Einseitige Vermögen bei Veränderlichem
Die bisher behandelten Fälle einseitiger Vermögen stammen sämtlich aus dem Bereich der ewigen und unvergänglichen Dinge. Aristoteles fügt diesen nun ein Beispiel aus dem Bereich der veränderlichen Dinge hinzu, die also in diesem Punkt die unvergänglichen Dinge „nachahmen“ (mimeitai, 1050b28): Die Elemente Erde und Feuer sind stets in Verwirklichung, da sie „an sich“ (kath' hauto) und „in sich“ (en autois) über Bewegung verfügten (1050b30). Was ist damit gemeint? In der Literatur finden sich verschiedene Interpretationsvorschläge:[1]
(1) Die vier Elemente zusammengenommen ahmen die Kreisbewegungen der unvergänglichen Himmelskörper nach, da sie sich zyklisch ineinander verwandeln können (GC II 10, 337a1-7):[2] Luft entsteht aus Wasser, Wasser aus Erde, Erde aus Feuer und Feuer aus Luft. Nach diesen vier Umwandlungen ist das Ausgangsprodukt wieder hergestellt, wie auch bei der kreisförmi- gen Ortsbewegung der Himmelskörper, die schließlich wieder ihre Ausgangsposition einnehmen, von wo aus die Bewegung erneut starten kann.
Doch die Nachahmung des Unvergänglichen, von der Aristoteles in IX 8 spricht, scheint sich nicht auf die Gesamtheit der Elemente, sondern auf das einzelne Element zu beziehen. Durch den Kreislauf der Umwandlung der Elemente ineinander ahmen aber alle Elemente gemeinsam die Kreisbewegungen der Himmelskörper nach. Zudem beruht die Umwandelbarkeit der Elemente ineinander ja gerade auf ihrem gemeinsamen Stoff, der „ersten Materie“ (GC I 5, 320b8ff; II 1, 329a24-27), und nicht in ihrer Form, die ja bei der Umwandlung verloren geht. Diese Interpretation verfehlt also gerade das, was im Kontext von IX 8 als das Nachgeahmte genannt wird. Außerdem ist der beschriebene „Kreislauf“ der Umwandlung der Elemente ineinander in vier Schritten nur eine von vielen Möglichkeiten der Entstehung der Elemente auseinander. In der Tat führt Aristoteles in GC II 10 nicht den idealisierten vierschrittigen Umwandlungsprozeß, sondern nur einen dreischrittigen Umwandlungsprozeß an, in dem das Element Erde gar nicht vorkommt. Überhaupt kann sich jedes Element in jedes andere Element umwandeln (GC II 4, 331b35-332a2; II 5, 332a30-33), da stets die Eigenschaften zweier beliebiger Elemente zueinander konträr sind.[3]
Zudem ist in GC II 10 keine Rede davon, daß die Elemente die ewigen Dinge imitieren, sondern daß eine Reihe von geradlinigen Bewegungen eine kreisförmige Bewegung nachahmem kann (hê eutheia phora mimoumenê tên kyklô synechês, 337a7): Durch entsprechende Richtungsänderungen kann man auch durch mehrere geradlinige Bewegungen wieder an seinen Ausgangspunkt zurückkehren.[4]
(2) Eine zweite Interpretation will das „immer verwirklicht“ (aei energei, 1050b29) auf das natürliche Streben der Elemente zu ihrem „natürlichen Ort“ (Phys. V 6, 230b10-15; Cael. I 8, 276a22-30; IV 3, 311a5ff; vgl. Auch Cael. III 2) beziehen:[5] Das Feuer strebt immer nach oben, Erde immer nach unten. Doch ist gerade diese natürliche Bewegung keine, die immer verwirklicht ist, denn dieser Bewegung können sich Hindernisse in den Weg stellen: Wenn sich die Luft in einem Gefäß befindet, dann kann sie nicht aufsteigen und ist nur „dem Vermögen (dynamei ) nach oben“ – erst, wenn das Gefäß geöffnet wird, kann sie „der Verwirklichung nach (energeiaj ) aufsteigen“ (Phys. VIII 4, 255b8-12). Außerdem können die Elemente ihrem natürlichen Ort nur solange zustreben, bis sie ihn erreicht haben. Natürlich ist das Obensein gerade die Verwirklichung (energeia) des Leichten (vgl. Phys. VIII 4, 255b11). Aber die Verwirklichung des Obenseins ist eben nicht immer gegeben, nämlich nicht, solange das Leichte noch auf dem Weg nach oben ist. Eine solche Verteidigung dieser Interpretation[6] trennt nicht sauber zwischen dem passiven Bewegungsvermögen, das durch das Aufsteigen verwirklicht wird, und dem ontologischen Vermögen, oben zu sein.
(3) Die dritte Interpretation schließlich bezieht das „immer verwirklicht“ auf die wesentlichen Eigenschaften der Elemente.[7] Diese vier „Grundeigenschaften“ werden von Aristoteles ebenfalls „Elemente“ (stoicheia) genannt (z.B. in GC II 1, 330a30). Sie bilden zwei Gegensatzpaare: feucht und trocken, kalt und warm. Durch die Kombination dieser Grundeigenschaften bilden sich die stofflichen Elemente Erde, Feuer, Wasser und Luft: Erde ist trocken und kalt, Wasser ist feucht und kalt, Luft ist feucht und warm, Feuer ist trocken und warm (GC II 3). Diese Grundeigenschaften sind Vermögen: Daß Feuer warm ist, heißt, daß Feuer wärmen kann. Daß es trocken ist, heißt, daß es trocknen kann. Diese Vermögen sind nun aber immer verwirklicht, denn es gibt keine Hindernisse, die Feuer am Wärmen hindern könnten. (Eine Isolation verhindert ja nicht das Wärmen, sondern verlangsamt diesen Prozeß nur.) Und sollte sich das Feuer soweit abgekühlt haben, daß es nicht mehr wärmen kann, so hat es damit eine seiner wesentlichen Eigenschaften verloren; es ist dann kein Feuer mehr, sondern hat sich in Erde umgewandelt.[8] Diese dritte Interpretation wird allein dem Kontext von IX 8 gerecht: Sie berücksichtigt, daß die entsprechende Tätigkeit aufgrund der Form der Dinge ausgeübt wird, und sie berücksichtigt auch, daß diese Tätigkeit tatsächlich immer verwirklicht ist. Zudem wird diese Interpretation durch Int. 13 bestätigt. Dort führt Aristoteles Feuer als Beispiel für ein einseitiges Vermögen an und rekurriert zur Begründung gerade auf dessen essentielle Tätigkeit, das Wärmen. Denn für Feuer ist eben „nicht [beides] möglich, [nämlich] zu wärmen und auch nicht zu wärmen, und dergleichen ist auch für alle anderen Dinge nicht möglich, die [ein bestimmtes Vermögen] immer verwirklichen“ (Int. 13, 23a2f; Übers. Weidemann).[9]
- [1] Nur am Rande sei auf den Vorschlag von Smeets 1952, 176 verwiesen, daß Feuer und Erde nur Beispiele für Naturdinge überhaupt sind, die das Ewige nachahmen hinsichtlich „het aanhoudende karakter er van“. Smeets denkt wohl an die ewige Existenz biologischer Arten, wie Aristoteles sie z.B. in GC II 12 beschreibt. In IX 8 gibt es aber keinen Hinweis darauf, daß Aristoteles seine Beispiele so weit gefaßt haben will
- [2] Diese Interpretation vertreten Schwegler IV 182, Solmsen 1960, 387, Happ 1971, Notes 145, Seidl Met. II 487
- [3] Gegen Lang 1994, 351: „[...] the serial relation within the cycle cannot be violated, e.g. water is not potential fire.“ Während ich Langs These nicht zustimme, stimme ich mit ihr aus anderen Gründen hinsichtlich des Beispiels überein: Wasser ist für Aristoteles in der Tat nicht dem Vermögen nach Feuer. Trotzdem kann sich Wasser in Feuer wandeln. Denn der Stoff des Wassers ist dem Vermögen nach Feuer. Analoges gilt für die übrigen Umwandlungen. Vgl. GC II 1, 329a32f. Ganz analog die Überlegung in Met. VIII 5: Wein ist zwar nicht dem Vermögen nach Essig. Aber der Stoff des Weins, das Wasser, ist auch Stoff des Essigs und dem Vermögen nach Essig
- [4] Vgl. Joachim GC 266-267
- [5] Vertreter dieser Interpretation sind Grayeff 1974, 201, Kahn 1985, 189 und Lang 1994. Ross Met. II 265-266 weist auf die beiden Interpretationsmöglichkeiten (1) und (2) hin, ohne sich jedoch für eine zu entscheiden
- [6] Wie sie etwa Lang 1994, 352 versucht
- [7] Diese Interpretation wird vertreten von Thomas von Aquin, In Met. IX, lectio 9, n.1880
- [8] Vgl. GC II 2. In Cael. III 6 argumentiert Aristoteles, daß die Elemente durch Umwandlung ineinander entstehen können, daß es also nie einen vorgelagerten Stoff gibt, der selbst kein Element ist, aus dem aber ein Element entstehen kann
- [9] Es ist umstritten, ob diese Passage von Aristoteles selber stammt; vgl. Weidemann Int. 447. Dies tut dem Wert von Int. 13 für die Interpretation der Metaphysik-Stelle aber wenig Abbruch: Im „schlimmsten“ Fall stammt die Passage von einem sehr frühen Kommentator der aristotelischen Philosophie