Sicherheitspotenzial versus Risiken zunehmender Automatisierung
Menschliche und technische Fehler bei Vollautomatisierung
Ausgehend davon, dass die meisten Unfälle durch menschliche Fehler verursacht werden, wäre mit fehlerfreien vollautomatisierten Fahrzeugen die Realisierung der „Vision Zero“ annähernd möglich. Allerdings ist auch bei vollautomatischem Fahren mit technischen Fehlern selbstfahrender Fahrzeuge zu rechnen.
Die linke Seite der Abb. 17.5 zeigt die statistische Unfallursachenverteilung auf Basis der GIDAS-Unfalldatenbank. Auf der Grundlage von Unfalldaten ist das menschliche Fehlverhalten mit einem Anteil von 93,5 Prozent das Hauptrisiko für Verkehrsunfälle.
Abb.17.5 Heute resultieren Unfälle zu 93,5 Prozent aufgrund menschlicher Fehler. Bei Vollautomatisierung gäbe es keine menschlichen Fehler mehr. Allerdings könnte der Anteil technischer Fehler zukünftig deutlich vergrößert wahrgenommen werden.
Dagegen fallen Einflüsse durch die Fahrumgebung – beispielsweise Fahrbahnbeschaffenheit oder Witterung – mit 4,6 Prozent sowie Mängel am Fahrzeug mit 0,7 Prozent laut Statistik relativ gering aus [37].
Bei Vollautomatisierung entfallen die durch menschliche Fahrfehler verursachten Unfälle. Die Kategorie „technische Fehler“ wird durch neue Risiken des vollautomatischen Fahrens anteilig vergrößert und in der Wahrnehmung der Gesellschaft erhöhte Aufmerksamkeit finden (s. Abb. 17.5).
Sicherheitspotenzial – Leistungsfähigkeit von Mensch und Maschine
Die Verkehrssicherheit von Fahrzeugen hängt heute im Wesentlichen von der Leistungsfähigkeit des Menschen mit Unterstützung sicherheitserhöhender Systeme ab. Vollautomatisierte Fahrzeuge werden nur von der maschinellen Leistungsfähigkeit abhängig sein. Je nach Automatisierungsgrad ersetzen technische Systeme Wahrnehmungen, Erfahrungen sowie das Urteils- und Reaktionsvermögen des Menschen. Aus den unterschiedlichen Stärken und Schwächen von Mensch und Maschine ergeben sich das Sicherheitspotenzial und die Risiken einer zunehmenden Automatisierung bei der Fahrzeugführung.
So können Maschinen beispielsweise nicht auf unbekannte Situationen reagieren oder Bewegungen von Kindern interpretieren (s. Kap. 20). Der Mensch hingegen kann unaufmerksam sein, schlecht Abstände oder Geschwindigkeiten einschätzen und nur in einem begrenzten Sichtfeld wahrnehmen [29].
17.5.2.1 Maschinelle versus menschliche Wahrnehmung im Verkehrsgeschehen
Zur Veranschaulichung der eingeschränkten Leistungsfähigkeit technischer Wahrnehmung im Vergleich zur menschlichen wird im Folgenden ein stark vereinfachtes und unvollständiges Modell derzeit am Markt genutzter Sensortechnologien verwendet. Damit ein Fahr-zeug Informationen über die Umgebung erhält, sind Sensoren notwendig, die nach ihrem physikalischen Messprinzip klassifiziert werden können. Im Automobilbereich kommen heute vor allem Radar, Lidar, Nahbzw. Ferninfrarot-, Ultraschallsensoren und Kameras zur Anwendung. In Abb. 17.6 wird im oberen und mittleren Bild die eingeschränkte maschinelle Wahrnehmung einzelner Messprinzipien vereinfacht farblich dargestellt. Demgegenüber steht die eingeblendete menschliche Wahrnehmung zusammen mit allen vorgenannten Messergebnissen im unteren Bild bei erschwerten Licht- und Wetterbedingungen (Sonne, Gegenlicht, nasse Fahrbahn, Spritzwasser, Vereisung, Fahrbahnmarkierungen nur teilweise sichtbar). Bei genauer Betrachtung sieht man, dass es sich beim Radarmesspunkt links unten (blau) um eine fehlerhafte Detektion handelt, die von einer Reflexion auf der Gegenfahrbahn stammt (vgl. [38, 39]).
Zudem verdeutlicht Abb. 17.6, dass das Ergebnis maschineller Wahrnehmung und Interpretation komplexer Verkehrssituationen die Entwicklungsingenieure bislang vor erhebliche technische Herausforderungen stellt. Dies betrifft die Detektion von statischen und dynamischen Objekten, ihre möglichst genaue physikalische Vermessung und die Zuordnung der korrekten semantischen Bedeutung der detektierten Objekte (s. Kap. 20).
Abb. 17.6 Maschinelle versus menschliche Wahrnehmung (oberes Bild: Radar in Blau mit Lidar in Gelb, mittleres Bild: Ergänzung mit Kamera-Bildverarbeitung in Grün und Rot, unteres Bild: Überlagerung maschineller mit menschlicher Wahrnehmung)
17.5.2.2 Menschliche versus maschinelle Leistungsfähigkeit
Für differenzierte Potenzialabschätzungen ist ein Vergleich der Leistungsfähigkeit von Mensch und Maschine erforderlich.
Eine Analyse der Wahrnehmungsprozesskette gibt vertiefende Erkenntnisse über menschliche Fehler im Verkehrsgeschehen. Hierzu wird die Bewertung psychologischer Daten aus Verkehrsunfällen herangezogen [40]. Dabei hat sich im Rahmen der interdisziplinären Unfallanalyse eine Fehlerklassifikation mit fünf Kategorien bewährt. Diese FünfSchritt-Methode ist eine praxisbewährte Weiterentwicklung des gemeinsam mit GIDAS entwickelten Unfallursachenschemas ACASS (Accident Causation Analysis with Seven Steps) analog dem Sieben-Schritt-Prinzip nach Jens Rasmussen [41]. Mit dieser Methode ist es möglich, menschliche Fehler zu identifizieren, den Zeitpunkt im Verlauf des Wahrnehmungsprozesses vom Informationszugang bis zur Handlung zu bestimmen und die jeweilige Fehlerart zu bewerten (s. Abb. 17.7). Die zugehörigen Fragen betreffen den Informationszugang (Waren relevante Informationen der Verkehrssituation für den Fahrer zugänglich? War das Sichtfeld frei?), die Informationsaufnahme (Hat der Fahrer die Verkehrssituation genau beobachtet und relevante Informationen erkannt?), die Informationsverarbeitung (Hat der Fahrer die Verkehrssituation aufgrund der verfügbaren Informationen korrekt interpretiert?), die Zielsetzung (Hat der Fahrer eine situativ angemessene Entscheidung getroffen?) und die Handlung (Hat der Fahrer die Entscheidung korrekt umgesetzt?). Im Ergebnis zeigt die Unfallanalyse nach dieser Einstufung beim Menschen vorwiegend Fehlerquellen im Informationszugang und bei der Informationsaufnahme (s. Abb. 17.7, [25]). Für die maschinelle Wahrnehmung nennt Klaus Dietmayer (s. Kap. 20) drei wesentliche Unsicherheitsdomänen, die der menschlichen Informationsaufnahme und Informationsverarbeitung entsprechen. Es handelt sich um die Zustandsunsicherheit, die Existenzunsicherheit und die Klassenunsicherheit. Alle drei haben direkten Einfluss auf die maschinelle Leistungsfähigkeit. Steigen die Unsicherheiten in diesen Bereichen über ein noch zu definierendes
Abb. 17.7 Verteilung menschlicher Fehler im Straßenverkehr (vgl. [25])
tolerables Maß an, ist mit Fehlern innerhalb der Führung des automatisierten Fahrzeugs zu rechnen. Zur Voraussagefähigkeit sind bislang lediglich Trendaussagen möglich.
Die heute bekannten Methoden zur Schätzung von Zustands- und Existenzunsicherheiten erlauben zwar eine aktuelle Einschätzung der Leistungsfähigkeit der maschinellen Wahrnehmung, eine Degeneration der Leistungsfähigkeit einzelner Sensoren oder gar ein Ausfall von Komponenten kann aber prinzipbedingt nicht vorhergesagt werden (s. Kap. 20, S. 432).
Sicherheitspotenzial vollautomatisierter Fahrzeuge bei unabwendbaren Ereignissen
Zusätzlich sind für Betrachtungen des Sicherheitspotenzials vollautomatisierter Fahrzeuge die fortbestehenden Risiken im Bereich komplexer Verkehrssituationen bzw. heute bekannter unabwendbarer Ereignisse zu berücksichtigen. So treten Unfallgefahren an unübersichtlichen Knotenpunkten oder hinter Sichtverdeckungen auf. Bei einer Einzelfalluntersuchung im Rahmen einer Dissertation an der Universität Regensburg wurden Sichtverdeckungen bei einem Anteil von ca. 19 Prozent aller Fälle als Mitursache identifiziert [40]. Beispiele hierfür sind Bäume, Sträucher, Hecken oder hohes Gras. Von einer Verdeckung spricht man auch, wenn beispielsweise ein Kind im Stadtverkehr plötzlich und unerwartet zwischen parkenden Fahrzeugen oder aus einer Hofeinfahrt vor das Fahrzeug läuft.
Bei der vollautomatisierten Fahrzeugführung ist in derartigen Verkehrssituationen eine Prädiktion des aktuellen Bewegungsverhaltens von Objekten in die Zukunft erforderlich. Hier stößt auch die Technik bislang an ihre Grenzen.
Aufgrund der Vielzahl der möglichen und nicht voraussehbaren Ereignisse, insbesondere reaktiver Aktionen anderer Verkehrsteilnehmer, steigen die Unsicherheiten der Situationsprädiktion nach etwa 2 s–3 s so stark an, dass hierauf keine verlässliche Trajektorienplanung mehr möglich ist. (s. Kap. 20, S. 434)