Anwendungsbeispiele (II): Das Messen der Diagonale

Ein weiteres Beispiel, das Aristoteles anführt, ist die Inkommensurabilität der Diagonale eines Quadrats: Die Diagonale heißt inkommensurabel (asymmetros), weil sie nicht mit dem gleichen Maß gemessen werden kann wie die Seite.[1] Zum Beispiel hat ein Quadrat der Seitenlänge 1 eine Diagonale der inkommensurablen Länge 2 . Der Standardbeweis für die Inkommensurabilität der Diagonalen hat genau die Struktur des Aristotelischen Konsistenz-Kriteriums:[2] Zum Zwecke der reductio wird angenommen, die Diagonale sei tatsächlich mit dem gleichen Maß wie die Seite meßbar. Dann wird gezeigt, daß sich daraus etwas Unmögliches ergibt. Als Konsequenz wird die Annahme verworfen, die Diagonale sei meßbar, so daß sich das Beweisziel der Inkommensurabilität ergibt. Aristoteles kennt diesen Beweis und erwähnt ihn in den Analytiken:

oiâon oÀti a)su/mmetroj h( dia/metroj dia to gi¿nesqai ta peritta iãsa toiÍj a)rti¿oij summe/trou teqei¿shj.

Daß z.B. die Diagonale inkommensurabel ist, [beweist man] durch das Gleichwerden des Ungeraden und des Geraden, wenn man sie als kommensurabel annimmt. (APr I 23, 41a26f)

Der Beweis, auf den Aristoteles hier anspielt (wie auch in APr. I 44, 50a3538), ist in den „Elementen“ des Euklids aufgeführt.[3] In einer an El. X 117 angelehnten, aber etwas modernisierten Fassung[4] verfährt der Beweis wie folgt: Wir nehmen, wie gesagt an, die Länge d der Diagonale eines Quadrates und dessen Seitenlänge a seien kommensurabel. Wenn d und a kommensurabel sind, kann man das Verhältnis ihrer Längen durch einen Bruch p/q ausdrücken (El. X 5), wobei der Bruch bereits gekürzt sein soll, p und q also die kleinsten natürlichen Zahlen sind, mit denen das Verhältnis ausdrückbar ist (vgl. El. VII 33). Es gilt also p > q ³ 1 und d : a = p : q. Die Seitenverhältnisse übertragen sich auf die Verhältnisse der Quadrate (El. VI 20 add., VIII 11):

(Q1) d 2 : a2 = p2 : q2

Nun gilt aber d 2 = 2a2 aufgrund des Spezialfalls des pythagoreischen Lehrsatzes für gleichschenklige rechtwinklige Dreiecke (El. I 47). Damit folgt durch Einsetzen in (Q1):

(Q2) p2 = 2q2

Somit muß p2 eine gerade Zahl sein, und damit auch p, da nur die Quadrate gerader Zahlen wieder gerade Zahlen sind. Wenn nun p aber gerade ist, muß q ungerade sein, da ansonsten der Bruch p/q durch 2 kürzbar wäre. Wenn wir nun die ganzzahlige Hälfte der geraden Zahl p mit „r “ bezeichnen und entsprechend „2r “ für „p“ in (Q2) einsetzen, erhalten wir 4r 2 = 2q2. Dann aber gilt q2 = 2r 2 , weswegen auch q2 und damit auch q eine gerade Zahl sein muß. q müßte, wenn die Diagonale kommensurabel wäre, also zugleich gerade und ungerade sein, was aber unmöglich ist. Auf diese Weise ergibt sich durch den Konsistenz-Test, daß der Diagonale nicht das Vermögen zugeschrieben werden darf, mit demselben Maß wie die Seite gemessen werden zu können, denn aus der Annahme der Verwirklichung einer solchen Messung folgt etwas Unmögliches, nämlich, daß eine Zahl sowohl gerade als auch ungerade ist.

Nun ist zwar nicht die Länge der Diagonale, wohl aber die Fläche des Quadrates über der Diagonalen mit dem gleichen Maß wie die Fläche des Quadrates über der Seite meßbar. Jenes hat nämlich, wie sich aus dem pythagoreischen Lehrsatz ergibt, eine genau zweimal so große Fläche wie das Quadrat über der Seite. Wenn nun Aristoteles' Zeitgenossen über diese Eigenschaft der Diagonale sprachen, benutzten sie die Worte dynamis und dynaton in der in Kap. 2.2.6 bereits erörterten metaphorischen Bedeutung: Wenn die griechischen Mathematiker „Die Diagonale ist dynaton kommensurabel“[5] sagten, meinten sie, daß zwar die Diagonale nicht mit der gleichen Einheit meßbar ist wie die Seite, daß aber sehr wohl das Quadrat über der Diagonale mit dem gleichen Maß gemessen werden kann, wie das ursprüngliche Quadrat selbst. „Die Diagonale ist dynaton meßbar“ sagt also, daß trotz der Inkommensurabilität der Diagonale das Diagonalenquadrat kommensurabel ist.

Da die Terminologie der Mathematiker hier von der sonst üblichen Verwendungsweise abweicht, ist das geometrische Beispiel und die Redeweise der Mathematiker eigentlich kein Anwendungsfall für den Konsistenz-Test. Aristoteles erlaubt sich offensichtlich den Scherz, die Mathematiker bewußt mißzuverstehen. Er läßt den ihm ja bekannten terminologischen Sprachgebrauch der Mathematik unbeachtet und probiert aus, was passiert, wenn man die Aussage „Die Diagonale ist dynaton meßbar“ unter Zugrundelegung seiner eigenen Terminologie versteht. Dann aber heißt „Die Diagonale ist dynaton kommensurabel“ soviel wie:

(D1) Die Diagonale hat das Vermögen, gemessen zu werden.

Zugleich gilt natürlich aufgrund der Inkommensurabilität der Diagonale, die auch Aristoteles nicht bestreiten will (vgl. z.B. APo I 33, 89a29f):

(D2) Die Diagonale wird nie gemessen werden.

Wenn wir nun die Vermögensaussage (1) dem Konsistenz-Test unterziehen, müssen wir zunächst annehmen, das Vermögen sei zu einem bestimmten Zeitpunkt verwirklicht:

(D3) Zu t1 wird die Diagonale gemessen.

Behauptung (D2) sagt aber, die Diagonale werde nie gemessen, also zu keinem Zeitpunkt:

(D4) Es gibt kein t, für das gilt: Zu t wird die Diagonale gemessen.

Daher ist es unmöglich, daß (D3) wahr ist. (D3) aber behauptet, daß das in (D1) zugeschriebene Vermögen zum Zeitpunkt t1 verwirklicht wird. Dieses Vermögen darf man also nicht zuschreiben, vielmehr ist die Diagonale unvermögend, gemessen zu werden (Met. IX 4, 1047b6-14).

  • [1] Vgl. Euklid El. X def. 1: „Zwei Größen heißen kommensurabel (symmetra), wenn sie durch dasselbe Maß gemessen werden, inkommensurabel (asymmetra) aber, wenn sie kein gemeinsames Maß haben können.“
  • [2] Darauf weist van Rijen 1989, 47 hin: „The proof of the incommensurability of the diagonal, as given above, conforms to the per impossibile procedure [...].“
  • [3] Heiberg hat diese Beweise für eine nacheuklidische Interpolation gehalten, vgl. auch Heath 1949, 22: Der Beweis „is given practically the same form (1) by Alexander in his note on this passage, and (2) in a proposition interpolated as Prop. 117 in Euclid's Book X. There can be no doubt that it goes back to the Pythagoreans, who were the first to discover the incommensurable.“ Eine wörtliche Übersetzung des Beweises findet sich bei von Fritz 1971, 562 Anm. 60
  • [4] Vgl. Heath 1926, 2; van Rijen 1989, 46. Der Beweis in El. X 117 macht z.B. eine Fallunterscheidung zwischen „Einheit“ und „Zahl“, unterscheidet also die beiden Fälle p = 1 und p > 1, die im folgenden zu p ³ 1 zusammengefaßt werden
  • [5] Vgl. Euklid El. X, def. 2: „Gerade Linien (eutheiai) sind dynamei symmetroi, wenn die Vierecke über diesen durch die gleiche Fläche gemessen werden, [dynamei] asymmetroi aber, wenn die Vierecke über diesen keine Fläche als gemeinsames Maß haben können.“ Für weitere Belege vgl. Bärthlein 1965; Bärthleins Folgerungen für die Interpretation von Met. IX (vgl. dazu auch Bärthlein 1963) kann ich allerdings nicht teilen
 
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