Erst ein fahrerloses Auto ist ein sicheres Auto
Seinen ersten filmischen Auftritt hat das fahrerlose Automobil im US-amerikanischen Verkehrserziehungsfilm The Safest Place (1935). Der von General Motors (GM) in Auftrag gegebene und von Jam Handy (1886–1983) produzierte Kurzfilm zeigt ein Auto ohne Fahrer, das mustergültig die Verkehrsordnung einhält. Dieses Fahrzeug bleibt immer in der
Spur, vergisst beim Abbiegen nie zu blinken, beachtet alle Stoppzeichen und überholt nie in gefährlichen Kurven. Ähnlich hatte auch Lynch begründet, weshalb er mit fahrerlosen Fahrzeugen für Sicherheit warb.
The Safest Place inszeniert die Vision des selbstfahrenden Autos nicht als technisch realisierbare Möglichkeit, sondern als moralisches Denkmodell. Es ist allein der Fahrer, der in diesem Film für Unfälle verantwortlich gemacht wird. Er sei für die Sicherheit viel bedeutsamer als die Technik – gerade deshalb soll er sich wie ein Automat verhalten.
Der blinde Fleck des Films ist die Maschine: Sie wird nicht als Risikofaktor begriffen. Es bleibt ausgeblendet, dass Unfälle auch passieren, wenn der Fahrer keine Fehler macht. Dies ist nicht verwunderlich, denn damals war die Autoindustrie noch nicht davon überzeugt, Sicherheitsforschung betreiben zu müssen ([37], S. 161). Visuell bringt der Film dieses Paradox der unfehlbaren Maschine eindrucksvoll auf den Punkt: Die Kamera filmt den Innenraum des Wagens von der Rückbank aus. Wie von Geisterhand dreht sich das Lenkrad, die Vordersitze sind leer.
Bemerkenswert ist diese Einstellung, da sich das selbst lenkende Auto aller Fahrzeuginsassen entledigt zu haben scheint. Ihre Körper sind aus dem Wagen und aus dem Bild genommen worden. Sie sitzen nun außerhalb des Wagens im Kino, vor der Leinwand. Nur ihr Blick erlaubt es den Zuschauern, sich als visuell Reisende wieder in den Wagen hineinzuversetzen. Damit spitzt der Film den Widerspruch zwischen Sicherheit und Freiheit auf ironische Weise zu: Ist das Auto erst sicher, wenn es leer ist?
Die Leitdrahtvision wird zum utopischen Leitbild
Nicht nur literarische und filmische Fantasien kreisen um das fahrerlose Auto. Etwa zur gleichen Zeit – Mitte der 1930er-Jahre – begann die US-amerikanische Öl- und Automobilindustrie gemeinsam mit Stadtplanern, Industriedesignern, Architekten, Verkehrswissenschaftlern und Vertretern der Politik an futuristischen Entwürfen künftiger Highways zu arbeiten ([42], S. 2). Das automatische Fahren löste sich nun von den frühen Fernsteuerungsversuchen und avancierte unter dem Vorzeichen eines automatisierten Verkehrssystems zum utopischen Leitbild. Die Idee der automatisierten Straße wurde auf reale Landschaften projiziert, eine sofortige Umsetzung war aber nicht geplant. Vielmehr sollte ihre Strahlkraft dazu beitragen, das Vertrauen in den Kapitalismus wiederherzustellen. Viele US-Bürger hatten im Zuge der großen Depression den Glauben an den technologischen Fortschritt verloren. Die Elite der Planer war deshalb auf propagandistische Verstärker angewiesen, die den technischen Heilsversprechen ihren Glanz zurückgeben sollten.
Bei dieser Aufgabe spielten populärwissenschaftliche Magazine wie Popular Science und Popular Mechanics eine wichtige Rolle. Sie arbeiteten stark mit Bildern, was sie zu wertvollen Quellen für bildhistorische Analysen macht. Im Mai 1938 berichtete Popular Science erstmals über den automatischen Verkehr der Zukunft [26]. Der Autor stellte die sogenannte Leitdrahtvision vor, die bis in die 1970er-Jahre kulturelles Leitbild bleiben
Abb. 3.3 Eine der ersten Abbildungen einer automatischen Autobahn (Ausschnitt, Zeichnung: B. G. Seielstad; [26], S. 28)
sollte: Alle Fahrzeuge folgten einem in die Fahrbahn versenkten elektromagnetischen Kabel, dessen Impulse Geschwindigkeit und Steuerung regulierten ([26], S. 28). Begründet wurde dieser Entwurf damit, das „Schlachten“ beenden zu müssen, das durch menschliche Fahrfehler und schlechte Straßen verursacht werde ([26], S. 118). Erstaunlicherweise sieht schon diese frühe Leitdrahtvision den Wechsel zwischen automatischer und manueller Steuerung vor ([26], S. 27).
Von besonderem Interesse ist hier die begleitende Zeichnung des Illustrators Benjamin Goodwin Seielstad (1866–1960), da sie eine utopische Bildsprache entwickelt, die über Jahrzehnte immer wieder in Zusammenhang mit dem automatischen Fahren auftauchen wird (s. Abb. 3.3).
Zunächst schauen wir aus der Vogelperspektive auf die Autobahn der Zukunft, die in einer schnurgeraden Fluchtlinie gen Horizont führt. Die weiß leuchtenden Fahrbahnen vereinigen sich am zu überschreitenden Horizont des Panoramas. In dieser Perspektive ist ein emphatischer Fortschrittspfeil hin zum besseren Morgen enthalten. Der strategisch
eingesetzte Fluchtpunkt betont die Aussage dieses Bildes: Indem er sich mit dem Betrachter bewegt und somit unerreichbar ins Nirgendwo flüchtet, besitzt er eine Affinität zum Utopischen.
Des Weiteren unterstreicht der überaus hoch liegende Augenpunkt die Bedeutung des Panoramas. Der Blick auf die Autobahn scheint aus der Perspektive eines Heißluftballons zu stammen. Die visuelle Distanz unterstreicht den Entwurfscharakter dieser Vision, die wir mit Ernst Bloch eine utopische „Wunschlandschaft“ ([5], S. 935) nennen können.
Popular Science erläutert die im Artikel aufgezeigte Vision mit Berufung auf Miller McClintock (1894–1960), Direktor des Büros für Street Traffic Research der Harvard Universität. McClintock war einer der wichtigsten Vordenker der US-Verkehrsplanung [27]. In seiner Dissertationsschrift Street Traffic Control analysierte er bereits 1925 die Ursachen für Staus und Unfälle und entwickelte neue Verkehrsregeln und Straßenbaumaßnahmen [22].
Ein bedeutsamer Anstoß für das automatische Fahren kam von einer großen Mineralölgesellschaft: Im Frühjahr 1937 brachte der Mineralölkonzern Shell McClintock mit dem Stromlinienpionier Norman Bel Geddes zusammen. Für eine Shell-Werbeanzeige sollten sie gemeinsam ein Modell der City of Tomorrow entwerfen ([27], S. 249). Bel Geddes hatte schon 1932 in seinem Buch Horizons über Urbanismus und Autodesign geschrieben [4], aber erst der Shell-Auftrag brachte ihn dazu, die Vision eines automatischen Highways zu entwickeln. Im Mai 1938 gelang es Bel Geddes dann, den GM-Konzern davon zu überzeugen, das Shell-Modell für die New Yorker Weltausstellung von 1939 weiterzuentwickeln.