Warum gibt es globale Ungleichheiten?
Im Folgenden wird den Ursachen nachgegangen, die die Schüler für die globalen Ungleichheiten anführen. Dabei ist eine Vielfalt von Erklärungsansätzen festzustellen, die im Folgenden in dependenztheoretische und entwicklungstheoretische Erklärungsansätze unterschieden und dann weiter aufgefächert werden. Unter dependenztheoretischen Ansätzen fassen wir alle Erklärungsansätze globaler Ungleichheit, die entweder die Geschichte der Ausbeutung des Globalen Südens durch Sklaverei, Kolonialismus und Imperialismus als Ursache berücksichtigen oder gegenwärtige ökonomische Hierarchien, Abhängigkeiten und strukturelle Benachteiligungen auf dem Weltmarkt zwischen dem Globalen Süden und dem Globalen Norden benennen. Unter entwicklungstheoretischen Erklärungsansätzen fassen wir alle Argumente, die diese Dimension nicht beinhalten und stattdessen die Ursache globaler Ungleichheiten in endogenen Entwicklungsdefiziten bzw. – rückständigkeiten sehen. Eine besonders pointierte Version dieses Ansatzes ist die Modernisierungstheorie. Außerdem fassen wir alle Aussagen darunter, die tautologische Erklärungsansätze heranziehen, welche beispielsweise die Armut damit begründen, dass ‚die' da zu wenig Arbeit hätten und anders herum das Fehlen von Arbeit mit der dort herrschenden Armut begründen. Auch entwicklungspolitische Ansätze, die zwar nicht explizit eine Erklärung liefern, aber die Lösung von Problemen in der als uneigennützig gedachten Hilfe des Globalen Nordens sehen, werden als eine Spielart der entwicklungstheoretischen Ansätze kategorisiert. Der Grund für die Zuordnung der tautologischen und entwicklungspolitischen Ansätze zu den entwicklungstheoretischen ist, dass hier ebenfalls Machtdimensionen übersehen werden.
In den Vorstellungen der Schüler von den Ursachen globaler Ungleichheit dominieren ganz überwiegend entwicklungstheoretische Ansätze. Insgesamt enthalten 18 Interviews der Hauptschüler und 18 Interviews der Gymnasiasten entsprechende Erklärungsansätze. Drei Hauptschüler und vier Gymnasiasten können sich die globale Ungleichheit nicht erklären. Drei Hauptschüler benennen dependenztheoretische Ansätze, die allerdings von entwicklungstheoretischen Aspekten relativiert werden. Sechs Interviews der Gymnasiasten enthalten dependenztheoretische Ansätze, wobei davon fünf mit entwicklungstheoretischen kombiniert werden. Im Folgenden werden zunächst die entwicklungstheoretischen und anschließend die dependenztheoretischen Erklärungsansätze in exemplarischer Weise dargestellt.
Bei den entwicklungstheoretischen Erklärungsansätzen sind die Aussagen der Schüler durch Ausdrücke wie „noch nicht so weit“, „rückständig“, „Entwicklung“, „Moderne“, „die da unten“ etc. durchzogen. Dies wird in den folgenden Beispielen deutlich werden. Zunächst werden exemplarisch einige entwicklungstheoretische Erklärungsmuster vorgestellt, in denen ein als defizitär vorgestelltes politisches System der Länder des Globalen Südens im Zentrum der Begründung globaler Ungleichheit steht. Der Darstellung dieser staatsdefizitären Vorstellung wird mit vier Beispielen am meisten Platz eingeräumt, da es den am weitesten verbreiteten Erklärungsansatz entwicklungstheoretischer Provenienz darstellt. Die ersten vier Beispiele stellen also Variationen des staatsdefizitären Ansatzes dar, die jeweils verschiedene Schwerpunkte oder historische Bezüge beinhalten. In den darauf folgenden sechs Beispielen werden weitere Erklärungsansätze globaler Ungleichheit dargestellt, die – in dieser Reihenfolge – einen evolutionistischen, biopolitischen, kulturalistischen, klimatheoretischen, entwicklungspolitischen und tautologischen Ansatz verfolgen. Keiner der genannten Ansätze taucht isoliert auf, was eine scharfe Abtrennung in der Analyse erschwert. Deswegen wird jeweils neben dem Kern des Arguments der Schüler immer auch der argumentative Kontext dargestellt, um keine verfälschende Entkontextualisierung vorzunehmen und die Verschränkung der verschiedenen Erklärungsansätze globaler Ungleichheit sichtbar zu machen.
Der stark vertretene staatsdefizitäre Erklärungsansatz besteht in der Ansicht, dass der Grund der Armut im Globalen Süden an der defizitären Entwicklung des politischen Systems – von zu wenig Staatlichkeit oder zu wenig Demokratie über zu viel Korruption oder Despotie bis zu konkreten Mängeln wie fehlendem Mindestlohn oder fehlender Schulpflicht – liegt. So führt beispielsweise Fabian (Gym06) aus, dass es „in Afrika oft kein Wasser und keinen Strom“ gebe, weil es „Machtherrscher gibt, die das Volk ausbeuten. Zum Beispiel in irgendwelchen Minen.“ Und es liege auch daran, dass sich „die Menschen nicht richtig durchsetzen“ könnten. In Libyen hätten „die Menschen es geschafft“. Die meisten Menschen dort hätten allerdings „keine Möglichkeit“ sich „gegen ihre bewaffneten Herrscher aufzubäumen […]. Außer dass solche Länder wie Deutschland, Amerika, Frankreich, Spanien, dass die die unterstützen.“ (397–416) Die Zuschreibung der helfenden, aktiven Rolle Europas bzw. der westlichen Staaten ist im Bereich der entwicklungstheoretischen Elemente ein immer wiederkehrendes Motiv. Auf die Frage, warum es in Europa keine Despotie gebe, antwortet Fabian, dass es in Europa früher genauso gewesen sei. Aber dann habe es „das Volk“ geschafft, „sich gegen die Machtherrscher aufzubäumen.“ An dieser Stelle führt er den Nationalsozialismus als Beispiel an. Fabian sieht in Hitler einen vergleichbaren Machtherrscher, der sogar noch versucht habe, „seine Macht noch zu erweitern. Das war dann wiederum sein Ruin. Dadurch dass die anderen Länder dann Deutschland besiegt haben. Und das war dann quasi ein Befreiungsschlag denke ich auch.“ Auf die Nachfrage, wieso die Menschen es hier geschafft hätten und in Afrika nicht, antwortet Fabian nach kurzem Überlegen: „(…) Ich denke es liegt auch an der Entwicklung.“ Unter Entwicklung wiederum versteht er, dass die „Menschen hier vermögender“ sind und deswegen in der Lage seien, Erfindungen zu entwickeln, „besser Städte aufzubauen“ und mehr „Bildungsstätten“ zu errichten. (455–472)
Merle (Gym21) führt ebenfalls das Bild des „Alleinherrschers“ und den Nationalsozialismus als historische Erfahrung als Grund für die vermeintliche Überlegenheit des politischen Systems der europäischen Länder an und kommt so zu dem Schluss, dass Menschen in Afrika einen Herrscher bevorzugen würden. Sie hat sich „schon ganz oft gefragt, […] wieso das so ist, dass wir hier so einen hohen Lebensstandard haben und die nicht“. Sie spekuliert und sagt, dass es „vielleicht […] an der Politik“ liege, „die da geführt wird“. (134–137) Es sei ja „zum Beispiel in Afrika […] ganz oft so, dass es so einen Alleinherrscher gibt, der dann halt über das Land da“ regieren würde. Das seien „ja meistens so Leute, die dann halt noch mehr Macht wollen als sie sowieso schon haben.“ Deswegen interessierten sie sich nicht dafür, „wie es ihren Bürgern“ gehe und deswegen gäbe es auch in Afrika „irgendwelche Bürgerkriege“. Dies sei „in Deutschland nicht so […] wegen Hitler halt. Weil das natürlich niemand nochmal möchte. Und deswegen darf hier auf keinen Fall nochmal ein Alleinherrscher sein.“ Dies hätten sich „die anderen Länder um uns herum wahrscheinlich auch so sich als Vorbild genommen“. In Afrika hätten die das zwar auch „mitbekommen“, aber Merle glaubt nicht, „dass die das so wirklich getroffen hat halt“. Deswegen fänden die Menschen in Afrika es gut, wenn „da ein Herrscher“ sei, „den sie sich angucken können und sagen: ‚Hey. Das ist unser Herrscher.'“
Timo (Gym19) führt ebenfalls das politische System als Kriterium der Überlegenheit an, nennt jedoch auch dependenztheoretische Erklärungsansätze. Er findet, dass „viele Länder halt verschieden weit entwickelt“ seien. So seien „beispielsweise Länder wie Japan oder jetzt auch Deutschland – also genau die westlichen Staaten – weiter entwickelt […] als beispielsweise jetzt die afrikanischen, ärmeren Staaten. Und teilweise auch Orte in Asien.“ Auf Nachfrage, was er unter „westlichen Staaten“ verstehe, da Japan ja von hier aus gesehen im Osten liege, antwortet er: „Also ich würde einfach sagen, generell demokratische, gut entwickelte Staaten, die sich halt human für ihre Mitbürger, ähm, Bürger einsetzen und so was einfach.“ (37–54) Er hofft, dass die Revolutionen in den arabischen Staaten dazu führen, dass die Menschen dort so wie „hier […] richtige Rechte“ (70) haben können. Auf Nachfrage, welchen Grund er für die Armut in manchen Ländern sieht, führt er neben anderen Argumenten einige dependenztheoretische Elemente an. So seien die Menschen in Afrika ja „teilweise […] auch eine lange Zeit“ diskriminiert worden. Deswegen würden sie jetzt vielleicht als „günstige Arbeiter angesehen und einfach nur ausgebeutet“. (100–113) Dort würden auch keine Waren produziert, mit denen man „wirklich Gewinne erzielen“ könne, wie beispielsweise Autos. (117–121) Im weiteren Dialog blendet er jedoch die hier genannten Elemente wieder aus und begründet die Armut entweder mit der Armut selbst oder mit Fehlverhalten der Regierung: „Wahrscheinlich teilweise scheitert das an der Regierung, irgendwelche verpflichtenden Schulen einzuführen. Oder generell auch an der Armut der Länder.“ Doch er sieht Hoffnung darin, dass Hilfe von außen etwas verändern könnte. So erhielten die Länder zwar „schon große Hilfe“, aber wenn jetzt dort „wirklich investiert werden würde und sozusagen ein Grundbaustein, eine Basis gelegt werden würde für den Staat, dann könnte sich das auch alles positiv entwickeln“. (139–146)
Bilal (HS15) sieht den Grund für die Armut ebenfalls im defizitären politischen System der Länder des Globalen Südens. Er findet die „Abzocke“ der Arbeiter beispielsweise in der Kakaoproduktion in Afrika ungerecht. Veränderung sei laut Bilal möglich, indem die Produktion so organisiert würde, „wie eine Firma, wie bei VW“. Es sollte „halt da so eine Firma gegründet werden, Kakao Firma, und dann halt sollen die gut bezahlt werden“. Dann würden „die Leute, die hier […] billig“ einkaufen, „ein bisschen mehr bezahlen müssen“. Dafür sei es dann „viel gerechter. Anstatt dass nur eine Person sich die Taschen füllt, danach könnten alle vernünftig leben.“ Das Problem an diesem Plan sei nur, dass „da unten […] ja alles nur Terroristen und Kriminelle“ seien, die „auch gar nicht wollen, dass da unten geholfen wird“. „Wenn Sie da unten der Boss sind und das ganze Land unter ihrer Hand ist, dann würden Sie auch nicht wollen, dass ein Dahergelaufener kommt und Ihnen die Sachen wegnimmt, oder?“ Zuerst führt er aus, dass es „da unten […] kein System“ gäbe: „Da unten muss halt eine Regel geben, dass alle vernünftig bezahlt werden. Ein System muss her. Wenn da kein System ist, kann man da nichts machen.“ Auf Nachfrage revidiert er und stellt fest: „Es gibt ja immer ein System. Aber das System ist, wie der da oben pfeift, da müssen alle hinterherlaufen. Ist ja nicht so wie in Deutschland. DU kannst wählen gehen. Das ist halt traurig. Und dass man die Leute dann so über das Ohr haut.“ (61–97) Er ist empathisch mit den Menschen im Globalen Süden. Gleichzeitig malt er ein Bild der politischen Verhältnisse als Grund für die Armut, das – wie schon in den oben angeführten Beispielen – die politischen Verhältnisse der Länder des Globalen Südens als Gegenpart zur demokratischen, gerechten Ordnung des Globalen Nordens konstruiert. Als Akteur der Veränderung dieses „Systems“ sieht er dann „alle Länder“ gemeinsam und präzisiert dies auf Nachfrage dahingehend, dass die „Machtländer“ die Möglichkeit zur Veränderung hätten: „Nehmen wir mal an, jetzt Russland und USA tun sich zusammen. Das sind ja die zwei größten Machtländer, die was zu sagen haben. […] Auf jeden Fall wenn die sich gemeinsam zusammentun, dann kann auch keine Fliege denen was.“ (97–107) Dieses Bild der gerechten Länder des Globalen Nordens, die dem Globalen Süden Segen und Entwicklung bringen könnten, wenn sie nicht von denen „da unten“ gehindert würden, wird jedoch wieder eingeschränkt. Laut Bilal verändere sich bis jetzt nichts an dieser Situation, weil die „Hintermänner“ der „Terroristen und Kriminellen“ eigentlich in den „Machtländern“ sitzen würden. So würden beispielsweise die USA „vorne so winken und fröhlich und hintenherum mit Terroristen arbeiten“. (210–211)
Finn (HS04) begründet die globale Ungleichheit mit einem evolutionistischen Erklärungsansatz. Zwar rekurriert er auch auf fehlende Staatlichkeit, doch ist der evolutionistische Erklärungsansatz hier zentral. Beim Stichwort Globalisierung assoziiert er sofort „Modernisierung“ und die vermeintliche Unterentwicklung Afrikas: „Weil das eben noch nicht so modernisiert wurde wie eben unser Deutschland“. (7–11) Er wünscht sich aber, dass sich das vermeintlich unterentwickelte Afrika „modernisieren“ könne. Dann müsse auch nicht „immer gespendet werden, […] weil die dann auch sich selbst versorgen können. Wenn die eben aufgebaut werden.“ (20–23) Als Grund für diese Ungleichheit bringt er als einer von zwei Hauptschülern und drei Gymnasiasten die Geschichte der Sklaverei ins Spiel: Die Afrikaner seien „ja früher versklavt“ worden. Den Prozess der Versklavung und kolonialen Ausbeutung stellt er sich folgendermaßen vor: Die Afrikaner seien „veräppelt“ worden. Sie hätten „wertlose Gegenstände bekommen“ und hätten
„dafür ihr ganzes Gold und so was dahin gegeben“. Ohne weiteren Erklärungsbedarf zu sehen, schließt er – scheinbar zur Begründung der von ihm vorgestellten kolonialen Ausbeutung und als Erklärung heutiger Ungleichheit – nahtlos ein evolutionistisches Entwicklungsmodell an: „Und die Entwicklung ist noch nicht so weit da vorangekommen. Beim Menschen jetzt selbst. Dass ihr Gehirn vielleicht das eben nicht so weiß und nicht so viel Ahnung davon hat. Weil sie es eben nicht beigebracht bekommen haben.“ Auf Nachfrage bestätigt er, dass „das Gehirn nicht so fortgeschritten ist wie unseres“. (28–36) Eine Veränderung sieht er nur durch den Aufbau von Schulen dort, damit die „eben alles was wir kennen“ lernen könnten, so dass „das dann im Laufe der Jahre auch automatisch bei denen reinkommt in den Kopf“ (42–45). Dies sei nicht nur in Afrika so. Es gebe „viele Länder“. Indien sei ein Beispiel, auch wenn es dort schon Menschen gäbe, „die modernisiert sind“ (49–51).
Bei Felix (HS05) ist ein biopolitischer Erklärungsansatz zentral, der von staatsdefizitären, biologistischen und modernisierungstheoretischen Aspekten umrahmt wird. Als einzige Möglichkeit der Veränderung sieht er ebenfalls Hilfe an. Insgesamt auf der Welt komme „die Technik […] richtig schnell in Gang mittlerweile“. Allerdings gehe das „in manchen Ländern […] immer noch nicht. Zum Beispiel Afrika, Indien und so, weil das ist glaube ich überbevölkert oder so. Und wegen Krankheiten alles. Und die sind auch noch nicht so weit mit der Technik. Und denen muss man einfach helfen, damit die da mal klarkommen.“ (94–98) Als Ursache dafür sieht er explizit nicht die „Versklavung“ an, sondern dass da „so viele Menschen oder so sind“. Außerdem gäbe es „Krankheiten, HIV und so“, die eine Entwicklung behindern würden: „Dann können die auch nicht soweit was machen, wenn du gleich nach ein paar Jahren wieder stirbst.“ (149–159) Diese biopolitischen Überlegungen werden von weiteren Erklärungsansätzen ergänzt. Mehrfach führt er die globale Ungleichheit auf fehlende entwicklungspolitische Intervention des Globalen Nordens zurück: „Da helfen wir einfach nicht so“ (103). Auf Nachfrage wägt er ab, ob geholfen werden sollte oder nicht. Felix meint, dass „wir“ jetzt „schon in Griechenland und so überall Geld reingesteckt“ hätten und „wir […] jetzt nicht auch noch die ganzen Staaten in Afrika finanzieren“ könnten. Auf der anderen Seite „muss das ja gemacht werden, weil sonst sind die ja irgendwie mit der Evolution noch ganz hinten und wir sind schon ganz vorne.“ Das sei „ja jetzt schon so“. Das mit der Evolution liege daran, dass „die da noch nicht so viel Technik haben und dass die Straßen und alles verschmutzt ist. Und überhaupt kein Straßennetz besteht. Keine Infrastruktur. Also da ist ja noch gar nichts richtig.“ (133–145)
Jannik (Gym01) führt kulturalistische Begründungen für die globale Ungleichheit an. Zunächst entwickelt er mehrere Erklärungsansätze, die er aber gleich wieder verwirft bzw. relativiert. Beispielsweise stellt er klimatheoretische Überlegungen an. So sehe „man […] ja eigentlich auch an den klimatischen Zonen zum Teil schon, welche Länder ziemlich wohlhabend sind und welche nicht“. In Europa gäbe es „gemäßigtes Klima“, während die „ganzen armen Regionen […] in Äquatornähe“ seien. (566–572) Allerdings hält er offensichtlich dieses Argument selbst nicht für ausreichend. Er setzt neu an: Als er in Südafrika war, hat er öfter über Deutschland gedacht „Uns geht es hier ziemlich gut.“ (585) Als Grund für den anderen „Lebensstandard“ sieht er möglicherweise größere Arbeitslosigkeit oder die hohe Zahl der irregulären Beschäftigung, die wiederum dem Staat kein Geld einbringe. (585–595) Auf Nachfrage, womit denn die höhere Arbeitslosigkeit zusammenhänge, kommt er zum kulturalistischen Erklärungsmuster, das er dann für plausibel hält. So hätten die Menschen in Deutschland „einen Stock im Arsch [lacht]. Sagt man so.“ Dieser leicht pejorative Ausdruck wird als Kriterium der Überlegenheit gewendet. In Deutschland würde alles kontrolliert und es sei „alles fest geregelt“. So sei die „Exekutive mit der Polizei […] nicht so korrupt und steht komplett hinterm Staat. Wir haben ja eine Gewaltenteilung.“ Hier gäbe es auch „Arbeitsplatzbeschaffung“. „Wir“ würden hier Arbeitsplätze schaffen, die es „teilweise in anderen Ländern gar nicht gibt“. Dies alles sei „da dann halt komplett anders“ und „nicht ganz so gut geregelt […] wie hier in Deutschland. Oder in Europa generell.“ Dies liege an der „Mentalität in den anderen Ländern“, die „halt komplett […], viel lockerer“ sei. (615–653)
Melina (Gym08) führt insbesondere klimatheoretische Argumente an. Zunächst assoziiert sie mit Globalisierung die „Ausdehnung der westlichen Kultur“ (13–14). Melina spielt mit dem Gedanken, später als Entwicklungshelferin nach Uganda zu gehen. „Afrika“ reize sie sehr. Sie fände es sehr interessant, „dort einfach so zu helfen“. Vor diesem Hintergrund nimmt „Afrika“ bzw. der Wunsch nach Entwicklung für „Afrika“ in dem Gespräch eine zentrale Rolle ein. (362–376) Mit „Afrika“ assoziiert sie „fast nur die ärmeren Sachen“. Dort sei „das ganze System, also ob es das Bildungssystem ist oder halt auch die Regierung, halt gar nicht so weit […] wie jetzt Deutschland oder Amerika.“ (85–91) Es gebe „oft […] noch Monarchen oder einen Diktator ja sogar, […] was sich jetzt ja auch langsam ändert“. Außerdem würde „viel bestochen“. Es sei nicht so, „dass bei uns nicht bestochen wird. Aber es ist halt dort viel auffälliger.“ Es gebe dort andere Gesetze und Verbote, die es „manchmal gar nicht zulassen, so was zu entwickeln halt. Also weiterzukommen.“ (95–101) Als Grund für diesen Zustand der sich nur langsam auflösenden Stagnation führt sie an, dass „Afrika […] ja […] so geografisch und so auch ein ganz anderes Land“ sei. So gebe es „ja auch sehr viel Wüste. Zum Beispiel. Und sehr viel auch unfruchtbares, also nicht unfruchtbar, aber manche Gegenden wo der Boden ja auch sehr arm ist. So Bodenarmut. Und wo man halt gar nicht so viel, ähm, anbauen kann. Und gar nicht so viel herstellen kann.“ Deswegen würde dort das System des „Import und Export […] noch gar nicht richtig funktionieren“. Dogan (HS10) argumentiert entwicklungspolitisch. Der sehr stark verbreitete entwicklungspolitische Erklärungsansatz kann in der Regel auf eine Benennung der Ursachen globaler Ungleichheit verzichten, da die argumentative Lücke der Benennung der Ursachen durch die entwicklungspolitische Lösung gefüllt wird. Besonders bei Gymnasiasten ist der Wunsch ‚denen da unten' helfen zu wollen, weit verbreitet. Es werden dabei weitgehend die Interessen westlicher Staaten übersehen, die als uneigennützige Träger des Fortschritts erscheinen. Diese Vorstellung uneigennütziger Hilfsbereitschaft des Globalen Nordens, die als Lösung für die Probleme des Globalen Südens gesehen wird, zeigt sich auch bei Dogan. Er findet es nicht okay, dass viele Menschen im Globalen Süden unter unmenschlichen Bedingungen leben und arbeiten müssen. Er kritisiert, dass „Ausbeutung“ stattfinde. (74–88) Als Ursache für die globale Ungleichheit führt er zunächst an, dass die Leute hier „nicht so doof“ seien und sich „nicht so verarschen“ lassen würden. Direkt danach relativiert er sein Argument und sagt, sie hätten es vielleicht auch einfach „nötiger“ und ließen sich deswegen auf so schlimme Arbeitsbedingungen ein. (162–167) Als Grund dafür führt er wiederum an, dass „die […] wahrscheinlich keine schulische Bildung“ hätten und „nicht mal richtig lesen und schreiben“ könnten. Es läge „am Land“. Im Gegensatz zu den Ländern im Globalen Süden gebe es „hier […] ja das Gesetz, dass man zur Schule gehen muss.“ Dann würden sich die Menschen dort denken „Ach, warum sollte ich?“ und gingen nicht zur Schule. (172–181) Er stellt insofern ein drastisches Beispiel für entwicklungspolitische Erklärungsansätze dar, als er die Bundeswehr als Akteur nennt. Als Lösung für die globale Ungleichheit führt er den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan an. Deutschland helfe „oft“, „nicht nur Griechenland“. Auch in Afghanistan würden die „einfach helfen“. Deutschland sei ja auch in „so einer Vereinigung“, der „NATO oder so was […], wo die dann auch sich verpflichtet fühlen, sag' ich mal, zu helfen. Damit das auch eine viel bessere Welt ist.“ Auf Nachfrage bestätigt Dogan, dass die Bundeswehr in Afghanistan den „Leuten einfach weiterhelfen“ würde. Sie machten
„das da auch dann mit der schulischen Bildung. Die probieren einfach so gut wie möglich da auch Bildung hinzukriegen.“ (453–463) Und diese fehlende Bildung hatte er ja als Ursache für die Prozesse von Ausbeutung und Armut angeführt.
Eine ganze Reihe von Schülern argumentiert tautologisch. Tautologisch ist ein Erklärungsansatz für globale Ungleichheit auch dann, wenn zwar einzelne Aspekte möglicherweise auf Ursachen der globalen Ungleichheit verweisen könnten, aber als wesentliche Ursachenbestimmung für die Armut im Globalen Süden Folgen bzw. Facetten des Zustands der Armut angeführt werden. Die tautologischen Erklärungsansätze folgen dabei keiner stringenten Logik. Der tautologische Erklärungsansatz wird im Folgenden exemplarisch an Lisa (Gym07) und Kiril (HS07) dargestellt. Lisa präsentiert einen großen Wissensfundus von den vermeintlichen Arbeitsund Lebensbedingungen von Menschen im Globalen Süden. Doch auf die Frage, was der Grund für die Armut bzw. die globale Ungleichheit sei, führt sie an, dass es dort zu „wenige Arbeitsplätze“ gebe. Auf die Nachfrage, warum es denn dort zu wenige Arbeitsplätze geben würde, antwortet sie, dass sie es nicht wisse und spekuliert, dass es vielleicht an „zu wenig Unternehmen“ liege. (241–250) Es könnte hier geschlossen werden, dass sie die globale Ungleichheit in zu wenig unternehmerischen Investitionen begründet sehe. Doch der Gesprächsverlauf legt nahe, dass in ihrer Vorstellungswelt eher die Arbeitslosigkeit die Armut und die Armut die Arbeitslosigkeit begründet. Bemerkenswert an Lisas Begründung der Armut bzw. von zu wenigen Arbeitsplätzen ist auch, dass sie assoziativ eine Defiziterklärung („zu wenig“) bevorzugt. Kiril argumentiert ebenfalls tautologisch. Er denkt, dass die Armut im Globalen Süden daran liege, dass die Menschen dort
„keine Arbeit“ und deswegen „kein Geld“ hätten. Auf Nachfrage, was die Ursache für fehlende Arbeit und fehlendes Geld sei, konstatiert er, dass er es nicht wisse. Im Anschluss stellt er – wie Lisa auch – Spekulationen an und vermutet, dass es daran liege, dass „die […] zu viele“ seien. (715–719) Auf Nachfrage weiß Kiril zu diesen unsicher formulierten Spekulationen keine ergänzenden Hinweise zu geben. Der Gesprächsverlauf legt nahe, dass das spekulativ formulierte Argument der Überbevölkerung nicht als zentraler Erklärungsansatz zu bewerten ist. Vielmehr scheint der Verweis auf fehlende Arbeit und fehlendes Geld als Ursache für Armut im Globalen Süden für seine Vorstellung entscheidend.
Im Folgenden sollen kurz die dependenztheoretischen Erklärungsansätze vorgestellt werden, die – wie oben bereits erwähnt – von drei Hauptschülern und sechs Gymnasiasten angesprochen werden. Drei Gymnasiastinnen und zwei Hauptschüler benennen die Geschichte der Sklaverei im Kontext der Erklärung globaler Ungleichheit. Vier Gymnasiasten erwähnen den Kolonialismus. Ein Hauptschüler und drei Gymnasiasten sprechen gegenwärtige strukturelle Benachteiligungen des Globalen Südens auf dem Weltmarkt als mögliche Ursache von globaler Ungleichheit an. Ein Gymnasiast führt Klimaungerechtigkeit an, indem er darauf hinweist, dass die Konsequenzen des insbesondere durch den Globalen Norden verursachten Klimawandels vor allem von den Menschen im Globalen Süden getragen werden müssen. Klimaungerechtigkeit fällt eigentlich nicht unter dependenztheoretische Erklärungsansätze. Wir haben den Hinweis auf Klimaungerechtigkeit trotzdem in diesen Bereich aufgenommen, weil er in den globalisierungskritischen Debatten in den letzten Jahren an Einfluss gewonnen hat. Mahamadou (Gym04) ist der einzige, der diesen Punkt explizit anführt. Als Grund für Armut in Afrika stellt er zunächst fest, dass es dort „eigentlich […] genug Rohstoffe“ gebe, dass vielleicht „auch die Hitze eine Rolle“ spiele und, dass es in einigen Regionen an Wasser mangele. Manchmal kümmere das die „anderen Kontinente auch gar nicht“. Mahamadou hat davon gehört, dass aus Europa der „ganze Schrott“ nach Afrika geschickt werde. Dass die Politiker im Globalen Norden sich gar nicht dafür interessierten, in welchen schlechten Bedingungen die dort leben“, findet Mahamadou „nicht so fair“. (145–152) Auf die Frage, wie sich das verändern könnte, antwortet er, dass – wenn wir „zum Beispiel auf den Klimawandel“ eingingen, dann müssen wir auch über die „globale Auswirkung“ sprechen: „Dass zum Beispiel wir hier in Deutschland dafür verantwortlich sind, dass das Wetter immer wärmer wird.“ (160–163) Damit macht er explizit deutlich, dass der Globale Norden zwar hauptverantwortlich für den Klimawandel – wie zum Beispiel die von ihm angeführte voranschreitende Desertifikation – ist, die Leidtragenden aber in erster Linie die Menschen im Globalen Süden sind.
Lennart (HS02) argumentiert hingegen auf der ökonomischen Ebene. Er kritisiert zunächst die Arbeitsund Lebensbedingungen im Globalen Süden. Dort würde „unter schlimmsten Bedingungen teils produziert“ und es gebe Kinderarbeit, „die da voll, ja, ausgebeutet“ würden. (51–58) Zur Erklärung führt er zunächst entwicklungstheoretische Erklärungsansätze an und bezieht sich dabei explizit auf Unterrichtsinhalte: „Also in Geschichte hatten wir das mal wegen Indien zum Beispiel, dass es da den Menschen nicht so gut geht. Und dass da halt Zustände sind wie bei uns vor ungefähr hundert oder, ja, hundertfünfzig Jahren so.“ (62–64) Bezüglich der Entwicklung globaler Ungleichheit im Prozess der Globalisierung stellt er fest: „Es hat halt die Kehrseite, dass es den, ich sage mal ärmeren Entwicklungsländern, jetzt gar nicht gut geht. Das beutet die total aus. Und uns geht es halt immer besser. Im Prinzip leben wir nur im Schatten von denen. Also wir leben davon, dass es den anderen Ländern schlecht geht.“ (215–218) Lennart verweist hier darauf, dass der Reichtum im Globalen Norden auf der Armut und der Ausbeutung des Globalen Südens basiere.
Alexanders (Gym05) Argumentationen beinhalten ebenfalls ökonomische Ungleichgewichte als Grund für die Armut. Er setzt diese allerdings ausdrücklich in Bezug zur Geschichte des Kolonialismus. Mit Globalisierung assoziiert er zunächst „Welthandel“. Diesen findet er „nicht so super“, weil er denkt, „dass ärmere Länder darunter ziemlich leiden. Weil die reicheren halt die ganzen Waren importieren können, exportieren können.“ (18–22) Er denkt, dass die „Großmächte – also Russland, USA, China und so – einfach ziemlich viel Handel treiben und die eventuell dabei auch ausnutzen.“ Die würden „von denen was nehmen, aber denen sozusagen nicht wirklich was zurückgeben. Also nicht viel. Und ich denke, das ist eigentlich ziemlich schwierig für die ärmeren Länder.“ (26–30) Auf die Frage, woran es liege, dass es Großmächte und ärmere Länder überhaupt gäbe, antwortet er, dass es „teilweise noch mit früherer Zeit zu tun“ habe. So habe zum Beispiel „Frankreich […] Kolonien in Afrika aufgebaut“. Diese Kolonien seien ökonomisch „sehr schwach halt“. Den Grund für diese ökonomische Schwäche sieht Alexander darin, dass die Kolonien „Frankreich unterworfen waren“ und sie „ihre Sachen abgeben mussten“ und „arbeiten mussten“ und „ihre Sachen wieder abgeben mussten. Und so weiter. Und das halt ein ewiger Kreislauf war. Und ich denke dadurch passiert, dass diese ärmeren Länder überhaupt entstehen. […] Und ich denke daher kommen diese ärmeren Länder. Und die reicheren Länder halt auch.“ (158–167) Auf Nachfrage führt Alexander an, dass „auch Deutschland […] da eine ordentliche Rolle“ gespielt habe. Deutschland habe auch Kolonien in Afrika gehabt und habe ebenfalls „die ärmeren Länder eben so arm gemacht“. (171–177) Eine Veränderung der gegenwärtigen globalen Ungleichheit sieht Alexander als „schwierig“ an, da er nicht glaubt, „dass China oder irgendeine Supermacht – USA kann ich jetzt auch mal sagen – […] überhaupt [etwas daran] verändern wollen. Weil die wollen halt möglichst viel Profit machen.“ (192–194) Außerdem führt er an, dass sich „durch dieses ganze Import/Export-Ding […] Kriege gebildet“ (299–300) hätten.