Gibt es zukünftig unverwirklichte Vermögen? (IX 4)
Aristoteles führt das soeben diskutierte Diagonalen-Beispiel in IX 4 an, um eine bestimmte These zu erläutern, mit der er das Kapitel IX 4 beginnt:
Ei¹ de/ e)sti to ei¹rhme/non to dunato hÄ a)kolouqeiÍ, fanero oÀti ou)k e)nde/xetai a)lhqej eiånai to ei¹peiÍn oÀti dunato me todi¿, ou)k eÃstai de/, wÐste ta a)du/nata eiånai tau/tv diafeu/gein:
Wenn aber das Gesagte das Vermögende (to dynaton) ist – oder [das Gesagte dem Vermögenden] logisch folgt (anakolouthei ) –, dann ist es offensichtlich, daß es nicht wahr sein kann zu sagen, daß jenes zwar dynaton ist, aber nicht sein wird, wenn (hôste) es einem [dadurch] entfällt, daß es unvermögenden Dinge gibt (ta adynata einai ) . (Met. IX 4, 1047b3-6)
Dieser erste Satz von IX 4 ist in der Literatur sehr umstritten. Die Uneinigkeit beginnt bereits bei der Konstitution des griechischen Textes[1] und setzt sich fort über die Übersetzung der Partikel hôste bis hin zur Interpretation der in ihm ausgedrückten These. In meiner Übersetzung habe ich hôste konditional verstanden und die entsprechende Phrase als Angabe einer Bedingung übersetzt, die das Vorangehende modifiziert.[2] Hintikka übersetzt hôste jedoch konsekutiv; die entsprechende Phrase gibt dann eine Folge des Vorangehenden an: „[...] evidently it cannot be true to say ‚this is possible but will not be', which would imply that things incapable of being would on this showing vanish.“[3] Zu Recht bemerkt Hintikka, daß je nachdem, für welche Lesart des hôste man sich entscheidet, sich auch die Interpretation der These ändert, die Aristoteles in Met. IX 4 vertritt: „[...] Aristotle is warning us against a mistake. This mistake is different on the two interpretations.“ Hintikkas Interpretation zufolge will Aristoteles uns sagen, daß „whatever is possible will be the case, i.e. he warns us against assuming that something is possible but will never be“. Ich werde dafür argumentieren, daß Aristoteles gerade dies nicht zeigen will, daß also vielmehr die zweite Alternative die richtige Interpretation von IX 4 ist: Vermögen können durchaus unverwirklicht sein, aber nicht alles Unverwirklichte darf „vermögend“ genannt werden, weil es auch Unverwirklich- tes gibt, das eben deshalb nicht verwirklicht ist, weil es adynaton ist, also unvermögend oder unmöglich.[4]
Dabei muß man keineswegs voraussetzen, wie manche Interpreten dies tun, daß Aristoteles in IX 4, 1047b4f eine explizit von anderen Philosophen vertretene „Lehrmeinung“ widerlegen möchte.[5] Denn eine solche Meinung eines Philosophen ist sonst nirgendwo belegt. Viel näher liegt die Annahme, daß Aristoteles hier ein sachliches Problem aufgreift und einen Einwand diskutiert, der sich aus seiner Ablehnung des strengen megarischen dynatonBegriffes ergibt: Ist dann nicht alles zu allem vermögend?[6] Aristoteles begegnet diesem Einwand, indem er zeigt, daß durch das Konsistenz-Kriterium tatsächlich Fälle ausgeschlossen werden, daß es also nicht für alles ein Vermögen gibt.
Zunächst ist klar, daß Aristoteles auf „das Gesagte“ zurückverweisen will, auf den Konsistenz-Test aus IX 3: Der Leser soll wissen, daß Aristoteles für die weiteren Überlegungen voraussetzt, daß „das Gesagte das Vermögende ist“, was hier so verstanden werden muß, daß der Konsistenz-Test das Vermögendsein korrekt charakterisiert. Zudem ist klar, daß die These des Anfangssatzes sich aus dieser Voraussetzung ergeben soll (phaneron hoti ) : IX 4 behandelt also eine Konsequenz des Konsistenz-Tests. Ein etwas unvermittelter Einschub in den Satz präzisiert, auf welche Weise der Konsistenz-Test das Vermögendsein charakterisiert: Indem nämlich das Gesagte dem Vermögenden „folgt“ (akolouthei ) . Das Verb akolouthein bezeichnet dabei eine Implikationsbeziehung zwischen zwei Begriffen; zum Beispiel „folgt“ die Gattung der Spezies: Alles, was unter die Spezies fällt, fällt auch unter die Gattung (aber nicht umgekehrt).[7] Entsprechend folgt also das Konsistentsein der Annah- me der Verwirklichung dem Vermögendsein. Die Voraussetzung der in IX 4 folgenden Überlegungen ist also, daß die Konsistenzbedingung eine notwendige Bedingung des Vermögendseins ist.
Aristoteles scheint aus dieser Voraussetzung zu folgern, daß die Sätze „x kann F-en“ und „x wird nie F-en“ nicht gemeinsam wahr sein können. Allerdings ist es unklar, wie dies folgen soll, denn der Konsistenz-Test hat es nur mit hypothetischen Verwirklichungen zu tun und kann daher kaum ausschließen, daß eine tatsächliche Verwirklichung ausbleibt. Zudem drängt sich ein inhaltlicher Einwand gegen diese These auf: Aristoteles hat doch mit großem Aufwand in IX 3 gegen die Megariker ins Feld geführt, es gebe unverwirklichte Vermögen. Warum soll es nicht auch Vermögen geben, die auch in der Zukunft nicht verwirklicht werden? Die Vermögen zu Gegenteiligem scheinen doch ein Beispiel zu sein, bei dem in jedem Einzelfall notwendigerweise ein Vermögen nicht verwirklicht wird. Wenn Hippokrates sowohl vermag, einen bestimmten Patienten zu heilen, als auch dessen Tod herbeizuführen, so kann er notwendig nur eine dieser beiden Handlungen ausüben; die andere bleibt unverwirklicht: Obwohl er zu töten vermag, kann es sein, daß Hippokrates nie einen Patienten getötet hat, wie es der Hippokratische Eid ja auch vorsieht. Hier könnte man allerdings erwidern, daß es sich bei dem Vermögen zu heilen und dem Vermögen zu töten ja nicht um zwei verschiedene Vermögen handelt, sondern gewissermaßen um die beiden Seiten ein und derselben Medaille, nämlich des Vermögens der Heilkunst. Ob Hippokrates nun heilt oder tötet, in beiden Fällen wird die Heilkunst dazu verwendet.
Aber es ist durchaus denkbar, daß Hippokrates hinfort weder heilt noch tötet, ohne daß man sich genötigt fühlen müßte, Hippokrates das von ihm erworbene Wissen und Können dann abzusprechen: Hippokrates verfügt dann immer noch über die Heilkunst. Das heißt, daß die Heilkunst nicht notwendig in der Zukunft angewendet werden muß. Ein weiteres Beispiel: Jemand, der im Schlaf stirbt, verfügt zwar vor seinem Tod noch über das Sehvermögen, aber es gilt während seines letzten Schlafes, daß er nie mehr sehen wird. Es kann offensichtlich durchaus vorkommen, daß jemand über ein Vermögen verfügt, es aber nie mehr ausübt. Im berühmten Seeschlacht-Kapitel von „De Interpretatione“ diskutiert Aristoteles selber ausdrücklich ein Beispiel für solche unverwirklichten Vermögen: Ein Mantel hat aufgrund der physikalischen Eigenschaften seines Gewebes das Vermögen, zerschnitten zu werden. Doch ist es möglich, daß der Mantel zerschlissen wird, bevor es dazu kommt, daß er zerschnitten wird (Int. 9, 19a12-16). Es gibt also auch für Aristoteles Vermögen, die in der Zukunft nicht verwirklicht werden; diese sind die ontologische Grundlage für die sogenannte zweiseitige Möglichkeit, für das Vorkommen kontingenter Sachverhalte (19a7-12).
Wie aber läßt sich die Existenz gegenwärtig unverwirklichter Vermögen, die auch in der Zukunft nicht verwirklicht werden, mit der Maxime in IX 4 versöhnen, man dürfe nicht behaupten, etwas sei vermögend, würde aber nie verwirklicht? Es gibt mehrere Optionen, diese Spannung aufzulösen: Man kann versuchen, (1) die These mit Hintikka als Ausdruck des sogenannten Fülleprinzips zu verstehen, oder (2) sie mit einer uns ungewohnten Semantik für Zukunftsaussagen zu rechtfertigen, die man dann (3) durch Überlegungen darüber motivieren kann, wann eine Behauptung zulässig ist. Es reicht allerdings aus, (4) den Anwendungsbereich der Maxime auf das Unmögliche einzuschränken. Jede dieser Lösungsversuche ist systematisch gangbar, auch wenn die eine oder andere Lösung etwas gekünstelt wirken mag. Als Interpretation von IX 4 scheint mir aber die letzte Lösungsmöglichkeit die wahrscheinlichste zu sein:
(1) Hintikka sieht in IX 4 „very strong support“[8] für die These, daß Aristoteles das sogenannte Fülleprinzip („principle of plenitude“) vertreten hat. Das Fülleprinzip ist eine These über den Zusammenhang von Modal- und Zeitbegriffen (vgl. Kap. 1.2.3); ihm zufolge gilt:
(F1) Was möglich ist, ist mindestens einmal der Fall. (F2) Was niemals ist, ist unmöglich.
(F3) Was immer ist, ist notwendig.
In Met. IX 4 sieht Hintikka einen Beleg dafür, daß Aristoteles (F1) vertreten hat. Umgekehrt gibt es eine ganze Reihe Belege, die dafür sprechen, daß Aristoteles (F1) abgelehnt hat, darunter auch das soeben besprochene Mantel-Beispiel aus Int. 9, 19a12-16.[9] Hintikka versucht das Mantelbeispiel dadurch abzuschwächen, daß er sagt, dort gehe es um „a possibility concerning an individual object, and not a possibility concerning kinds of individuals or kinds of events“.[10] Diese Feststellung ist zwar richtig,[11] aber es ist völlig unklar, wieso Hintikka annimmt, daß es gerade in IX 4 nicht um eine „possibility concerning an individual object“ geht. Wenn in IX 4 immer noch von Vermögen als Bewegungsprinzipien die Rede ist, mit denen Aristoteles in IX 1 begonnen hat, dann können diese doch wohl nur Eigenschaften von Individuen sein, denn es sind Individuen, die bewegen und die bewegt werden, nicht Arten von Individuen und noch weniger Arten von Ereignissen.
Aristoteles argumentiert in Cael. I 12 tatsächlich für das Fülleprinzip in der Formulierung (F3), wenn er beweisen will, daß die Himmelskörper nicht nur immer existieren, sondern auch notwendigerweise immer existieren. Aber erstens zeigt gerade die Tatsache, daß Aristoteles es für notwendig hält, das Fülleprinzip eigens zu beweisen, daß das Fülleprinzip nicht schon Bestandteil der Bedeutung von dynaton oder ananke ist. Zweitens geht es auch in Cael. I 12 um Vermögen von Einzeldingen, nämlich um Vermögen der einzelnen Himmelskörper. Diese Beobachtungen machen es unwahrscheinlich, daß Aristoteles gerade in IX 4 auf das Fülleprinzip aufmerksam machen wollte.
(2) Die zweite Lösung beruft sich auf eine bestimmte Interpretation von Aristoteles' Semantik von Zukunftsaussagen. Dieser Lösungsstrategie zufolge ist die Maxime von Met. IX 4 zwar eine Aussage über die Wahrheitswerte der entsprechenden Aussagen, sie legt aber einen sehr starken Wahrheitsbegriff zugrunde: Diesem starken Wahrheitsbegriff liegt die korrespondenztheoretische Intuition zugrunde, daß ein Satz nur dann wahr ist, wenn der wahrmachende Sachverhalt vorliegt. Dabei wird das „wenn“ temporal verstanden. Entsprechend ist ein Satz über Zukünftiges jetzt wahr, wenn der die Zukunftsaussage wahrmachende Sachverhalt jetzt vorliegt. Wenn ein Satz in diesem Sinne stark wahr ist und der wahrmachende Sachverhalt bereits vorliegt, dann ist dieser offensichtlich unabänderlich und die entsprechende Aussage damit notwendig. Einen solchen Wahrheitsbegriff verwendet Aristoteles der einflußreichen traditionellen Interpretation zufolge im SeeschlachtKapitel von „De Interpretatione“.[12]
Doch wie erklärt eine solche Auffassung von den Wahrheitsbedingungen von Zukunftsaussagen die Unverträglichkeit von „x kann F-en“ und „x wird nie F-en“? Wenn die Zukunftsaussage „x wird nie F-en“ jetzt schon stark wahr sein soll, dann muß der entsprechende Sachverhalt bereits vorliegen. Die Aussage „x wird nie F-en“ ist dann notwendig. Nun verlangt die Anwendung des Konsistenz-Kriteriums auf die Aussage „x kann F-en“ aber gerade, daß „x F-t“ für einen zukünftigen Zeitpunkt konsistent denkbar ist, was natürlich zu einem Widerspruch zu „x wird nie F-en“ führt. Wenn also „x wird nie F-en“ stark wahr ist, dann ist diese Aussage auch notwendig und führt so zu einem negativen Ergebnis des Konsistenz-Tests.
(3) Im Diagonalen-Beispiel kann man „Die Diagonale wird nie gemessen werden“ behaupten, weil dies eine notwendige mathematische Wahrheit ist. Man kann nun natürlich versuchen, diese Beobachtung zu verallgemeinern: Behaupten läßt sich dann zulässigerweise nur das, was notwendig ist, entweder aus Gründen der Logik oder weil es bereits gegenwärtig oder vergangen und damit unabänderlich ist.[13] Dann kann man 1047b4f als eine allgemeine Aussage über die Zulässigkeit von Behauptungen lesen: Damit „x wird nie Fen“ behauptbar ist, muß es eine notwendige Aussage sein. Dann jedoch ergibt der Konsistenz-Test, daß „x kann F-en“ nicht wahr sein kann.
Es ist jedoch unwahrscheinlich, daß Aristoteles in Met. IX 4 auf den starken Wahrheitsbegriff oder eine analoge Behauptungstheorie rekurrieren will, auch wenn diese ihn in Int. 9 vertreten sollte. Denn der starke Wahrheitsbegriff impliziert einen starken Falschheitsbegriff, dem zufolge alles Falsche auch unmöglich wäre. Gerade den Unterschied zwischen Falschheit und Unmöglichkeit aber betont Aristoteles in Met. IX 4: „Es ist nämlich nicht dasselbe das Falsche (to pseudos) und das Unmögliche (to adynaton); denn daß du jetzt stehst, ist falsch, aber nicht unmöglich.“ (Met. IX 4, 1947b12ff)[14]
(4) Aristoteles' Diagonalen-Beispiel ist gerade so gewählt, daß das für die Zukunft prognostizierte Nichteintreten der Messung notwendigerweise nicht eintritt. Denn die Inkommensurabilität der Diagonalen ist ja eine notwendige geometrische Wahrheit, die Messung also eine absolute Unmöglichkeit. Für kontingente Eigenschaften, so haben wir gesehen, akzeptiert auch Aristoteles zukünftig unverwirklicht bleibende Vermögen. Aristoteles will an dieser Stelle also nicht behaupten, daß „x kann F-en“ und „x wird nie F-en“ sich ausschließen, sondern nur, daß es in bestimmten Fällen unzulässig ist, beides zu behaupten – solche Fälle nämlich, in denen es um das Unmögliche geht: Denn in diesen Fällen ist „x wird nie F-en“ notwendig und daher unvereinbar mit der im Konsistenz-Test erforderlichen Annahme „x F-t“. Aristoteles' Bemerkung läuft dann darauf hinaus, daß es nicht zu allem und jedem ein Vermögen gibt, denn bei Unmöglichem liefert das Konsistenz-Kriterium ein negatives Ergebnis: Es gibt kein Vermögen für Unmögliches.[15]
Für diese Interpretation spricht, daß Aristoteles selbst sein DiagonalenBeispiel als Beispiel für etwas Unmögliches (to adynaton) darstellt und denjenigen Fällen gegenüberstellt, die von Vermögen oder Möglichem handeln:
le/gw de oiâon eiã tij fai¿h dunato th dia/metron metrhqh=nai ou) me/ntoi metrhqh/sesqai -o( mh logizo/menoj to a)du/naton eiånai- oÀti ou)qe kwlu/ei dunato/n ti oÄn eiånai hÄ gene/sqai mh eiånai mhd' eÃsesqai. a)ll' e)keiÍno a)na/gkh e)k tw½n keime/nwn, ei¹ kaiì u(poqoi¿meqa eiånai hÄ gegone/nai oÁ ou)k eÃsti me dunato de/, oÀti ou)qe eÃstai a)du/naton: sumbh/setai de/ ge, to ga metreiÍsqai a)du/naton.
Ich meine das so, wie wenn zum Beispiel jemand sagen würde, die Diagonale vermag gemessen zu werden, wenn sie auch nie gemessen werde – [das wäre jemand,] der das Unmögliche [to adynaton] nicht in Betracht zieht – weil nichts daran hindert, daß etwas, das vermögend ist zu sein oder zu werden, weder ist noch sein wird. Vielmehr ist jenes notwendig aufgrund der Voraussetzungen, wenn wir außerdem unterstellen, daß etwas ist oder entstanden ist, was nicht ist, aber zu sein vermag: daß daraus nichts Unmögliches folgt. Es wird sich aber [etwas Unmögliches] ergeben, denn es ist unmöglich, daß [die Diagonale] gemessen wird. (Met. IX 4, 1047b6-12)
Es geht Aristoteles offensichtlich darum, angesichts des metaphorischen Sprachgebrauchs der Mathematiker ein mögliches Falschverstehen seiner Lehre von der Zweiseitigkeit von Vermögen zu vermeiden: Daß es Vermögendes gibt, das nicht verwirklicht ist, heißt keineswegs, daß alles, was nicht ist, dennoch vermögend ist zu sein. Denn das, was notwendigerweise nicht geschieht, kann auch nicht konsistent angenommen werden. Aristoteles zeigt also in Met. IX 4, daß die gegen die Megariker vertretene Zweiseitigkeit der Vermögen, nicht impliziert, daß es nichts Unvermögendes gibt. Denn wenn etwas unmöglich ist, dann gibt es nichts, was dazu vermögend ist. Eine Ausnahme findet diese Maxime nur in der besonderen Verwendungsweise von dynamei, in der dieses in Verbindung mit dem Unendlichen oder Leeren verwendet wird. Denn bei dieser façon de parler gilt, wie ich in Kap. 3.4 ausgeführt habe, daß der Endzustand – das aktual Unbegrenzte oder das aktual Leere – notwendigerweise nie erreicht wird.
- [1] Ich folge in 1047b3 mit Ross, Furth Met. 134 und Notes 102.104 den Handschriften JT. Jaeger folgt den Handschriften EAb und dem Kommentar des Alexanders und liest ᾗ (hêj, „qua“)statt ἢ (ê, „oder“). Zudem postuliert Jaeger eine Lücke hinter akolouthei. Bonitz beruft sich auf Alexander und ergänzt an dieser Stelle energeia. Tatsächlich paraphrasiert Alexander In Met. IX, 574.8 akolouthei autôj to energêsai, zuvor gibt er aber den Text wie in EAb ohne Ergänzung wieder. Zeller 1882 wiederum vermutet eine Lücke vor dem Eta und ergänzt den Satz zu ‹hô adynaton m›ê akolouthei („dem das Unmögliche nicht folgt“), „a good summary“ des to eirêmenon (Ross Met. II 247). Ross stellt allerdings auch fest, es gebe „no absolute need to depart from the well-attested reading given in the text“. Vgl. auch Furth Met. 134: „there is no textual question about the text“ (Hervorhebung im Original). Zunächst ist festzustellen, daß der Satz ohne den Einschub ê akoluthei leicht zu konstruieren ist: Aristoteles greift auf das zuvor dargestellte Konsistenz-Kriterium zurück und stellt dann eine Konsequenz dieses Kriteriums dar. Ganz ähnlich Rhet. I 13, 1374b2; Anschluß mit anankê in Cael. III 3, 302a20, Rhet. II 21, 1394b7. Der Einschub modifiziert dann das esti: Das Gesagte ist entweder bereits das Vermögende, seine Definition, oder es folgt ihm zumindest, ist seine notwendige Bedingung. In beiden Fällen soll sich die durch phaneron eingeleitete Folgerung ergeben. Für eine ähnliche Modifikation von estin verweist Ross auf APr I 13, 32a24; dort soll jedoch wechselseitige Implikation gemeint sein (ê akolouthei allêlois). Jaegers Lesart hêj kann ebenso explikativ verstanden werden (vgl. APo I 4, 73b22). Die Lesarten von Ross und Jaeger (ohne Postulat einer Lücke) sind daher beide mit meiner Interpretation kompatibel, wie auch die Konjektur von Zeller, die aber unnötig und daher unplausibel ist
- [2] Diese Lesart haben G.E.L. Owen und Martha Kneale vorgeschlagen, wie Hintikka 1973, 107108 mitteilt; vgl. auch Owen in Notes 102; McClelland 1981, 146-147 schließt sich ihnen an. LSJ s.v. führt diese Verwendungsweise von hôste als Bedeutung B.I 4 an („[sometimes] implying on condition that ...“). In dieser Bedeutung verwendet hôste z.B. Thukydides Hist. IV 46, 2 und IV 37, 2 (vgl. auch Graves 1884 ad loc.) sowie Xenophon Anab. II 6, 6 und V 6, 26. Kritisch gegenüber Hintikkas Interpretation sind auch Sorabji 1980, 136 und Mansion 21976, Anm. 13
- [3] Hintikka 1973, 108; dort auch die beiden folgenden Zitate. Hintikka folgt übrigens fast durchgehend der Übersetzung von Ross
- [4] Es geht also nur um die Kompatibilität von „vermögend“ und „tut niemals“, und nicht, wie Hintikka 1973, 108 hinsichtlich der von mir favorisierten konditionalen Lesart von hôste insinuiert, um „a fallacious general inference from ‚never' to ‚possibly'“
- [5] Bärthlein 1965, 38. Vgl. auch McClelland 1981, 131 („another unnamed group of opponents“), Thomas In Met. IX n.1807 („destruit contrariam opinionem dicentium omnia possibilia“)
- [6] Vgl. z.B. Owen in Notes 102 über den angeblichen Gesprächspartner: „He is a simple, to be invented. [...] He is perhaps invented as the extreme anti-Megarian [...].“
- [7] Das Wort akolouthein alleine bezeichnet eine einseitige Implikation; vgl. Weidemann Int. 421 mit Verweis auf Int. 13, 22b15f und Int. 12, 21b35. Daher ist die Übersetzung „convertible“ nicht korrekt, die Ross Met. II 247 wählt (und die Hintikka 1973, 107 übernimmt; vgl. auch Hintikka 1973, 44.45). Konvertibilität, also wechselseitige Implikation, drückt Aristoteles z.B. mit akoluthein allêlois aus; vgl. APr I 13, 32a24.27; An. III 1, 425b8; Cael. I 12, 282b6.9.26.29; Met. IV 2, 1003b23; vgl. auch Met. XIII 9, 1085b2. Abweichend auch Furth Met. 134, der akoluthei mit „accompanies“ im Sinne von „is compatible with“ statt von „logically follows from“ übersetzen will. Vgl. Heidegger 1931/1981, 156: „Wir haben in diesem Ausdruck des Folgens, griechisch verstanden, die Fassung des Verhältnisses, das wir gelehrt ausdrücken als das des apriorischen Bedingungszusammenhangs. Folgen heißt hier: vorangehen, nicht: nachher erst kommen.“ Vgl. auch Rhet. I 6, 1362a29f, wo Aristoteles eine logische und eine kausale Bedeutung von akolouthei unterscheidet: Kausalen Sinn hat die späteren Folge (hysteron), wie etwa das Wissen dem Lernen folgt, während die gleichzeitige Folge (hama) logischen Sinn hat, wie etwa das Leben von dem Gesundsein impliziert wird
- [8] Hintikka 1973, 107
- [9] Lovejoy führt Met. III 6, 1003a2 und Met. XII 6, 1071b13f als Belege an; allerdings ist Hintikka 1973, 97-99 dahin gehend zuzustimmen, daß diese Belege keineswegs eindeutig sind. Quevedo 1986 verweist zusätzlich auf das oben diskutierte Mantelbeispiel aus Int. 9 und auf die Unendlichkeitslehre. Letztere ist allerdings ein sehr heikler Beleg, da Aristoteles in IX 6 die Verwendungsweise von dynaton in Verbindung mit apeiron ausdrücklich als einen Spezialfall bezeichnet; vgl. Kap. 3.7. Hintikka 1973, 100-102 selbst führt als „apparent counter-evidence“ an: Int. 9; APo I 6, 75a31-35; Phys. III 1, 200b26 and the parallel in Met. XI 9, 1065b5; Top. IV 5, 126a34ff; Met. IX 3-4
- [10] Hintikka 1973, 100
- [11] Vgl. aber Hafemann 1999, der dafür argumentiert, daß Zukunftsaussagen in Int. 9 als Aussagen über Universalien verstanden werden
- [12] Die Literatur zur „Seeschlacht“ in Int. 9 ist vorbildlich aufgearbeitet in Gaskin 1995 und Weidemann Int., die beide die traditionelle Interpretation bevorzugen. Zur Rolle von Int. 9 im Kontext von Int. vgl. bes. Whitaker 1996 in Verbindung mit Weidemann 1998
- [13] Eine ähnliche Strategie findet sich in Boethius' zweitem Kommentar zu Int. 9. Vgl. dazu Kretzmann 1998, 37-44; ähnlich argumentiert auch Hafemann 1999
- [14] Vgl. auch Cael. I 12, 281b14f: „Etwas Falsches anzunehmen ist also nicht das Gleiche wie etwas Unmögliches anzunehmen; und eine unmögliche Konklusion folgt aus einer unmöglichen Voraussetzung.“
- [15] Aristoteles verweist in Rhet. I 3, 1359a11f explizit darauf, daß man Unmögliches (ta adynata) weder ausführen kann noch ausgeführt haben kann, sondern jeweils nur Mögliches (ta dynata). Daher berät niemand über etwas, das er für unmöglich hält (peri tôn adynatôn, Rhet. I 2, 1357a5ff)