Der Markt

Fast ausnahmslos zeigen sich in den Aussagen der Schüler Versatzstücke marktwirtschaftlicher Logik – insbesondere in den Gesprächsteilen zur Produktion in Niedriglohnländern. Eine klare Mehrheit der Gymnasiasten und eine knappe Mehrheit der Hauptschüler setzt diese Logik als quasi natürlich oder als alternativlos voraus. In den folgenden vier Argumentationen werden die internationalen Lohnhierarchien, das darauf aufbauende Vorgehen von Unternehmen und die Gesetze von Angebot und Nachfrage als unumstößlich oder natürlich dargestellt. Diese Argumentationen sind in der Regel verbunden mit einer moralischen Reflexion über die sozialen Folgen bzw. Begleiterscheinungen der Marktwirtschaft. Diese Doppelstruktur – die gleichzeitige Verhandlung der unvermittelten Aspekte der Thematisierung des marktwirtschaftlichen Rahmens und die Problematisierung sozialer Missstände – variiert in den folgenden Beispielen nur in Nuancen. Die folgenden vier Beispiele stehen exemplarisch für diese dominierende Denkweise. Jakob (HS14) erklärt, wie es zur Entscheidung kam, die Produktion in Bangladesch anzusiedeln und identifiziert sich insofern mit der Rolle des Unternehmers als er zu dem Schluss kommt, dass er es vielleicht genauso gemacht hätte. „Dass die Firmen sagen: ‚Okay. Wir suchen uns den billigsten Arbeitsplatz raus. Oder da wo wir es am billigsten verwerten lassen können. Und darein investieren wir dann.'“ (194–195) Vorher hatte er schon über die vielen Tote durch ein eingestürztes Hochhaus in Bangladesch und die schlechten Arbeitsbedingungen berichtet. Auf die Frage, wie er das finde, dass die Firmen nur nach dem Prinzip der billigsten Arbeitsplätze entscheiden würden, führt er einerseits an, dass er es „nicht so unbedingt pralle“ findet, weil es „quasi eine Ausbeutung“ sei. Nichtsdestotrotz kommt er zu folgendem Schluss: „Na ja, ich will jetzt nicht abstreiten, dass ich es nicht vielleicht genauso gemacht hätte, wenn es jetzt um so viel Geld gehen würde.“ (200–202)

Auch Melina (Gym08) thematisiert zwar die Lebensund Arbeitsbedingungen in Niedriglohnländern sowie die Kinderarbeit, findet aber, dass die Firmen gar nicht anders können. Es anders zu machen wäre für die Firmen zu kostspielig und zu großer Aufwand, weil es „halt einfach viel einfacher [ist], Kleidung von Kinderarbeit zu kaufen.“ Sie findet auch, dass die Bürger so viel zufriedener seien, weil es „halt auch billiger ist, als wenn man jetzt halt selbst gemachte Kleidung und so verkauft. Dann steigt natürlich auch der Preis. Und deshalb ist es ja auch eigentlich im gegenseitigen Interesse.“ (255–259) Mit „selbst gemacht“ meint sie offensichtlich in Deutschland produziert, wobei sie hier – ebenso wie im Ausdruck „im gegenseitigen Interesse“ – die Arbeiter in Niedriglohnländern nicht in den wechselseitigen Interessensausgleich einbezieht. Andererseits findet sie dieses Vorgehen der Firmen auch „unverantwortlich“ und „egoistisch“. (264–265) Nichtsdestotrotz sieht sie eigentlich keine Handlungsalternativen für die Firmen. So könnten die „zum Teil […] gar nicht anders, weil die ja also auch bestimmt jetzt nicht am Anfang so super viel Geld haben. Und dann ist es, wenn sie das halt in Auftrag geben in Indien und so, ist es einfach viel leichter und viel unkomplizierter.“ An dieser Stelle konkretisiert sie auch das genannte „gegenseitige Interesse“ und expliziert dieses als Zwang der Firmen so zu agieren, um der Konkurrenz und dem Preisdruck standzuhalten: „Und, ähm, die müssen ja auch an die Käufer denken. Weil die Käufer das ja auch kaufen wollen und auch, wenn es halt teuer ist, dass sie es auch gar nicht kaufen. Also müssen die das ja sozusagen machen.“ (269–275)

Luka (Gym02) findet es „normal“, dass die Firmen nach dem Prinzip der günstigsten Produktion agieren. Zunächst argumentiert er aus einer Konsumentenperspektive und leitet die Existenz des transnationalen Warenhandels daraus ab, dass

die Leute […] ja sozusagen mal alles“ ausprobieren wollen, zum Beispiel, „wenn wir Lust haben jetzt asiatisch oder irgendwas“ zu haben. Die Leute sagen: „Wir hätten gerne das und das.“ Daraufhin würden die sich vernetzen, mit dem Ziel,

dass wir, sozusagen, überall halt alles haben, damit wir halt die Möglichkeiten für alles haben“. (19–24) Auf die Frage, wie er das finde, dass jetzt überall produziert und gehandelt wird, führt er an: „Also ich finde das richtig gut. Das ist ja auch produktiv. Also wir haben überall alles. Das finde ich eigentlich perfekt. So sollte es sein.“ (39–40) Gleichzeitig weiß er zu berichten, dass es dort „halt nicht so gute Bedingungen“ gäbe. Beispielsweise VW suche „ja immer den Platz, wo es am günstigsten ist zu produzieren. Und dann schätze ich mal, wenn es da günstig ist, dann gibt es da bestimmt auch andere Arbeitsbedingungen als hier in Deutschland zum Beispiel.“ (49–54) Wenn ein Unternehmen aus Deutschland weggehe, weil es woanders günstiger ist, hält er es für „verständlich“. (59–60) Ebenso findet er es nachvollziehbar, dass die Unternehmen schlechte Arbeitsbedingungen und niedrige Löhne in Kauf nehmen würden. Schließlich wollten „die ja halt auch ihren Profit haben“. Sie würden denken: „‚Wenn die das für wenig Geld machen muss ich nicht so viel ausgeben. Dann habe ich mehr Geld für mich.'“ Luka glaubt, dass dieser Logik ja eigentlich alle folgen würden: „Und so denkt ja, schätze ich jetzt mal, jetzt jeder. Und das ist zwar nicht gut, aber das ist so.“ Es wolle nun mal „jeder […] natürlich das Beste für sich haben.“ So wolle ja auch „jeder gesund sein zum Beispiel“. (164–177) Ebenso wie es „normal“ sei, gesund sein zu wollen, sei es „normal“, dass die Firmen nicht auf diesen Vorteil verzichteten – auch wenn dies auf Kosten der Arbeiter gehe.

Jannik (Gym01) macht die marktwirtschaftliche Logik explizit und findet, der Markt regle das alles. Obwohl er auch die humanitäre Ebene in den Blick nimmt, meint er, dass die aktuelle Situation auch nicht anders sein sollte, da die Marktwirtschaft das richtige System sei. Er führt zunächst aus, dass es Ausbeutung und Kinderarbeit in der „Klamottenindustrie […] fast überall“ gäbe. Es könne also durchaus sein, dass es Kinder waren, „die in meinem Alter sind und das für mich jetzt als Weihnachtsgeschenk herstellen“. Die Arbeitsbedingungen findet er „total schlecht“ bzw. „zum Kotzen“ und er würde niemals „einer Person so etwas antun“. Jannik führt an, dass „die Reichen davon profitieren“ würden, dass „die Armen ausgebeutet“ würden. Aber so seien die „Sachen halt günstig“. Er geht davon aus, dass Menschen „Sales nicht widerstehen“ könnten. Außerdem müssten die entsprechenden Leute „ja auch ihren Profit raushauen“. (344–375) Jannik stellt einige betriebswirtschaftliche Überlegungen zu Rohstoff und Fertigprodukt, Arbeitslohn und Profit an, bevor er dann zu der Aussage kommt, dass es „halt irgendwie so einen geregelten Gang geben [müsste], den man aber nie regeln werden kann.“ Dieser geregelte Gang müsste die Waage halten zwischen dem „Existenzminimum“ und einem „gesunden Profit“. Auf die Frage, warum man das nicht regeln könne, führt er an, dass „man keine einheitliche Regel dafür geben“ könne. „Man kann ja nie sagen: ‚Dieses Produkt muss genau diese Qualität haben und genau diesen Preis.'“ Das hätte „ja dann nichts mehr damit zu tun mit unserem jetzigen Marktsystem. Wir haben ja keine Planwirtschaft.“ Er charakterisiert dieses Marktsystem folgendermaßen: „Wir haben ja praktisch: Das, was sich am besten durchsetzt, ist dann halt auch das, was am besten gekauft wird. Und so wird das dann halt gemacht.“ Als Gedankenspiel führt er an, dass „man denen sagen würde: ‚Ja. Verkauft es jetzt für so und so viel. Die Arbeiter müssen so und so viel verdienen.'“ Hier sieht er die Gefahr, dass sich dann die Preise irgendwann „alle auf ein selbes Level bringen“. Das würde den „Firmen ja nichts mehr bringen so richtig. Drum wäre das für die sehr, sehr schlecht.“ Auch wenn es für die Arbeiter gut wäre, „würde das ja eigentlich nicht funktionieren. Das könnte ja nicht gehen. Einige Firmen würden dann komplett pleitegehen oder alle hätten riesige Probleme, weil sich jetzt alles ausgleicht mit den Käufen her.“ Vor diesem Hintergrund – insbesondere der Notwendigkeit von Konkurrenz – kommt Jannik zu dem Schluss: „Der Markt regelt das eigentlich so, wie es jetzt ist.“ Auf die Frage, wie er das finde, antwortet er, dass es für ihn bestimmt gut sei, weil er die Wahl habe, was er kaufen wolle – „vielleicht qualitativ sehr gut […] und etwas teurer“ oder „qualitativ nicht ganz so gut ist und was vielleicht auch nicht gerade sehr gut hergestellt wurde, durch solche Sweatshops zum Beispiel“. Für die, die daran arbeiten, sei es „nicht so ganz gut“. (392–427) Trotz der moralischen Überlegungen erscheint Jannik der aktuelle Zustand aufgrund der Logik der Marktwirtschaft als alternativlos.

Es gibt weitere Spielarten dieser Denkweise, in der die Beschreibung des marktwirtschaftlichen Rahmens und die Problematisierung sozialer Missstände unvermittelt nebeneinander stehen, die in den Darstellungen dieser vier Beispiele nicht angesprochen wurden. Auffällig ist beispielsweise, dass viele Schüler die Unternehmen personalisieren, also ihr Handeln als Entscheidungen des Chefs darstellen, der sich an den Erfordernissen des Marktes orientiere. Sehr wenige Schüler verweisen explizit auf den Aspekt, dass die meisten transnationalen Unternehmen Aktiengesellschaften und auch den Schwankungen des Finanzmarktes unterworfen sind. Nur ein Hauptschüler spricht dies an: Aykut (HS10) findet, dass es – „mal steigen die Preise, mal sinken die Preise“ – „eine große Sache“ sei. Das habe vielleicht auch „irgendwas mit Aktien zu tun“. (129–141) Eine andere Spielart bringt beispielsweise Bilal (HS15). Er sieht die Firmen im Globalen Süden nicht als Firmen an, sondern nur als „Bosse“. Dementsprechend schlägt er vor, dass die „krasse Abzocke“ geändert werden sollte, indem „da unten“ eine „Firma, wie bei VW“ gegründet werden sollte, die „dann halt […] gut“ bzw., „vernünftig“ bezahlen würde. In seiner Vorstellung sind es nur die Firmen bzw. „Bosse“ im Globalen Süden, die Ausbeutung betreiben würden, während „richtige“ Firmen, wie im Globalen Norden, gerecht entlohnen würden. Auch wenn diese Spielart der marktwirtschaftlichen Denkweise andere Prämissen verwendet, begründet Bilal den erzielten Gewinn mit den niedrigen Löhnen, findet das nachvollziehbar und kritisiert gleichzeitig die Arbeitsbedingungen und niedrigen Löhne. (65–84) Für die unvermittelte Diskrepanz zwischen der Affirmation der marktwirtschaftlichen Logik und der Empathie mit den Arbeiter sind die oben aufgeführten Beispiele – trotz einer angedeuteten gewissen Varianz – repräsentativ.

Die marktwirtschaftliche Denkweise ist bei der großen Mehrheit der Schüler dominant. Dieser Gruppe steht eine kleinere, von Hauptschülern dominierte Gruppe (Gym: 1, HS: 5) gegenüber, die den Markt nicht als vom Staat unterschiedenes Terrain, sondern den Markt als Interaktion von Staaten begreift. Hier erscheinen als Akteure nicht Unternehmen und Arbeiter, sondern eben der Staat bzw. verschiedene Staaten, die sich dann auf dem Markt gegenüberstünden. Beispielsweise denkt Finn (HS04), dass die als Modernisierung verstandene Globalisierung vom Staat ausgeht. So seien es „ja die Wissenschaftler, die das erstmal erfinden“. Dann müsse der Staat das kaufen und so komme es zu „Modernisierung“. (50–57) Den Grund für die niedrigen Löhne in Ländern des Globalen Südens sieht er darin, dass der Staat dort „nicht genug Geld hat, um mehr auszugeben“. Als Lösung schlägt er vor, dass „eben mehrere Fabriken“ gebaut werden, weil es dann mehr Arbeitsplätze gäbe. Dann würden „die auch […] mehr Lohn“ bekommen, weil „das Land […] ja auch Geld […] durch die Produktion der Sachen“ bekäme. (250–267) Als Akteur erscheint für Finn nur der Staat, der auf Wissenschaftler und Arbeiter zugriff habe. Der Markt als Terrain der Vergesellschaftung, das vom Staat unterschieden ist, wird von dieser kleinen Gruppe nicht benannt.

 
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