Türkisch-Islamische Vereine in Deutschland

Ab dem Ende des 19. Jahrhunderts wurden – wie in Kapitel 3.2.1 beschrieben – die christlichen, jüdischen, sozialdemokratischen und nicht-religiösen Wohlfahrtsvereine gegründet. Mit Beginn der vermehrten Arbeitsmigration Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelten sich in Deutschland jedoch ebenfalls Vereine verschiedener ethnischer Gruppen (Lemmen und Miehl 2001; Oltmer 2010, S. 32; Rieker 2005, S. 115; Schnurr 1997; Thielmann 2008, S. 13). Die Geschichte der islamischen Vereine in Deutschland beginnt bereits 1915 mit dem Bau der ersten Moschee für Kriegsgefangene des Osmanischen Reiches in einem Internierungslager in Berlin[1] (Herbert 2001, S. 85 ff.; Lemmen 2000, S. 16; Thielmann 2008, S. 13).

Tabelle 6 zeigt die Gründungsdaten verschiedener islamischer Vereine in Deutschland zwischen dem ersten Weltkrieg und dem Ende der 1950er Jahre. Während das Bundesverwaltungsamt (2010b) bis 1959 nur neun Gründungen ausländischer Vereine[2] registriert, belegen andere Quellen allein zwölf islamische Vereinsgründungen zwischen 1918 und 1958 (Hunger 2005, S. 224; Lemmen 2000, S. 16). Mit dem Familiennachzug der im Westen Deutschlands lebenden Arbeitsmigranten kam es vor allem in den 1980er und 1990er Jahren zu vermehrten Gründungen von sog. Migrantenvereinen [3] (Hunger 2005, S. 224). Zuvor schlossen sich viele türkische Migranten in Deutschland zunächst Gewerkschaften oder kleinen türkischen Gemeinschaften und Initiativen an, die bis 1975 eher unorganisiert waren (Halm und Sauer 2007, S. 22; Hunger 2005, S. 224; Öztürk 2003, S. 296).

Tabelle 6: Islamische Vereine in Deutschland zwischen 1915 und 1958

Gleichzeitig wurden jedoch auch weitere kleine Moscheegemeinden und Vereine gegründet, die sich der kulturellen Förderung und Erfüllung von Bedürfnissen und Anliegen des türkisch-islamischen Alltagslebens, der Religionsausübung und des Heimatgefühls widmeten (Lemmen 2002, S. 25 f.).

Christlich geprägte Gruppen von Migranten (sog. „Mitchristen“) konnten sich an die Kirche und die entsprechenden Wohlfahrtsverbände wenden und eingliedern, so wie jüdisch-geprägte ethnische Initiativen sich der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden anschlossen oder gewerkschaftlich orientierte Migranten und deren Vereine an die Arbeiterwohlfahrt (Rieker 2005, S. 115). So wurden italienischen Arbeitsmigranten bereits in den 1950er Jahren soziale Dienstleistungen von der Caritas zur Verfügung gestellt und zwischen 1957 und 1973 über 100 italienische Sozialbetreuer eingestellt (ebd., S. 116). Dies war neben einem integrativen Nutzen auch im Rahmen des Subsidiaritätsprinzips vorteilhaft, da z.B. die italienischen Mitgliedsvereine von ihren übergeordneten Wohlfahrtsverbänden administrative und auch finanzielle Unterstützungen erhielten. Für Migranten, die nicht dem griechisch-römischen Kulturkreis angehörten, wie die türkisch-muslimischen Personen, war es deutlich schwieriger, sich zu organisieren. Es fehlte das Gemeinsamkeit schaffende Element der Religion, um sich bereits etablierten Verbänden anschließen zu können und die vorhandene Infrastruktur zu nutzen.

Die Aufnahme in christliche Wohlfahrtsverbände kam für die vornehmlich türkisch-islamischen Gruppen offenbar nicht infrage, da diese „im Auftrag“ Jesus Christus und der Kirche agieren, was mit dem Selbstverständnis der türkischen Muslime nicht zu vereinbaren war (Deutscher Caritasverband 2005, S. 2; Diakonischen Werkes 2007, S. 1). Der Staat und die Kirchen sahen selber zunächst auch keinen Förderungsbedarf der islamischen Einrichtungen (Lemmen 2002, S. 26). Nicht-religiöse Vereine wie der Paritätische Wohlfahrtsverband hätten ihrerseits zwar islamische Vereine aufgenommen, allerdings war dies keine Alternative für diese religiösen Gruppen und Initiativen (Friedrichs und Klöckner 23.12.08; Halm und Sauer 2006, S. 22). Die Arbeiterwohlfahrt war der einzige Verein, der offiziell mit den Anliegen muslimischer Einwanderer betraut wurde, doch ist der Verein religiöser Neutralität verschrieben und kann daher keine religiöse Dienstleistungen anbieten (Arslan 2009, S. 25; Halm und Sauer 2006, S. 22; Lemmen 2002, S. 27). Ausländische Vereine aus dem christlichen Kulturkreis sind deutlich seltener auf religiöse Dienstleistungen ausgelegt als türkische. Bis 2001 wurden über 16.000 ausländische Vereine registriert, von denen über 11.000 als türkische Vereine geführt wurden (Hunger 2005, S. 223). 22,9 % der türkischen Vereine im Jahr 2001 waren als religiöse Vereine registriert, während nur 3,0 % der italienischen, 1,5 % der spanischen und 1,1 % der griechischen Vereine religiös orientiert waren (Hunger 2005, S. 235). Sauer und Halm (2007, S. 9, 2009, S. 151) stellten fest, dass der größte Teil türkischer Vereinsmitglieder in religiösen Vereinen (2009: 24,2 % bzw. 2007: 29,0 %) aktiv ist. Die für die türkischen Migranten also wichtigen religiösen Dienstleistungen konnten nicht im Rahmen eines nicht-religiösen Dachverbandes angeboten werden, auch wenn die Mitgliedschaft in einem deutschen Dachverband für die Mig- rantenvereine mindestens einen finanziellen Nutzen bedeutet hätte (ebd.).

Die türkisch-islamischen Vereine haben daher eher einen Selbsthilfecharakter im Gegensatz zu den Wohlfahrtsverbänden[4], deren Hilfe sich auf andere als die eigene Gruppe richtet. Halm und Sauer (2006, S. 21) sprechen sogar von einer zivilgesellschaftlichen Segregation, die sich in den letzten zehn Jahren aber abgeschwächt hat. Nur noch 22 % der türkischen Migranten, die sich in Vereinen organisierten, waren 2004 ausschließlich in türkischen Vereinen aktiv (ebd.).

Aus den beschriebenen schwierigen Bedingungen der türkischen Muslime in Deutschland entwickelte sich ein Islam, der sich deutlich von der Religionsausübung und den Ideologien im Herkunftsland unterschied (Schiffauer 2004, S. 68, 2010, S. 20). Die Erhaltung alter Riten, Traditionen und Dogmen ländlicher Regionen der Türkei der 1960er Jahre und die beinahe phobische Zurückhaltung gegenüber dem fremden Einwanderungsland und dessen Mitgliedern half bei der Bewältigung des Alltags in der neuen, sich durch vergleichsweise geringe soziale Kontrolle auszeichnenden Heimat (ebd.). Innerhalb der türkischen sozialen Netzwerke war eine Anpassung an die Aufnahmegesellschaft nicht zwingend nötig und Teile der Gastarbeiter sahen in der Religion und ihrer Ausübung einen Zufluchtsort, der ihnen das Leben in der westlichen, christlich geprägten Kultur erleichtern konnte (ebd.).

Viele Moscheevereine entstanden durch soziale und verwandtschaftliche Kontakte von Personen, die bereits im Heimatland bestanden (Schiffauer 2004,

S. 68). In den „mitgebrachten“ sozialen Netzwerken unterstützen sich die Gastarbeiter in allen Lebensbereichen und errichteten, teils motiviert von größeren Verbünden, teils aus eigener Kraft provisorische Initiativen, die sich später zu großen Verbänden zusammenschlossen (ebd.). So verschmolz die Religionsausübung mit den Hilfen zur Bewältigung des Alltags im fremden Land und führte zu einer strengen und „weltflüchtigen Form der Religiosität“ der türkischen Einwanderer erster Generation, wie sie in der Türkei längst nicht mehr vorherrschte (Schiffauer 2010, S. 20). Auch heute noch sind die türkischen Muslime in Deutschland, verglichen mit Muslimen anderer Herkunft, deutlich religiöser (Thielmann 2008, S. 17). Als hoch religiös gelten 44% der türkischen Muslime in Deutschland, währen 37 % der arabischen, 31 % der bosnischen und 27% der iranischen Muslime sich als hoch religiös einschätzen (ebd.).

Doch entwickelten sich die Vereine mit einem Führungswechsel von der ersten zur zweiten Einwanderergeneration weg von konservativen, integrationshemmenden Parallelgesellschaften hin zu aktiv in die Öffentlichkeit tretenden, modernen und föderalistisch organisierten Vereinen, die für die Politik Ansprechpartner und Vertreter der Rechte der Muslime in Deutschland sein möchten (Halm und Sauer 2007, S. 10; Schiffauer 2004, S. 92). Im Jahr 2004 hatten nur 11,4 % der Vereine, in denen vornehmlich türkische Migranten Mitglied waren, einen reinen Türkeibezug, 59,1 % der Vereine beschäftigten sich ausschließlich mit dem Leben in Deutschland, 10,7 % mit beiden Ländern und 14,1 % hatten einen internationalen Bezug (Halm und Sauer 2007, S. 10). Dies spiegelt sich auch in der Rückkehrabsicht von türkischen Migranten wider. Sauer und Halm (2009, S. 65 ff.) stellten in ihrer Befragung von 1.000 türkischstämmigen Migranten fest, dass weniger als 40 % eine eindeutige Rückkehrabsicht haben. Die identifikative Orientierung der ersten Einwanderergeneration fällt mit 39,9 % deutlich zu Gunsten Deutschlands (Türkeiorientierung 25,9 %) aus und ist in der zweiten Generation noch stärker ausgeprägt (44,8 % Deutschlandorientierung, 23,2 % Türkeiorientierung) (ebd.).

Tabelle 7: Anzahl der Mitglieder in islamischen Vereinen

[5]

k.A. = keine Angabe. Quellen: AAGB (2010a, 2010b); Ahmadiyya Muslim Jamaat in der Bundesrepublik Deutschland e.V. (2011); Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2006); Bundesministerium des Innern (2010, S. 224, 237); Çetinkaya (2000); aHalm und Sauer (2005, S. 28); bIslaminstitut (2004); Islamische Gemeinschaft Millî Görüş (2011); cKücükhüseyin (2002, S. 16, 20, 29); Religionswissenschaftlicher Medien- und Informationsdienst (REMID) (2012); Zentralinstitut Islam Archiv Deutschland Stiftung e.V. (2006).

81 Die Zahlen beziehen sich auf unterschiedliche Jahre. Leider sind diese nicht gut dokumentiert, so dass unklar bleibt, auf welches Jahr sich die einzelnen Mitgliedszahlen beziehen.

82 Inkl. muslimische Roma, nicht aufgeführt.

In Deutschland bildeten sich viele verschiedene islamische Organisationen, die sich den unterschiedlichen Wertvorstellungen, Glaubensrichtungen und Rechtsschulen widmen (Topuz 2003). Zurzeit gibt es ca. 2.500 Moscheen in Deutschland, die für ihre Zielgruppen soziale sowie kulturelle Angebote und auch solche zur politischen Partizipation machen (Hollweg und Franke 2000, S. 53; Tezcan 2005).

Durch die starke Konzentration der türkischen Bevölkerung in NordrheinWestfalen (520.573[6] Personen), das zudem das Bundesland mit der größten Ausländerzahl (1.739.882[6] Personen) ist, haben sich viele der türkischislamischen Vereine dort angesiedelt (Hero et al. 2008; Landesdatenbank NRW 2014; Lemmen 2002, S. 17; Ministerium für Arbeit NRW 2010, S. 7; Statistisches Bundesamt 2010b, S. 72). Die Geschäftsstellen und Vereine der türkischen islamischen Organisationen der Bundesebene, wie die Bundesgeschäftsstellen des Zentralrats der Muslime, des Islamrats, von Millî Görüş, Süleymanchlar und Kaplanchlar, ATiB, Cemaati und DiTiB, VIKZ und der AABF sind vor allem in und um Köln zu finden.Schätzungen zufolge sind 50 % der in NordrheinWestfalen lebenden muslimischen Personen Mitglied in einer islamischen Organisation (Hero et al. 2008). Sauer und Halm (2009, S. 150) sprechen von 43,7 % der von ihnen befragten türkischen Migranten, die in einem rein türkischen[8] Verein Mitglied sind, 32,8 % in einem deutsch-türkischen[9] und 23,5 % ausschließlich in einem deutschen[10] Verein. Doch sind die Angaben über Mitgliederzahlen, sofern solche zur Verfügung stehen, uneinheitlich. Tabelle 7 zeigt die Mitgliederzahlen verschiedener Quellen für die unterschiedlichen religiösen islamischen Vereine und Bewegungen in Deutschland. Dabei kann die Tabelle nur einen Überblick über die in der Literaturrecherche der vorliegenden Arbeit gefundenen Angaben bieten, die teils sehr unterschiedliche Zahlen liefern und nicht den Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Es kann keineswegs eine Aussage dazu getroffen werden, welche der Quellen „die korrekte“ Angabe macht, da offizielle Mitgliederstatistiken nicht geführt oder nicht erhältlich sind.

Der Zentral- und der Islamrat nehmen eine Sonderstellung ein, weil sie weniger religiöse Vereine als vielmehr Dachverbände für Mitgliedsvereine sind – vergleichbar der Stellung der BAGFW für die Wohlfahrtsverbände (Lemmen 2000, S. 29; Lemmen und Miehl 2001, S. 43). Auch die DiTiB ist ein Dachverband, integriert aber auch natürliche Personen und ist selbst Mitglied im Zentral-rat der Muslime (ZMD)[11] (ebd.). Leider sind die meisten der Mitglieder nicht offiziell registriert. Ein Grund dafür ist, dass oft nur das meistens männliche Familienoberhaupt offiziell registriert ist, obwohl die ganze Familie (religiöse) Dienstleistungen in Anspruch nimmt (Friedrichs und Klöckner 2011, S. 12; Hero et al. 2008; Kücükhüseyin 2002, S. 16; Pokoyski 2007). Das Problem der nicht offiziell registrierten Mitglieder behindert den rechtlichen Status der Organisationen, der nicht nur erforderlich ist, um politischen Einfluss auf staatliche Entscheidungen nehmen zu können, z.B. hinsichtlich der Etablierung und Gestaltung von islamischem Religionsunterricht in Schulen, sondern auch um als Wohlfahrtsverband oder als Religionsgemeinschaft anerkannt zu werden (Bundesministerium des Innern 2001; Pokoyski 2007).

Die vermehrten Gründungen türkisch-islamischer Organisationen nahm mit der Änderung des Gastarbeiterin den Einwandererstatus der türkischen Migranten ihren Lauf (Hunger 2005). Zunehmend wurden die anfangs kleinen Initiativen von den politischen Entwicklungen in der Türkei beeinflusst. Als Bürgerorganisationen in der Türkei in den 1980er Jahren verboten wurden, begannen Oppositionelle und Randgruppen, im Ausland, Organisationen zu gründen, die fortan im Wettbewerb um die Macht in den wachsenden türkischen Gemeinden in Westeuropa standen (Friedrichs et al. 2012, S. 223; Rath et al. 1997, S. 390 f.; Sunier 1999, S. 73 f.). Die Einflussnahme der türkischen Regierung und türkischer religiös-ideologischer Bewegungen im Gründungsprozess führte zur ideologischen Aufsplitterung der türkisch-islamischen Organisationen (ebd.). Die Gründung von Moscheen und anderen Organisationen wurde zum Ausdruck des Wettbewerbs zwischen verschiedenen religiösen Schulen (Sunier 1996), und die meisten türkischen Moscheevereine sowie deren Jugend- und Frauenorganisationen schlossen sich den unterschiedlich orientierten großen Dachverbänden von DiTiB, IGMG, VIKZ, ATiB oder der AABF an.

Die Tätigkeiten der religiösen Migrantenvereine ähneln jenen Dienstleistungen der Wohlfahrtsverbände, wenn auch die Religionsausübung in vielen Vereinen im Mittelpunkt steht (Hunger 2005, S. 235). Im Rahmen des Forschungsprojekts wurden Leitungspersonen der DiTiB, der IGMG, der AABF und der ATiB befragt (Friedrichs und Klöckner 2009, 2011). Die islamischen Vereine haben es sich laut der Studie zur Aufgabe gemacht, muslimische Personen auf allen Ebenen zu betreuen und bieten daher kulturelle, soziale und religiöse Aktivitäten an (Alevitische Gemeinde Deutschland e.V. (AABF) 2007; Friedrichs und Klöckner 01.10.08, 05.11.08, 18.11.08, 23.12.08, 21.01.09a, 22.01.09, 2009, S. 78, 2011, S. 19; Halm und Sauer 2007, S. 24 ff.; Friedrichs et al. 2012; Lemmen 2002, S. 25; Rosenow 2010, S. 182). Viele Vereine haben eigene Jugendabteilungen, in denen Hausaufgaben- und Nachhilfe organisiert wird, aber auch Freizeitangebote wie Ausflüge, Seminare, kulturelle Angebote oder Fußballmannschaften (ebd.). Auch im Gesundheitsbereich engagieren sich die Vereine. Es gibt Besuchsdienste, die Patienten in Krankenhäusern und Altersheimen besuchen, und muslimische Geistliche leisten dort Seelsorge (Friedrichs und Klöckner 2009, 2011). Die Imame (arab. i"l...), imam, dt. Anführer, Vorbeter, Führer, Meister, Richtschnur) sind aber nicht nur dafür zuständig, Gebete zu leiten, sondern gleichfalls dafür, die Mitglieder bei alltäglichen Problemen zu unterstützen, seien es religiöse oder körperliche Probleme, Schwierigkeiten in der Familie oder in der Schule (ebd., Wehr 1977, S. 22; Wehr und Kropfitsch 1998, S. 39). Viele Vereine betreiben Reisebüros, um Reisen in die Heimat, aber vor allem die Pilgerfahrt nach Mekka zu organisieren (Friedrichs und Klöckner 2009, 2011; Halm und Sauer 2007, S. 24 f.). Eine weitere wichtige Aufgabe, die die islamischen Vereine übernehmen, ist die Überführung von in Deutschland Verstorbenen in das Heimatland (ebd.).

Trotz der Übernahme vieler Dienstleistungen, die andere Stellen in Deutschland nicht leisten (können), werden Migrantenvereine nicht ausschließlich positiv beurteilt (Friedrichs und Klöckner 23.12.08, 22.01.09; Höbsch 2007, S. 15 f.; Kaplan 2007b, S. 30 f.; Mohr 2007, S. 23; Sökefeld 2005, S. 47). Vielmehr stehen diese Vereine häufig unter dem Verdacht, sich und ihre Mitglieder von der deutschen Gesellschaft abgrenzen zu wollen und Integration zu verhindern (ebd.). Die Muslime und ihre Vereine sind diesem Vorwurf stärker ausgesetzt als andere nicht islamische Migranten und deren Vereine, weil sie vermeintlich fundamentalistische Ideologien verbreiten oder eine Islamisierung Deutschlands anstreben[12] (Ateş 2006; Friedrichs und Klöckner 2009, S. 77 f., 2011, S. 19 f.; Schetter 2006; Sökefeld 2005, S. 48; Trautmann 2006, S. 139 ff.; Tworuschka 2003, S. 14). Doch nicht zuletzt durch nationalistisch orientierte Persönlichkeiten wie z.B. den Gründer der Millî Görüş-Bewegung, Necmettin Erbakan, und durch die Vorwürfe der Gründung einer kriminellen Vereinigung werden Vereinen wie der Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş islamistische, antisemitische und demokratiefeindliche Tendenzen unterstellt[13] (Bundesministerium des Innern 2010, S. 224 ff.). Dies spiegelt sich in den Verfassungsschutzberichten, aber auch in der schwach ausgeprägten Kooperation mit anderen Vereinen und Institutionen wie staatlichen Einrichtungen wider (ebd.). Ein Jahr nach den Anschlägen des 11. September 2001 wurden allein in Deutschland 16 islamische Vereine verboten (Trautmann 2006, S. 141). Das negative Islambild in Deutschland macht es aber auch den nicht vom Verfassungsschutz überwachten Vereinen schwer, als soziale oder gemeinnützige Vereine Anerkennung zu finden (Friedrichs und Klöckner 2009, 2011; Lemmen 2002; Tworuschka 2003, S. 14). Dabei ist ihre Vereinslandschaft heterogen, wie auch die der Wohlfahrtsverbände.

Die Auswertungen einer 10 %-Stichprobe türkischer Vereine im Jahr 2001 in Deutschland ergab, dass die meisten türkischen Vereine zwar religiöse Vereine (22,9 %) sind, doch viele andere Aktivitäten in den zahlreichen Einrichtungen im Vordergrund stehen. 14,7 % der Vereine sind Sportvereine, 14,6 % Begegnungsvereine, 14,0 % machen Kulturvereine aus, soziale Vereine 11,6 % und Freizeitvereine 9,0 % (Hunger 2005, S. 225). Dennoch sind 91,6 % ihrer Vorstände herkunftshomogen und bestehen ausschließlich aus türkischen Vorstandsmitgliedern, 3,1 % sind gemischte Vereine und 5,3 % haben deutsche und türkische Vorstandsmitglieder (ebd., S. 228).

Allen Vereinen ist es wichtig, die Interessen ihrer muslimischen Mitglieder zu vertreten. Vor allem die Diyanet işleri Türk islam Birligi[14] (DiTiB) ist der Ansprechpartner für die Bundesregierung, wenn es um die Belange der Muslime in Deutschland geht (Rosenow 2010, S. 196). Die starke Präsenz der DiTiB in sämtlichen Gesprächen mit staatlichen und kirchlichen Einrichtungen oder auch der Islamkonferenz bedeutet eine ideelle Aufwertung für den Verein. Er sieht sich selbst als Stimme der Mehrheit der Muslime in Deutschland, auch wenn dies durch die fehlenden offiziellen Mitgliedszahlen nicht nachweisbar ist (DiTiB 2011; Lemmen 2002, S. 28).

Auch für die DiTiB – wie für viele der anderen religiösen islamischen Vereine – ist das primäre Ziel, den Status der Religionsgemeinschaft bzw. der Körperschaft öffentlichen Rechts zu erlangen, durch die sich die Vereine nicht nur religiöse Anerkennung erhoffen, sondern auch viele finanzielle Schwierigkeiten bewältigen könnten, da sie dann vom Staat, wie Kirchen und Synagogen auch, unterstützt werden müssten[15] (ebd.). Vor allem die Strukturen der kleinen islamischen Vereine (wie z.B. die ATiB) sind nicht mit der Organisations- und Finanzierungsstruktur der anderen Wohlfahrtsvereine zu vergleichen. Die Einstellung professioneller Mitarbeiter, staatliche Unterstützung und Akquise von Projektmitteln sowie Kooperationen mit anderen Vereinen und Institutionen sind nur wenig oder gar nicht vorhanden (Friedrichs und Klöckner 2009, 2011; Friedrichs et al. 2012). Die Imame, die in der Regel aus der Türkei stammen, werden durch großzügige Spenden von Mitgliedern oder staatlichen Behörden der Türkei finanziert (Friedrichs und Klöckner 23.12.08). Laufende Kosten werden oft durch das Betreiben kleiner Geschäfte und Supermärkte gedeckt (Friedrichs und Klöckner 23.12.08, 2009, S. 19 ff., 2011, S. 78 ff.; Niedersächsisches Innenministerium 2000). So arbeiten die islamischen Vereine hauptsächlich mit freiwilligen Mitarbeitern, und nur in den vom türkischen Staat oder von anderen ausländischen Spendern finanzierten Vereinen arbeiten wenige bezahlte Mitarbeiter.

Um die Anerkennung als Körperschaft zu erhalten, müssten die Vereine eine Reihe von Auflagen einhalten, deren Erfüllung für alle islamischen Verbände nahezu aussichtlos ist, da die Richtlinien sich an christlichen Religionsgemeinschaften orientieren und z.B. Aufnahmeriten, nachweisliche Mitgliederzahlen oder Nachweise über die Dauer des Bestehens der Vereine fordern (Lemmen und Miehl 2001; Muckel 1995). Nicht zuletzt, weil auch die Bundesregierung einen einheitlichen Ansprechpartner der islamischen Verbände forderte, wurde gemeinsam mit dem Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ), dem Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD), dem Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland (IR) und der DiTiB 2007 der Koordinierungsrat der Muslime (KRM) gegründet (Koordinierungsrat der Muslime in Deutschland (KRM) 2007). Hauptziel ist es, dass der Islam in Deutschland anerkannt wird, um „eine unabhängige Religionsgemeinschaft zu gründen“ (Koordinierungsrat der Muslime in Deutschland (KRM) 2007, S. 1). Der Passus des § 1 (5), dass der KRM sich dem Koran und der Sunna verpflichtet, schließt jedoch z.B. Gruppen wie die Aleviten oder die Ahmadiyya-Muslime aus (ebd.). Von Einheitlichkeit kann also auch bei diesem Interessensverband nur mit Einschränkungen die Rede sein.

Im Folgenden werden nur jene islamischen Vereine beschrieben, die in der empirischen Untersuchung der vorliegenden Arbeit berücksichtigt wurden. Es handelt sich um die Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa (ATiB), die Föderation der Aleviten-Gemeinden in Europa e.V. (AABF), die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V. (DiTiB) und die Islamische Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG).

  • [1] Als erste Muslime in Deutschland gelten die Kriegsgefangenen des 17. Jahrhunderts, die nach der türkischen Belagerung in Wien von der Streitmacht des Heiligen Römischen Reiches als „Kriegsbeute“ nach Deutschland gebracht wurden (Matschke 2004, S. 365 f.; Thielmann 2008, S. 13)
  • [2] Gemeint sind alle von Ausländern gegründeten Vereine (Hunger 2005, S. 223), doch spezifiziert das Bundesverwaltungsamt sog. „Drittstaaten-Ausländervereine“ (Bundesverwaltungsamt (BVA) 2010b). Es wird nicht weiter definiert, welche Vereine unter diese Gruppe fallen
  • [3] 1970er Jahre = 163 Gründungen, 1980er Jahre = 1.903 und ab 1990er Jahre = 3.548 Gründungen (Hunger 2005, S. 224)
  • [4] Der jüdische Verein ist hier auszunehmen
  • [5] Die Autorin der vorliegenden Arbeit erhebt keinen Anspruch auf Gültigkeit der vorliegenden Daten, sondern versucht vielmehr, die Abweichungen der Zahlen in den unterschiedlichen Quellen darzustellen
  • [6] Daten für 31.12.2013
  • [7] Daten für 31.12.2013
  • [8] Ein Verein, der sich in seinen Angeboten auf die Türkei bezieht, der von türkischen Migranten geleitet wird und der nur türkische Migranten als Vereinsmitglieder hat
  • [9] Die Inhalte des Vereins beziehen sich auf Deutschland und die Türkei und den kulturellen Austausch der Mitglieder. Die Leitungsebene sind sowohl mit Personen mit als auch ohne Migrationshintergrund besetzt
  • [10] Kein Bezug zum Herkunftsland der Mitglieder
  • [11] Die DiTiB selbst legt Wert darauf, dass die Verbindung zum ZMD nicht bekannt ist. Mehr dazu in Lemmen (2000, S. 29)
  • [12] Zu durch die Medien vermittelten Vorurteilen gegenüber Migranten und im Speziellen gegenüber Muslimen siehe z.B. Butterwegge und Hentges (2006); Lünenborg et al. (2011); Tworuschka (2003)
  • [13] Die Autorin der vorliegenden Arbeit möchte sich an dieser Stelle einer Wertung entziehen und im Folgenden ausschließlich die Aussagen des Vereins und verschiedener Autoren wiedergeben
  • [14]Diyanet işleri Türk islam Birligi“ im Deutschen mit „Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion“ übersetzt
  • [15] So ist denkbar, dass dann Imame wie auch Landesbischöfe den Status von Landesbediensteten erhalten und im öffentlichen Dienst eingestellt werden könnten
 
< Zurück   INHALT   Weiter >