Ist die Aktualitätsbedingung notwendig?

Aristoteles verwirft die megarische These, weil sich unsinnige Konsequenzen (atopa, 1046b33) aus der Annahme ergeben, die Aktualitätsbedingung sei notwendig für das Vorliegen eines Vermögens. Vier Argumente führt Aristoteles für seinen Standpunkt an, die jeweils die Form einer reductio ad absurdum haben:

(1) Das Beispiel, anhand dessen Aristoteles die megarische These erläutert, ist der Bauende: (M) zufolge ist der Bauende nur solange vermögend zu bauen, solange er baut. Daraus würde, so Aristoteles, folgen, daß niemand Baumeister sein könnte, wenn er nicht gerade baut, denn Baumeister sein heißt nichts anderes, als zum Bauen vermögend sein. Doch das ist absurd. Denn die Erfahrung lehrt, daß Künste wie die Baukunst mühsam erlernt werden müssen. Sollte der Baumeister, sobald er aufhört zu bauen, seine Fähigkeit und seine Kunst verlieren und sie jedesmal wieder neu erwerben, sobald er das Bauen wieder aufnimmt? Aristoteles kann sagen, daß Wörter wie „Baumeister“ mehrdeutig verwendet werden: „Baumeister“ kann auf diejenigen angewendet werden, die tatsächlich bauen, aber auch auf diejenigen, die bauen können (vgl. Met. V 7, 1017a35-b9). Die Megariker hingegen müssen diese zweite Verwendungsweise für unzulässig halten. Sie können den Wechsel vom Nichttun zum Tun, den der Baumeister erlebt, nicht von dem Wechsel von Nichtkönnen zum Können unterscheiden, den der Lehrling durchläuft.

(2) Auch die Vermögen unbeseelter Dinge machen den Megarikern Probleme. Denn sinnenfällige Eigenschaften sind Vermögen, im Wahrnehmenden gewisse Wahrnehmungen hervorzurufen (An. II 5-III 2). Die Megariker müßten behaupten, daß diese sinnenfälligen Eigenschaften den Dingen nur dann zukämen, wenn sie wahrgenommen würden. Ohne die entsprechenden Ver-wirklichungen in der Sinneswahrnehmung wäre also nichts kalt, warm oder süß (1047a5). Mithin wäre Protagoras' Homo mensura-Satz eine (zumindest in Aristoteles' Augen) unerwünschte Konsequenz der megarischen Lehre, denn die megarische These beraubt uns der konzeptionellen Mittel, die sinnenfälligen Eigenschaften der Dinge, die sie unabhängig von unserer tatsächlichen Wahrnehmung haben, von unseren Wahrnehmungen zu unterscheiden. (Dies hat besonders für die Eigenschaften „kalt“ und „warm“ einschneidende Konsequenzen, denn diese gehören zu den Grundeigenschaften der Elemente; wären diese Grundeigenschaften von einem wahrnehmenden Subjekt abhängig, wäre ohne Wahrnehmung kein Unterschied zwischen Erde und Wasser oder zwischen Luft und Feuer.[1])

(3) Zudem würden die Wahrnehmenden häufig blind und taub werden und ebenso oft von diesen körperlichen Mängeln genesen. Denn Blindsein ist ein Unvermögen (vgl. Kap. 2.2.8) und heißt nichts anderes, als „nicht über das Sehvermögen verfügen, obgleich es von Natur aus dazu geeignet ist und gerade auch zu diesem Zeitpunkt und in dieser Weise“ (1047a8f). Wenn nun aber bei Nichtbetätigung des Sehvermögens sogleich auch das Vermögen zu sehen fehlen soll, dann sind die Megariker auch verpflichtet zu sagen, daß man mit dem Schließen der Augen erblindet und mit dem Öffnen der Augen die Blindheit behoben wird. Offensichtlich ist es aber sinnvoll, zwischen Blindheit und vorübergehender Nichtbetätigung des Sehvermögens zu unterscheiden; dann aber muß die These der Megariker verworfen werden.

(4) Als stärksten Trumpf spielt Aristoteles schließlich sein letztes Argument aus. Da überhaupt das Fehlen eines Vermögens ein Unvermögen ist, „heben diese Thesen [der Megariker] Bewegung und Entstehung auf“ (1047a14):

[i] eÃti ei¹ a)du/naton to e)sterhme/non duna/mewj,

[ii] to mh gigno/menon a)du/naton eÃstai gene/sqai:

[iii] to d' a)du/naton gene/sqai o( le/gwn hÄ eiånai hÄ eÃsesqai yeu/setai āto ga a)du/naton tou=to e)sh/mainenŸ,

[iv] wÐste ouÂtoi oi¸ lo/goi e)cairou=si kaiì ki¿nhsin kaiì ge/nesin.

[v] a)eiì ga to/ te e(sthkoj e(sth/cetai kaiì to kaqh/menon kaqedeiÍtai:

[vi] ou) ga a)nasth/setai aÄn kaqe/zhtai:

[vii] a)du/naton ga eÃstai a)nasth=nai oÀ ge mh du/natai a)nasth=nai.

[i] Ferner, wenn unvermögend [sein] das Fehlen eines Vermögens [ist], [ii] dann ist das nicht Entstehende unvermögend zu entstehen.

[iii] Wer aber von dem, was unvermögend ist zu entstehen, sagt, daß es sei oder sein werde, wird etwas Falsches sagen [pseusetai], denn das bezeichnete „unvermögend“.

[iv] Daher heben diese Thesen [der Megariker] Bewegung und Entstehung auf. [v] Immer nämlich wird das Stehende stehen und das Sitzende sitzen,

[vi] denn es würde nicht aufstehen, wenn es sitzt,

[vii] denn unvermögend zum Aufstehen ist gewiß, wer nicht das Vermögen zum Aufstehen hat. (Met. IX 6, 1047a10-17)

Leider sind, wie so oft bei Aristoteles, die Beziehungen zwischen den einzelnen Begründungsschritten etwas dunkel. Das Argument läßt sich dennoch mit einiger Plausibilität rekonstruieren. Klar ist zunächst, daß das Argument zeigen soll, daß die von den Megarikern behauptete Äquivalenz (M) absurd ist:

(M) (dyn F)(x, t) º F(x, t)

Aristoteles beginnt in [i] damit, die Definition von adynaton ins Gedächtnis zu rufen (vgl. Kap. 2.2.8), und zwar die Definition, die den weitesten Sinn von adynaton abdeckt:

[i] (adyn F)(x, t) º ¬(dyn F)(x, t)

Dann exerziert Aristoteles das Argument am Beispiel von Stehen (= F) und Sitzen (= G) durch. Dabei impliziert Sitzen natürlich Nicht-Stehen und Stehen impliziert Nicht-Sitzen: Wenn G(x, t), dann ¬F(x, t), und wenn F(x, t), dann

¬G(x, t). Mit Blick auf [i] ist klar, daß jemand, dem das Vermögen zum Stehen fehlt, auch nicht stehen kann, was Aristoteles in [vii] noch einmal festhält. Aus [i] (oder [vii]) und (M) folgt, was Aristoteles in [ii] formuliert: Wenn jemand zu t nicht F-t, dann ist er zu t unvermögend zu F-en.

[ii] ¬F(x, t) É (adyn F)(x, t)

Auf [i] und [vii] würden sich wahrscheinlich auch die Megariker einlassen können; auch die Konsequenz ist für die Megariker noch nicht bedrohlich. Aber nun bringt Aristoteles eine weitere Aussage über Unvermögen ins Spiel. Ein Unvermögen war ja – siehe [i] – das Fehlen des entsprechenden Vermögens für das F-Sein, d.h. des Prinzips für F. Wenn aber das Prinzip fehlt, kann auch F nie eintreten:

[iii] (adyn F)(x, t) É ¬F(x, t) & ("t*)(t* > t É ¬F(x, t*))

Mit [iii] – und der materialen Gültigkeit von G(x, t) É ¬F(x, t) – ergeben sich nun [v] und [vi]: Der Stehende bleibt immer stehen und der Sitzende wird nie stehen.

[v] ¬F(x, t) É ("t*)(t* > t É ¬F(x, t*)

[vi] G(x, t) É ¬($t*)(t* > t & F(x, t*))

Eine Bewegung zeichnet sich dadurch aus, daß sich etwas verändert und daß dadurch ein Zustandswechsel eintritt, daß also etwas, das nicht der Fall war, später der Fall ist. Daher ist (B) ein notwendiges Kriterium für das Stattfinden eines Veränderungsprozesses:[2]

(B) ($t) ¬F(x, t) & ($t*) (t* > t & F(x, t*))

[v] und [vi] stehen aber zu (B) in direktem Widerspruch. Wenn also (M), [i] und [iii] angenommen werden, ergibt sich ein Widerspruch zu (B) und damit die absurde Konsequenz, daß es keine Bewegung oder Veränderung gibt. Es sind also schwere Einwände, die Aristoteles gegen (M) erhebt: (M) mißachtet den Sprachgebrauch von Vermögensausdrücken wie „Baukunst“ und „vermag zu sehen“, beraubt uns der begrifflichen Mittel, einen protagoreischen Relativismus abzuwehren und hat schließlich auch noch die „Hirnerweichung“ (Phys. VIII 3, 253a33) der Eleaten zur Folge, nämlich die Behauptung der Unmöglichkeit von Bewegung, die aller Erfahrung widerspricht.

  • [1] Zum Problem der Elementareigenschaften vgl. Charlton 1987, 284-289
  • [2] Für Entstehungsprozesse formuliert Aristoteles dieses Kriterium z.B. in Cael. I 11, 280b16: Etwas ist geworden, wenn es zu einer Zeit nicht ist, dann aber ist. Für die anderen Veränderungsarten vgl. Met. VIII 1, 1042a32-b3
 
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