Statistische Daten von Gewalt gegen Kinder in Deutschland
Hellfeld
Genauso schwierig wie die komplexe Definition des Begriffs sind konkrete Angaben über das Ausmaß von Kindesmisshandlungen kaum zu rekonstruieren. Der Grund dafür ist, dass die Gewalt gegen Kinder in hoher sozialer Nähe zwischen Tätern und Opfern auftritt und daraus die Wahrscheinlichkeit auf eine Anzeige verringert wird. Zum anderen existiert in Deutschland keine Gesamtstatistik, die Daten aus polizeilichen Kriminalstatistik, der Jugendhilfestatistik und aus wissenschaftlichen Studien vereint, weil einheitliche Definitionen und Formen im Kontext der Gewalt gegen Kinder unterschiedlich sind [1] . In Deutschland gibt es keine gesetzliche Meldepflicht[2] für Gewalt gegen Kinder. Das statistische Erfassen von Kindesmisshandlungsfällen wird jedoch seit 1953 in der jährlich aktualisierten Datenquelle des Bundeskriminalamts (BKA) in der polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) veröffentlicht. In der PKS ist nur das Hellfeld verzeichnet das sich auf die am strafrechtlichen Gewaltbegriff orientierten und erfassten Fälle beschränkt [3]. Weiterhin beinhaltet es keine explizite Daten zu emotionalen Misshandlungen und Vernachlässigungen.
Da die in der PKS ermittelten Häufigkeiten abhängig vom Anzeigeverhalten der Bevölkerung sind, bleiben nicht berichtete Straftaten im Verborgenen. [4] Dennoch bietet die polizeiliche Kriminalstatistik einen Anknüpfungspunkt, wenn auch das Problem bestehen bleibt, dass alle bisher vorliegenden Studien zu wenige Teilnehmerinnen und Teilnehmer vorweisen (500-2.600) und deshalb kein repräsentatives Bild abgeben können. Daher bleibt die PKS in Deutschland bis heute die einzige Datenquelle zu dieser Thematik. [5]
Aus der Statistik des BKA geht hervor, dass im Jahr 2011 in Deutschland insgesamt 3583 Fällen der Misshandlung [6] an Kindern gemeldet waren, während für das Jahr 1994 insgesamt 1915 gemeldet wurden, im Jahr 2000 insgesamt 2130 und Jahr 2005 insgesamt 2905 Fälle verzeichnet wurden. Es wird deutlich, dass es bis zum Jahr 2010 einen kontinuierlichen Anstieg von Kindesmisshandlung in jedem Jahr gab (Abb. 23). Nachdem der sexuelle Missbrauch[7] von Kindern 2009 nach §§ 176, 176a, 176b StGB den niedrigsten Wert seit 1994 darstellte, haben sich die registrierten Fälle vom Jahr 2009 auf 11319, zum Jahr 2012 auf 12623 wieder erhöht. Langfristig sind hier Schwankungen aus dem Jahre 1994 zu beobachten. Trotzdem ist insgesamt eine rückgängige Entwicklung zu verzeichnen, die knapp über 2500 Fälle betrug. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die angezeigten Misshandlungen von Kindern von 1994 bis 2011 um 67,5% gestiegen, und Anzeigen sexuellen Missbrauchs von Kindern in diesem Zeitraum um 19% gesunken ist. Die Gründe für den starken Anstieg an Meldungen von Kindesmisshandlungen sind, dass vermutlich durch die Gesetzesänderung der Jugendhilfe § 8a SGB VIII im Jahr 2005 neue Reaktionsmöglichkeiten durch den Einbezug des Familiengerichts geschaffen wurden und den Jugendämtern wegen der verstärkten Aufmerksamkeit in der Gesellschaft, in Bezug auf die Kindeswohlgefährdung, mehr Fälle von Gewalt gegen Kinder gemeldet wurden. Dadurch werden immer mehr Fälle der Polizei bekannt und in der Statistik erfasst[8].
Quelle: Bundeskriminalamt 1994-2012 der Bundesrepublik Deutschland
Abbildung 23: Fallentwicklung von Gewalt gegen Kinder in Deutschland 1994 2012
Die Abbildung 24 zeigt, wie sich die Fälle von Kindstötungen durch Misshandlungen und Vernachlässigungen nach dem Alter veränderten haben. Für das Jahr 2012 weist die Todesursachenstatistik auf, dass in insgesamt 59 Fällen Kinder unter 15 Jahren, 21 Säuglinge und Kleinkinder unter einem Jahr aufgrund eines tatsächlichen Angriffs umkamen. Im Zeitraum von 2000 bis 2012 schwankte die Zahl der Kindstötungen durch Gewalt. Durchschnittlich kamen in diesem Zeitraum ca. 40 Kinder und Jugendliche in Deutschland jährlich ums Leben.
Quelle: Statistisches Bundesamt, gbe-bund.de (Sterbefälle ab 1980, Todesursache „tätlicher Angriff“: 12.02.2014) Bundesrepublik Deutschland
Abbildung 24: Todesfälle von Kindern (bis unter 15 Jahren) aufgrund eines tödlichen Angriffs nach Todesursachenstatistik
(absolute Zahlen) 2000-2012
- [1] Vgl. Albert, I., 2008. Innerfamiliäre Gewalt gegen Kinder. Eine kriminologischen rechtliche Betrachtung der Erscheinungsformen, Ursachen und Möglichkeiten der Bekämpfung, Frankfurt am Main, S. 49
- [2] In Deutschland existiert kein Meldesystem für Kindesmisshandlungen und Vernachlässigungen. Deutschlands zurückliegende Erfahrungen mit zwei totalitären Regimen machen die Ablehnung von Meldesystemen und das Anliegen verständlich, zentrale Registrierungen und Denunzierungen zu vermeiden. Weiterhin sollte der Kinderschutz vorzugsweise präventiv gestaltet werden, d.h. es war ein Anliegen, Familien dahingehend zu motivieren, frühzeitig selbst Hilfe zu suchen. Dieses Ziel schien besser mit einem nichtstrafenden, auf der sozialen Gemeinschaft basierenden familienzentrierten Ansatz erreichbar zu sein. Weiterhin befürchteten Kritiker eine große Zahl unbegründeter Verdachtsfälle, verbunden mit uneffektiven Interventionen und stigmatisierenden Eingriffen in die elterlichen Rechte. Zudem zeigen Erfahrungen aus Ländern mit Meldesystemen, dass es für das Kind auch nachteilig sein kann, wenn ein Verdacht begründet ist, (...). Herrmann, B., Dettmeyer, R., Banaschak, S., Thyen, U., 2010. Kindesmisshandlung. 2. Auflage. Heidelberg, S. 6-9
- [3] Bundeskriminalamt, 2011. Polizeiliche Kriminalstatistik. Berlin, S. 3
- [4] Becker, M., Schulz, A., 2013. Epidemiologie von Kindesmisshandlung. In: Spitzer, C., Grabe, H. (Hrsg.), Kindesmisshandlung. Stuttgart, S. 14
- [5] Mertens, B., Pankofer, S., 2011. Kindesmisshandlung. Körperliche Gewalt in der Familie. Paderborn, S. 57
- [6] Unter dem Begriff der Misshandlung von Kindern werden strafrechtlich sowohl die physische und psychische Misshandlung als auch die physische Vernachlässigung erfasst. Nach § 225 Abs. 1 StGB macht sich strafbar, wer vorsätzlich ein Kind, das seiner Fürsorge oder Obhut untersteht oder seinem Hausstand angehört, quält oder roh misshandelt oder durch böswillige Vernachlässigung seiner Pflicht, für es zu sorgen, an der Gesundheit schädigt. Goldberg, B., Schorn, A. (Hrsg.), 2011. Kindeswohlgefährdung: Wahrnehmen, Bewerten, Intervenieren. Opladen, S. 3233
- [7] Dieser reicht vom vorsätzlichen Vorzeigen pornographischer Abbildungen oder exhibitionistischen Handlungen vor Kindern über die Vornahme sexueller Handlungen an Kindern, bis hin zum Beischlaf mit Kindern sowie dem sexuellen Missbrauch mit Todesfolge. Ebd., S. 37
- [8] Vgl. Ebd., S. 34