Die Logik des ‚zu viele'
Insgesamt befürwortet die Mehrheit der Schüler Einwanderung aus „ärmeren Ländern“ aber keineswegs uneingeschränkt – auch nicht unbedingt aus der genannten Gruppe derjenigen, die sich in die Rolle einer geflüchteten Person hineinversetzen. Stattdessen stehen oft die Empathie mit Geflüchteten und die Befürwortung der Abschottungspolitik unvermittelt nebeneinander. Die Vorstellung, dass es zu viele Migranten in Deutschland gebe oder in der Zukunft geben könne, wird von vier Hauptschülern und zehn Gymnasiasten explizit angeführt. Im Folgenden werden anhand von sechs Beispielen verschiedene Aspekte dieser These porträtiert.
Oktay (HS19) findet zwar die Gründe für die Flucht nachvollziehbar, versteht aber auch die Angst, dass angeblich zu viele nach Deutschland kämen. Er führt als Beispiele Menschen aus Ägypten oder Nigeria an, die „nicht so viel Geld“ haben oder aus einer „Kriegsregion“ flüchten. Diese kämen „irgendwie so schwarz halt über die Grenze irgendwo“ und lebten dann illegal in Deutschland. (404–406) Oktay stellt sich dieses Leben sehr hart vor, „vielleicht auf der Straße“, und findet das „auf keinen Fall okay“. (425–431) Gleichzeitig versteht er aber die „Angst […], dass irgendwie zu viele Leute nach Deutschland“ kämen. „Ja, also ich glaube schon, dass die Angst so ein bisschen berechtigt ist. Weil wenn jetzt irgendwie rumgeht: ‚Deutschland nimmt jeden an, der irgendwie nach Deutschland kommt.' Dann kommen ja auf einmal Millionen von Menschen nach Deutschland und wollen hier Asyl haben.“ (453–460) Deswegen kommt er zu der Aussage, dass man in bestimmten Fällen Leute „wieder abschieben könnte“ (386–387).
Michael (HS18) stellt die Logik des ‚zu viele' in den Kontext einer generellen Diskussion des Sozialstaates in Deutschland. Er sieht als mögliche Gründe, warum die Menschen hier herkommen, Krieg oder „Streitereien mit der Politik und Menschen“. (263–265) „Dann kommen die immer hier rüber, aber können ja wieder zurück. Aber manchmal sagen die: ‚Gefällt mir hier so.'“ Einerseits argumentiert er, dass es für die Deutschen – als deren Sprecher er sich scheinbar sieht, indem er beispielsweise das betonte „WIR“ benutzt – schwieriger wird, eine Arbeit zu finden. (273–274) Andererseits argumentiert er, dass er nichts dagegen habe, dass Flüchtlinge hierblieben, „wenn die eine Arbeit haben“ (265). Er macht die Unabhängigkeit vom deutschen Sozialsystem zur Bedingung für das Recht zu bleiben. Kurz darauf führt er das Beispiel von Migranten an, die seiner Meinung nach das deutsche Sozialsystem ausnutzen. Dabei räumt er selber die Möglichkeit ein, dass es sich um ein Vorurteil handeln könnte: „Aber manchmal sehe ich so, ähm, das ist ja jetzt vielleicht auch ein Vorurteil, weiß ich nicht, sehe ich da einen dicken, fetten BMW in der Garage stehen. Und so ein älterer Herr, oder jüngerer, schon ganz jung, so 18 Jahre, der vielleicht nur auf Partys geht. Und dann, der hat so einen fetten BMW da hängen. Weiß man ja nicht.“ (265–269) Auf die Frage, was er dazu denke, antwortet er: „Manchmal denke ich, WIR müssen suchen für die Arbeit. Und die kriegen; wenn die fünf Kinder haben, das sind ja schon mal fünfhundert Euro Kindergeld ja, ne?“ (273–274) Als migrationspolitisches Vorbild dient ihm die Schweiz, die aufgrund ihrer anderen Geschichte nicht gezwungen sei, vermeintlich jeden aufzunehmen: „In Deutschland ist es ja so, ähm, so habe ich das auch mal von N24 gehört, dass; nach dem Zweiten Weltkrieg; wir haben ja Juden und alles getötet und Deutschland wäre ja dran schuld – waren wir auch, geb' ich ja auch zu. Aber wenn wir jetzt sagen, ähm: ‚Nee. Du darfst nicht hier rein.' Dann wird ja von anderen Ländern gleich wieder gesagt, wir wären feindlich. Judenfeindlich oder rassistisch, ne? Ähm, und wenn wir das nicht tun, also wenn wir sagen: ‚Ja. Komm' rein. Komm' rein. Komm' rein.' Dann wird ja gesagt: ‚Ja. Sozialer Staat. Sozialer Staat.' Aber trotzdem kostet uns das was, dass wir die hier behalten, ne?“ (218–224) Michael sieht als Ursache für die vermeintlich viel zu offene Migrationspolitik die besondere Rolle Deutschlands durch die Geschichte des Nationalsozialismus an. Er geht davon aus, dass es eine Herrschaft der political correctness verhindere, sich offen im Interesse Deutschlands zu äußern und angemessene migrationspolitische Maßnahmen durchzuführen. Insgesamt sprechen drei Hauptschüler und ein Gymnasiast den Bezug von Sozialleistungen durch Migranten als Problem an.
Felix (HS05) sieht ebenfalls die vermeintliche Ausnutzung des deutschen Sozialstaats durch Migranten als Problem an und glaubt, die Kriminalitätsrate würde im Zuge der Einwanderung steigen. Er findet es ungerecht, dass „ganz viele Leute“ kämen, weil es „bei uns ja Hartz IV gibt“. „Und dann denken die: ‚Ja. Wir brauchen ja gar nicht arbeiten. Können wir hingehen und Hartz IV einfach nur beantragen.' Die haben ja auch mehrere Wege, das habe ich ja auch schon gesehen. Zum Beispiel irgendwie, dass die eine Gewerkschaft anmelden, irgendwas. Und dann kriegen die noch mehr Geld dazu. Ich weiß es nicht.“ (494–502) Prinzipiell meint er, es sei gut, dass es durch die EU keine Ländergrenzen mehr gäbe. (378–382) Als Nachteil sieht er dabei allerdings folgendes: „Es können immer mehr rein, einfach so. Und umso mehr Kriminalität kommt auch.“ (386–387) Insgesamt führen zwei Hauptschüler an, dass Migration eine steigende Kriminalitätsrate hervorbringe.
In diesen drei Beispielen der Logik des ‚zu viele' werden die jeweils damit verbundenen vermeintlichen Probleme des Arbeitsplatzmangels, der Ausnutzung des deutschen Sozialsystems, der Steigerung von Kriminalität oder der nicht weiter begründeten Angst vor ‚zu viel' Migranten immer auch von einem Wissen über die Probleme der Geflüchteten begleitet. Für die dargestellte Gruppe ist charakteristisch, dass sie davon ausgeht, dass die Grenzen bereits zu offen seien, wofür implizit oder explizit die herrschende Migrationspolitik kritisiert wird. Hier war insgesamt ein Übergewicht der Hauptschüler zu verzeichnen.
Die andere Hälfte derjenigen, die im Sinne der Logik des ‚zu viele' argumentieren, nimmt eine andere Position ein. In dieser von Gymnasiasten dominierten Gruppe wird nicht davon ausgegangen, dass die Grenzen zu offen seien. Vielmehr ist bekannt, dass eine migrationspolitische Regulation stattfindet. Diese migrationspolitische Regulation wird als gerechtfertigt beurteilt. Die Schüler dieser Gruppe sehen sich also nicht in Opposition zur gegenwärtigen Migrationspolitik. Stattdessen identifizieren sie sich mit den Repräsentanten des deutschen Staates oder der EU und versuchen, sich in deren Lage zu versetzen. Auffällig ist hier wiederum die ambivalente Argumentation, in der humanitär motivierte Empathie mit Geflüchteten unvermittelt neben einer Befürwortung des Migrationsregimes der EU angeführt wird.
Merle (Gym21) kann zwar die Perspektive der Geflüchteten nachvollziehen, hält aber auch den migrationsregulierenden Staat für notwendig. So könne es ja nicht sein, „dass halb Afrika nach Europa kommt und man keine Ahnung hat, wer sich hier aufhält und wer nicht.“ Auf die Frage, ob sie glaube, dass halb Afrika hierherkommen wolle, antwortet sie, „ich glaube schon, dass viele halt – also generell halt aus den armen Ländern“ – hierherkommen wollen. In diesem Kontext diskutiert sie die Hoffnungen der Menschen auf ein besseres Leben gegen die Interessen des Staates: „Ähm, also das kann ich denen jetzt natürlich auch nicht verübeln, wenn man es sieht, wie es hier den Leuten geht. Dass viele gern hierher kommen würden und hier anfangen würden zu arbeiten. Und es kommen ja auch schon viele her mit den Booten irgendwie aus Afrika. Dass die da irgendwie so mit diesen kleinen Booten hierher fahren, um dann doch halt wieder abgeschoben zu werden. Weil es halt [kurze Pause] Wir haben ja keine Arbeitsplätze für diese ganzen Menschen. Und, ähm, ich kann das schon verstehen, dass die hierher kommen wollen.“ Und weiter: „Aber ich kann es halt auch vom Staat verstehen, dass er sagt: ‚Wir haben keine Wohnung, keine Unterkunft für die. Und wir können das nicht für die alle bezahlen. Wenn die nicht arbeiten, dann müssen wir die noch bezahlen dafür, dass die hier in unserem Land sind.' Ähm, das kann ich schon verstehen. Ähm, ich kann natürlich aber auch die Leute verstehen, die hierher kommen, weil sie denken, dass es jetzt endlich besser wird. Und dann halt so eine Enttäuschung.“ Als Lösung aus diesem von ihr diskutierten Dilemma sieht sie „höchstens in deren Ländern was zu verändern“. (275–309)
Auch Vanessa (Gym10) wägt die migrationspolitischen Interessen der EU gegen die Hoffnungen von Geflüchteten ab. Zusätzlich hält sie jedoch fest, dass ja politisch Verfolgte hier bleiben könnten. Zunächst stellt sie die dramatische Situation von den Leuten dar, die wegen „der politischen Situation in ihrem Land“ flüchten: „Und für die ist es richtig schwer, die quetschen sich irgendwie mit zweihundert Leuten auf ein Boot, wo eigentlich nur fünfzig Leute draufpassen. Und, ähm, viele sterben auch. Die meisten haben richtig Angst, weil es das erste Mal ist wo sie reisen. Und, ähm, die brauchen halt richtig lange um überhaupt von Afrika nach Spanien zu fahren.“ (278–285) Auf die Frage, warum es denn so schwer ist hierher zu kommen, antwortet Vanessa: „Ähm, weil die erstens kein Geld haben und zweitens, ähm [kurze Pause] Also eigentlich ja, weil zum Beispiel die spanische Regierung oder die deutsche Regierung, die wollen ja nicht dass einfach zu viele Ausländer hierher kommen, wenn sie keinen Grund haben der jetzt so im Gesetz vorgegeben ist oder so. Zum Beispiel, wenn du in deinem Land politisch verfolgt wirst, dann darfst du ja hier bleiben.“ Diesen Zustand findet sie „zwar traurig, aber […] verständlich“, weil „wenn ALLE hierher kommen würden, dann wäre es ja irgendwann total voll, sag' ich mal.“ (295–309)
Luka (Gym02) glaubt, dass einige Geflüchtete bleiben sollten und andere nicht. Er diskutiert direkt das migrationspolitische Instrumentarium der Abschiebung. Nachdem er erzählt hatte, dass er in zwei Tagen nach Argentinien zum Schüleraustausch fliege, wurde er gefragt, ob sich die Rolle von Grenzen verändert habe. Luka antwortet damit, dass die „Arbeiter zum Beispiel jetzt aus Afrika natürlich weg“ wollten, weil es dort schlechte Arbeitsbedingungen gebe. Die erhöhte Migration in die EU sieht er als legitimen Grund zur Ausweitung von Kontrollen an, die er zusätzlich mit Menschenhandel begründet. „Das hört man auch von Spanien, dass ganz viele Einwanderer kommen. Ähm, und deswegen könnte ich mir auch vorstellen, dass es deswegen auch noch mal stärker kontrolliert wird in Bezug auf die Menschen halt, sag' ich jetzt mal. Weil so Menschenhandel gibt es ja leider auch.“ Er habe viele Geschichten gehört, „wie die das machen. Wie die mit diesen Booten hier her segeln. Segeln, quatsch! Hier her fahren. Und dass die dann da halt ziemlich lange auf See sind. Und dass die, wenn die da in den Booten halt auf Toilette müssen, dann müssen die da ja in den Booten. Und das ist ziemlich schlimm.“ Dieser empathischen Darstellung fügt er nicht an, dass sich etwas an dem Reiseweg von Geflüchteten ändern sollte. Stattdessen schlägt er vor, dass man mit denjenigen, die es geschafft hätten, gnädig sein solle: „Also ich würde sagen, dass man natürlich drauf achten sollte. Aber man sollte das nicht so ganz eng sehen. Wenn die es halt hier her geschafft haben, dann ist es halt gut. Dann sollte man die nicht halt wieder abschieben. Aber das wird ja auch leider gemacht.“ Obwohl er das schade findet, kann er die Gründe für die Abschiebung nachvollziehen. „Ja, also das ist natürlich bestimmt, damit das Land nicht überbevölkert wird. Zum Beispiel wenn jetzt alle von Afrika nach Spanien fahren würden, dann wäre ja Spanien total überbevölkert und das würde auch wieder Probleme geben. Aber wenn jetzt zum Beispiel [kurze Pause] Es ist jetzt ja erlaubt, ich glaube die Kinder unter 18– ich bin mir aber nicht sicher – dürfen in dem Land bleiben. Nur die Eltern werden wieder abgeschoben. Finde ich eigentlich [kurze Pause] Das ist natürlich schlecht. Aber eigentlich ist es auch wieder gut, weil [kurze Pause] Die Eltern müssen weg. Das ist halt für die Kinder nicht sehr positiv. Aber wenn man halt das Land Spanien sieht und wenn die Eltern dann auch noch bleiben würden, dann wäre das natürlich – wie ich schon gesagt habe – überfüllt, sag' ich jetzt mal. Und wenn die Kinder zumindest bleiben dürfen, dann ist das sozusagen ein kleiner Erfolg. Also das finde ich schon gut. Also das kann auch von mir aus so bleiben. Nur das sollte dann für die Kinder nicht GANZ so schwer sein hier her zu kommen. Zum Beispiel in diesen Booten. Das sollte schon ein bisschen einfacher werden.“ (415–454) Wie viele andere Schüler nimmt Luka dabei insgesamt eine Sprechposition ein, die es ihm als gerechtfertigt erscheint lässt, darüber zu urteilen, was mit ‚denen' passieren soll. Eine Benennung des Widerspruchs der eigenen Privilegien – insbesondere vor dem Hintergrund seines anstehenden Austausches nach Argentinien – und der Art, wie er über die (Un-)Rechtmäßigkeit der Bewegungsfreiheit anderer urteilt, findet nicht statt.