Aussagekraft möglicher Prognosen auf der Basis von Unfalldaten
Die nachfolgende Metaanalyse zeigt an Beispielen Möglichkeiten und Grenzen von Potenzialaussagen auf Basis verschiedener Unfalldaten. Da bislang keine Erfahrungen zur Analyse hochbzw. vollautomatisierter Fahrzeuge existieren, werden zunächst Fahrzeugsysteme ohne Automatisierung („driver only“/„no automation“) sowie mit geringeren Automatisierungsgraden bezüglich der Hauptfahraufgaben („assistiert“/„teilautomatisiert“) betrachtet, gegliedert nach A-posteriori- und A-priori-Analysen.
Abschnitt 17.4.1 beschreibt Beispiele für A-posteriori-Aussagen zu bislang erfassten Unfalldaten. In der hier genutzten Definition können „aus der Erfahrung gewonnene“ [20] Zahlen direkt für Interpretationen genutzt werden. Im Gegensatz dazu werden die in Ab-schnitt 17.4.2 definierten A-priori-Prognosen auf der Basis von Unfalldatensammlungen für ein mögliches Potenzial zukünftiger Automatisierungsgrade ausschließlich mithilfe von Annahmen „durch logisches Schließen gewonnen“ [20].
A-posteriori-Analysen von Unfalldaten zu „driver only“/
„no automation“
A-posteriori-Analysen von Unfalldaten aus der Vergangenheit und Gegenwart mit konventionell vom Fahrer gesteuerten Fahrzeugen bilden die Grundlage für direkte Erkenntnisse zu Unfallschwerpunkten und Veränderungen im realen Unfallgeschehen. In der Kategorie „driver only“/„no automation“ erfolgen weder Warnungen noch Eingriffe in die Längsoder Querführung auf der Basis von Umgebungssensoren.
Zur Verdeutlichung dienen ein Beispiel zur Veränderung der Unfalltotenzahlen (s. Abschnitt 17.4.1.1) sowie ein weiteres zum Einfluss der Fahrdynamikregelung Electronic Stability Control – ESC (s. Abschnitt 17.4.1.2).
17.4.1.1 Verkehrsstatistik: Unfalltote versus zulassungspflichtige Fahrzeuge
Anhand der bisher gesammelten Unfalldaten des statistischen Bundesamtes lässt sich beispielsweise das Verhältnis der Verkehrsunfalltoten zu den zugelassenen Fahrzeugen darstellen. Es zeichnet sich in Deutschland – seit der dramatischen Anzahl von 21.332 Verkehrsunfalltoten im Jahr 1970 auf 3368 für das Jahr 2014 – eine fallende Tendenz ab [4].
Die Unfalldaten zeigen: Die Anzahl der Verkehrsunfalltoten ließ sich im Jahr 1970 mit über 21.000 auf jährlich annähernd 3000 – bei gleichzeitiger Zunahme zugelassener Fahrzeuge – senken. Die Ursachen dafür liegen im Bereich unterschiedlicher gesetzlicher, technischer, medizinischer und infrastruktureller Maßnahmen (s. Abb. 17.3). Die Überlagerung aller Sicherheitsvorkehrungen erschwert den Nachweis einzelner Potenziale.
Abb. 17.3 Rückgang der Verkehrstoten durch sicherheitserhöhende Maßnahmen trotz Zunahme der Anzahl zugelassener Fahrzeuge in Deutschland
17.4.1.2 Studien zur Wirkung von„driver only“/„no automation“
Das seit 1995 eingeführte ESC-System baut technisch auf dem seit 1978 eingeführten ABS (Antiblockiersystem) auf. Es nutzt dessen Raddrehzahlsensoren mit zusätzlichen Sensoren für die Gierraten-, Lenkradwinkel und Querbeschleunigung. Die Informationen aus diesen Sensoren versuchen das Fahrzeug bei erkanntem Schleudern durch selbstständiges Anbremsen einzelner Räder zu stabilisieren. Durch diese Bremseingriffe kann ESC einen Seitenaufprall in einen weniger verletzungsgefährdenden Frontalaufprall umwandeln. Die Daimler-Unfallforschung ging 2001 davon aus, dass der Anteil von Schleuderunfällen mit verletzten Personen 21 Prozent und bei Unfällen mit tödlichem Ausgang 43 Prozent beträgt [21]. Auf diesen Erkenntnissen aufbauend erfolgten bereits einige Jahre nach der ESCEinführung Einzelfallanalysen von Fahrdynamikunfällen. Die damaligen Ergebnisse aus Einzelfalluntersuchungen von Experten der Unfallforschungen seitens der Fahrzeughersteller klafften sehr weit auseinander. Auch spätere Potenzialaussagen auf der Basis größerer Datenmengen unterschieden sich. So weisen Wirkfelder aus dem Jahr 2000 einen positiven Einfluss bei schwerwiegenden Schleuderunfällen von bis zu 67 Prozent aus [22]. Andere Studien belegen: Das Elektronische Stabilitätsprogramm (ESC/ESP) in der Kategorie „driver only“ ist nach der Einführung des Sicherheitsgurtes die zweitwirksamste Sicherheitserhöhung für Fahrzeuge [2]. So verringerte sich der Anteil der Fahrunfälle bzw. Schleuderunfälle seit der serienmäßigen Einführung der Fahrdynamikregelung beispielsweise in allen Mercedes-Benz-Pkw im Zeitraum 2002/2003 von 20,7 Prozent auf 12 Prozent [22]. Die hohe Effektivität von ESC ließ sich auch bei anderen Marken, wie beispielsweise Volkswagen, über die Unfallstatistik durch eine geringere Unfallhäufigkeit und die Vermeidung besonders kritischer Unfalltypen nachweisen [23].
Fazit: Bei sicherheitserhöhenden „driver only“-Funktionen mit rascher Marktdurchdringung, wie es insbesondere bei ESC der Fall war, lässt sich bereits heute abhängig von unterschiedlichen Datenquellen und Annahmen ein Sicherheitsgewinn belegen. Insbesondere bei Fahrdynamikregelungen sind Sicherheitsauswirkungen wissenschaftlich fundiert belegbar.