der Zahl bis 2011 auf 378000 auszumachen. Dagegen wurden 1960 ca. 7000 Paare geschieden, 51 Jahre später, im Jahr 2011, stieg die Zahl auf 188000 Paare (Abb. 10). Dabei lebten auch bei der Hälfte davon minderjährige Kinder: Dabei sind rund 148200 Kinder unter 18 Jahren im Jahr 2011 von der Scheidung ihrer Eltern betroffen. [18] Die DJI-Jugendsurvey zeigt, dass ca. 20% der befragten Jugendlichen zwischen 12-15 Jahren eine elterliche Scheidung erlebten. [19]

Ein zentraler Paramenter über die Lage von Kinder- und Jugendlichen ist die schulische Bildungsbeteiligung, wie Tab. 6 zeigt. In Deutschland besuchten im Jahr 2010 insgesamt rund 16,8 Mio. Kinder und Jugendliche, Kindertageseinrichtungen, Schulen oder Hochschule. Die Anzahl der Schüler und Stundenten an beruflichen Schulen und Hochschulen sind im Jahr 2011 höher als 1998. Besonders erhöhte sich die Anzahl der Studierenden von von 1,8 Mio. auf 2,2 Mio. (also um 0,4 Mio.). Ebenfalls war die Zunahme der Anzahl von Schülern an Gymnasien auszumachen, während die Anzahl an Haupt- und Realschülern sank.

Kindertageseinrichtungen

Allgemeinbildende Schule

Berufliche schulen

Hochschulen

Zusammen

darunter

Grundschulen

Hauptschulen

Realschulen

Gymnasien

Schule mit mehreren Bildungsgängen

2010/11

3 122

8 796

2 837

703

1 166

2 475

955

2 687

2 217

1998/99

3 104

10 107

3 062

1 097

1 247

2 223

934

2 600

1 800

Veränderung 1998/99-2010/11

18

-1 310

-764

-394

-81

251

21

87

416

Quelle: Bundesministerium für Bildung und Forschung der Bundesrepublik Deutschland [20]

Tabelle 6: Anzahl der Bildungsteilnehmerinnen und -teilnehmer in Bildungseinrichtungen 1998/99-2010/11 in Deutschland (in 1000)

Weiterhin ist ein zentraler Indikator, bezogen auf die Lebenslage von Kindern und Jugendlichen, die Armut. Die empirische Armutsforschung zeigt deutlich seit den 1990er Jahren, dass die Anteile von in Armut aufwachsenden Kindern und Jugendlichen angestiegen ist. Dies kam besonders häufig im Falle von Alleinerziehenden oder Eltern vor, die keine oder nur prekären Beschäftigungen nachgingen, und somit einem hohen Armutsrisiko ausgesetzt waren. [21]

Anhand dieser Daten lässt sich zusammenfassend sagen, dass Beck ein umfassendes Erklärungsmodell, über den Wandlungsprozess der westlichen Gesellschaft in seiner Literatur darstellt, in der er die gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse als Individualisierung von Lebensabläufen und Pluralisierung der Lebensformen beschreibt. In der modernen Gesellschaft ist eine Schwächung der Funktionen von Familie sowie Traditionen und die Zunahme von Arbeitsmarkt und Ausbildungsmarkt auszumachen. [22] In Bezug auf diesen Veränderungsprozess spielen soziale und sozialpädagogische Hilfe und Dienstleistungen eine große Rolle, da die Bewältigungsanforderungen in den Modernisierungsrisiken alle jungen Menschen und Familien betreffen können. [23]

  • [1] Vgl. Johansen, E., 1978. Betrogene Kinder. Frankfurt am Main, S. 88
  • [2] Vgl. Diskowski, D., Pesch, L. (Hrsg.), 2008. Familien schützen Kinder schützen. Weimar und Berlin, S. 18
  • [3] Vgl. Ebd., S. 18
  • [4] Statistisches Bundesamt, 2011b. Statistisches Jahrbuch 2011. Für die Bundesrepublik Deutschland mit internationalen Übersichten. Wiesbaden, S. 630
  • [5] Statistisches Bundesamt, 2013. Datenreport 2013. Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland. Bonn, S. 14-15
  • [6] Ebd., S. 14
  • [7] Vgl. Münder, J., Wiesner, R., 2007. Kinder- und Jugendhilferecht. Baden-Baden, S. 13
  • [8] Vgl. Wanger, S., 2011. Vielen Frauen würden gerne länger arbeiten: IAB-Kurzbericht. 9/2011
  • [9] Ebd., S. 15
  • [10] Statistisches Bundesamt, 2013. Datenreport 2013. ein sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland. Bonn, S. 44-51
  • [11] Vgl. Münder, J., Wiesner, R., 2007. Kinder- und Jugendhilferecht. Baden-Baden, S. 18
  • [12] Statistisches Bundesamt, 2013. Datenreport 2013, Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland. Bonn, S. 4451
  • [13] Vgl. Manfred, H., 2004. Familiäre Lebensformen, In: Seidenstücker, B., Mutke, B. (Hrsg.), Praxisratgeber Kinder- und Jugendhilfe. Bobingen, S. 127
  • [14] Vgl. Ebd., S. 128
  • [15] Ebd., S. 52
  • [16] Ebd.
  • [17] Statistisches Bundesamt, 2013. Datenreport 2013. Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland. Bonn, S. 50
  • [18] Ebd., S. 50
  • [19] Münder, J., Wiesner, R., 2007. Kinder- und Jugendhilferecht. Baden-Baden, S. 18
  • [20] Bundesministerium für Bildung und Forschung, 2012. Bildung in Deutschland 2012. Bie-lefeld, S. 227
  • [21] Vgl. BMFSFJ, 2012. 14. Kinder- und Jugendbericht. Berlin, S. 46
  • [22] Vgl. Beck, U., 1986. Risikogesellschaft. Frankfurt am Main, S. 121-160
  • [23] Vgl. Jordan, E., Maykus, S., Stuckstätte, E., 2012. Kinder- und Jugendhilfe. 3. überarbeitete Auflage. Weinheim und München, S. 10
 
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