Theoretischer Begründungszusammenhang
Dieses Forschungsprojekt fragte danach, welche Zusammenhänge es zwischen der sozioökonomischen Position von Schülern und der Wahrnehmung und Bewertung des Prozesses der Globalisierung gibt. Es wurde davon ausgegangen, dass es empirisch unterscheidbare gegenstandsbezogene Vorstellungen gibt, die sozialstrukturspezifischen Mustern folgen. Was berechtigt zu dieser Annahme?
Der theoretische Hintergrund des Forschungsvorhabens besteht in der Annahme verschiedener sozialer Welten mit jeweils unterschiedlichen Vorstellungen über den Prozess der Globalisierung. Die in den verschiedenen Schichten anzutreffenden Vorstellungen können als „soziale Repräsentation“ gefasst werden (vgl. Moscovici 1973, 1988). Soziale Repräsentationen sind zu verstehen als „ein System von Werten, Ideen (…) mit zweifacher Funktion; erstens eine Ordnung zu schaffen, die Individuen in die Lage versetzt, sich in ihrer materiellen und sozialen Welt zu orientieren und sie zu meistern; und zweitens Kommunikation unter den Mitgliedern einer Gemeinschaft zu ermöglichen, indem es diesen einen Kode zur Benennung und zur eindeutigen Klassifikation der verschiedenen Aspekte ihrer Welt und ihrer individuellen Geschichte und ihrer Gruppe liefert“ (Moscovici 1973, S. XVII).
Die Untersuchung fragt nach der sozialen Repräsentation der Globalisierung bei Schülern unterschiedlicher sozialer Herkunft. Dabei wird angenommen, dass die jeweilige Lebenswirklichkeit eines Menschen einen grundlegenden Einfluss auf seine Sicht der sozialen Welt hat. Mit Mannheim (1952) wird eine Standortgebundenheit des Denkens angenommen. Mannheim machte darauf aufmerksam, dass „Menschen in bestimmten Gruppen, (…) einen spezifischen Denkstil in einer endlosen Reihe von Reaktionen auf gewisse typische, für ihre gemeinsame Position charakteristische Situationen entwickelt haben.“ (Mannheim 1952, S. 5) [1]
Auch Bourdieu (2001) fragte nach dem Zusammenhang von sozialer Struktur und deren Inkorporierung durch den einzelnen Menschen. Er geht davon aus, dass es rekonstruierbare Zusammenhänge zwischen der sozialen Positionierung eines Menschen und näher bestimmbaren Denkund Handlungsweisen gibt. Demnach werden Individuen maßgeblich durch ihre praktische Beziehung zur Welt geprägt. Die sozialen Felder, in denen das Individuum sich bewegt, fördern die Ausbildung der dafür erforderlichen Dispositionen. In der Auseinandersetzung mit den konkreten Anforderungen und Möglichkeiten des sozialen Feldes entwickeln sich unterscheidbare Habitusformen als Strukturierungsmuster, die spezifische Denk-, Fühl-, Wahrnehmungsund Handlungsmuster generieren (Bourdieu 2001, S. 20). [2] Hinweise auf einen empirisch feststellbaren Zusammenhang von sozialer Position und individueller Denkweise liefern die Untersuchungen von Vester (2001). Er setzt sich mit der Beziehung von sozialem Milieu und gesellschaftspolitischem Lager im Prozess soziostruktureller Modernisierung auseinander. Dabei kritisiert er soziologische Ansätze der Lebensstilforschung, da sie oftmals den Zusammenhang von kulturellen Schemata und sozialer Positionierung konzeptionell ausblendeten (Vester 2001, S. 303). [3] Zwar könne kein direkter Zusammenhang von Verhaltenstypen und den rationalen Interessen einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe hergestellt werden. Gleichwohl ließen sich Zusammenhänge von sozialer Positionierung und bestimmten Mentalitäten nachweisen. Die Ergebnisse mehrerer von ihm durchgeführter repräsentativer Untersuchungen fasst er folgendermaßen zusammen: „Wenn wir jetzt, gleichsam wie zwei Folien aus Pergamentpapier, den Raum des Habitus über den Raum der ‚objektiven' sozialen Lage legen, dann erkennen wir, dass die beiden Ebenen zwar nicht geometrisch exakt, aber doch locker zusammenhängen.“ (Vester 2001, S. 306)
Das Individuum darf nicht als durch die jeweilige soziale Position festgelegt verstanden werden. So gibt es immer mehrere Möglichkeiten, um auf eine gegebene soziale Situation zu reagieren. Der notwendige Hinweis auf die Mehrdeutigkeit sozialer Situationen und der prinzipiellen Handlungsfreiheit des Menschen bedeutet jedoch nicht, dass die Untersuchung schichtspezifischer Vorstellungen ein hoffnungsloses und theoretisch inkonsistentes Unterfangen darstellt. Individuum und soziale Struktur dürfen nicht als zwei sich unverbunden gegenüberstehende Entitäten verstanden werden. Kelle (2008) verweist in diesem Zusammenhang auf entscheidungstheoretische Ansätze, die die „Logik der Aggregation“ von der „Logik der Situation“ unterscheiden, aber auch auf Giddens Konzept der „Dualität von Struktur“, bei der Strukturen sowohl als Produkt und Reservoir sozialen Handelns gedacht werden: „Diese Ansätze machen deutlich, dass sich die Beziehung zwischen der Makroebene sozialer Strukturen und der Mikroebene sozialen Handelns am besten als ein wechselseitiges Konstitutionsverhältnis verstehen lässt: Strukturen auf der makrosozietären Ebene entstehen und verändern sich durch die Aggregation situationsbezogener individueller Handlungen, die selber wiederum durch diese Strukturen zwar beeinflusst, aber nicht völlig determiniert werden.“ (Kelle 2008, S. 229)
- [1] Bereits Max Weber (1925) zeigte in seinen religionssoziologischen Arbeiten, wie die gleiche Religion von Bauern, Händlern, Handwerkern, Intellektuellen und Adligen jeweils sehr verschieden erlebt wurde (Max Weber 1925, S. 267 ff.).
- [2] Bourdieu schreibt an anderer Stelle: „Die soziale Realität existiert sozusagen zweimal, in den Sachen und in den Köpfen, in den Feldern und in dem Habitus, innerhalb und außerhalb der Akteure.“ (Bourdieu und Wacquant 1996, S. 161).
- [3] So könne auch Becks Individualisierungstheorem kaum als analytisch weiterführendes Konzept bezeichnet werden. Individualisierung bedeute entgegen der Beckschen Annahme für privilegierte Bevölkerungsteile, die an der Modernisierung partizipieren können, ein mehr an Selbstbestimmung und weniger die Zerstörung des sozialen Zusammenhalts: „Der Zerfall sozialer Bindungen ist nach unseren Befunden nicht ein Symptom der sich modernisierenden, sondern – wie seit je – derjenigen Gruppen, die mit der Modernisierung nicht mithalten können.“ (Bourdieu und Wacquant 1996, S. 335).